Südostschweiz. Die Schweiz-Korrespondentin der «Süddeutschen Zeitung» hat diese Woche im «Tages-Anzeiger» dargelegt, dass die Schweiz aus Ermangelung echter Probleme dauernd selber Probleme erfindet. Der Schweizer kann nicht glauben, dass sein Land perfekt funktioniert, also sucht er verbissen nach Dingen, die nicht klappen. Beschrieben wird der Fall eines Angehörigen der Militärmusik, der beim Spielen einen Einsatz verpasste und dafür wegen Nichtbefolgens der Dienstvorschriften mit 150 Franken gebüsst wurde. Oder der bekanntere Fall der in der Schweiz geborenen 25-jährigen Türkin, die in Buchs nicht eingebürgert wurde, weil sie unter anderem nicht wusste, wo man in der Gemeinde das Altöl entsorgt. Die Liste der deutschen Journalistin lässt sich ergänzen durch eine weitere Ungeheuerlichkeit, welche diese Woche in Arosa passierte: Die Hauswartin eines Aparthotels hatte mittels Aushangs die jüdischen Gäste aufgefordert, vor und nach dem Baden im Pool zu duschen. Die Spezifikation dieses auf der ganzen Welt üblichen Aufrufs auf Juden führte nicht nur zur grössten Sommerlochgeschichte der hiesigen Medien – flankiert natürlich vom üblichen Shitstorm auf social media –, sondern zu diplomatischen Demarchen der Israelis bis zu Aussenminister Burkhalter. Die stellvertretende Aussenministerin Israels sagte wörtlich, das sei «ein antisemitischer Akt der schlimmsten Sorte».
Das Hochkochen von Problemen, wo keine sind, hat System. Die Hotelverantwortliche in Arosa hat schnell gemerkt, dass sie einen Fehler machte, der Aushang wurde sofort entfernt, inklusive Entschuldigung an die jüdischen Gäste, die im Übrigen des Lobes voll sind über dieses Haus und mit der Hauswartin sehr gut auskommen. Die bedauernswerte Dame aus Arosa wird nun aber von einer Vizeaussenministerin sozusagen in die Ahnengalerie der Nazis versetzt. Statt dass sich die (sozialen) Medien und das schweizerische Aussendepartement über diese historische Hirnverbranntheit echauffieren, wird die Plakataushängerei weiterhin thematisch und diplomatisch bewirtschaftet und Burkhalter fliegt womöglich zur Klimaberuhigung noch nach Jerusalem.
Es gibt die alte Geschichte vom Schäfer, der zu seiner Belustigung immer mal wieder «der Wolf kommt!» rief und sich ergötzte, wenn ihm die Bauern zu Hilfe eilen wollten. Als dann tatsächlich einmal der Wolf kam, ignorierten die Bauern seine Hilferufe. Wenn nun ein unbeholfenes Badeplakat in den Augen der jüdischen Vertreter ein Akt schlimmsten Antisemitismus ist, was sind denn die Ausschreitungen Rechtsextremer in Charlottesville? Der Aufmarsch von Neonazis und Ku Klux Klan? Eine Tote junge Frau und 19 Verletzte? Ein amerikanischer Präsident mit jüdischem Schwiegersohn, der die Sache nicht richtig ernst nehmen kann und mit hanebüchenen Formulierungen herumeiert, ja, die rechtsextreme Gewalt relativiert? Nach dem Superlativ ist im Deutschen und Englischen und wohl auch im Hebräischen aber Ende, es gibt keine Steigerung mehr. Man sollte sich diese sprachliche Stufe für Dinge aufsparen, wie sie sich in Charlottesville ereignet haben und nicht an einem Schwimmbad in Arosa. Wer sich über die kleinen Dinge aufregt, hat nicht mehr die Kraft, den grossen entgegenzutreten. Und er hat vor allem keine Argumente mehr. Derweil versinkt die Allgemeinheit in einem Meer von Desinteresse und Gleichgültigkeit, weil sie nicht mehr differenzieren kann und den Alarmismus leid wird. Der Schäfer bleibt mit dem Wolf allein.