Der Bund. Ein Vereinsnetzwerk plant eine alternative Gesellschaft mit eigenen Schulen und neuer Medizin. Esoterikexpertinnen warnen.
Gemeinsam Brot backen, Kräuter sammeln, einen Garten pflegen – die Aktivitäten, welche die Vereine Graswurzle und Urig anbieten, hören sich unverfänglich, geradezu harmlos an. Aber dahinter steckt ein Netzwerk von Ortsgruppen in der ganzen Deutschschweiz, das umstrittene Theorien verbreitet und eine Alternative zum Staat errichten will. Ein «neues Paradies auf Erden», wie es in einem Urig-Video heisst. Oder wie es Prisca Würgler, Mitbegründerin von Graswurzle, formuliert: «Ein Versuch, parallele Strukturen aufzubauen.»
Würgler betreibt die Graswurzle-Geschäftsstelle in Altdorf UR. Sie spricht von bis zu 5000 Menschen, die ihrem Netzwerk verbunden sind. Auf einer Karte auf der Website der Organisation ist die Ostschweiz mit blauen Markierungen übersät; jede soll eine Ortsgruppe anzeigen. Das Urig-Netzwerk hingegen ist undurchsichtiger, hat seine Zentrale aber ebenfalls im Kanton Uri, in Erstfeld. Wie viele Mitglieder sich in lokalen Gruppen zusammengefunden haben, ist nicht zu erkennen. Ob die beiden Gruppen kooperieren, ist ebenfalls unklar.
Esoterik-Expertinnen warnen vor dem Netzwerk, das hier entsteht. Es handle sich um «zwei schnell wachsende weltanschauliche Gemeinschaften», bei denen «eine Hinwendung zu gefährlicher Alternativmedizin, Verschwörungsmythen und eigenen Bildungssystemen» zu erkennen sei, heisst es in einer Mitteilung von Relinfo, einer Informationsstelle für Sekten, die von der reformierten Kirche betrieben wird.
«Eigene, freie Räume schaffen»
«Das sind Menschen, die nach der Corona-Pandemie das Gefühl haben, dass ihr Widerstand nichts gebracht hat, und als Alternative ein eigenes System errichten wollen», sagt Julia Sulzmann von Relinfo. Der Versuch, eine Parallelgesellschaft zu bilden, sei problematisch. «Da gibt es Schulen, die den Kindern umstrittene Inhalte vermitteln und sie nicht qualifizieren für ein Leben ausserhalb der Parallelgesellschaft.» Zudem sei eine Vielzahl an zweifelhaften Angeboten zu beobachten, etwa alternative Medizinsysteme, die für Leute, die sich darauf einlassen, durchaus lebensgefährlich sein könnten.
Anhänger von Graswurzle und Urig sind Corona-Massnahmen-Gegner, die sich in den Pandemiejahren seit 2020 ausgegrenzt und verfolgt fühlten. Die Primarlehrerin Prisca Würgler wurde von ihrer Schule entlassen, als sie sich weigerte, eine Maske zu tragen. Sie veröffentlichte Auszüge aus Tagebüchern von Impf- und Massnahmengegnerinnen im Zeitpunkt-Verlag des «systemkritischen» Verlegers Christoph Pfluger. Danach, so erzählt sie in einem Interview auf dessen Website, habe sie das Bedürfnis gehabt, «eigene Räume zu schaffen, in denen wir uns frei bewegen können, ohne uns dem Masken- und Impfzwang zu unterwerfen».
Zusammen mit Pfluger gründete sie Mitte 2021 die Graswurzle-Organisation. Die Kooperation mit Pfluger und dessen Online-Angeboten bleibt eng. So ist Würgler immer wieder im massnahmenkritischen Videoangebot von Pflugers «Transition TV» zu sehen. Weder Würgler noch Pfluger waren trotz mehrfacher Anfrage für eine Stellungnahme zu erreichen.
Kochen, wandern und sich bewaffnen
Die Zahl der Menschen, die für solche Inhalte empfänglich sind, ist in der Schweiz im Zuge der Corona-Pandemie zurückgegangen, wie eine neue Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW ergeben hat. Der Anteil der Bevölkerung, «die sich eher zustimmend zur Verschwörungsmentalität äussert», sei im Vergleich zur Zeit vor Corona von 35,9 auf 27,1 Prozent gesunken, schreibt Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention. Allerdings finden die Forscher auch Hinweise auf eine zunehmende Radikalisierung jener Schweizerinnen und Schweizer, die weiterhin von umstrittenen Erzählungen überzeugt sind.
Eine Radikalisierung ist auch bei den Graswurzle-Angeboten zu beobachten: Sie gehen weit über Kochkurse und Waldwanderungen hinaus. Es gibt Vorträge, die vor der «Neuen Weltordnung» warnen, die angeblich alle Menschen einer Herrschaft undurchsichtiger internationaler Eliten unterwerfen will, die durch eine gezielt herbeigeführte weltweite Krise eingeleitet werden soll. Wer diese unbeschadet überstehen wolle, so heisst es, müsse sich durch Selbstversorgung, Notvorräte und Bewaffnung darauf vorbereiten.
Mehrere private Schulen, gegründet von Massnahmengegnern, suchen auf der Graswurzle-Website nach Schülerinnen und Schülern. Dabei sind die Bildungsmethoden des Russen Michail Schetinin verbreitet, die auch in völkischen und Querdenker-Kreisen in Deutschland beliebt sind.
Relinfo-Mitarbeiterin Julia Sulzmann besuchte mit einer Kollegin einen Vortrag zur «Germanischen Neuen Medizin» in Zürich, der von Graswurzle angeboten wurde – im Zuge eines «alternativen Gesundheitssystems». Dabei handelt es sich um eine Methode, die alle Krankheiten als Ergebnis traumatischer Erlebnisse betrachtet. Die Behandlung selbst von Krebs soll durch die Klärung solcher Traumata erfolgen. Der Erfinder dieses Ansatzes, der deutsche Arzt Ryke Geerd Hamer, sei bekannt als antisemitisch, homophob und rassistisch, schreiben Sulzmann und ihre Kollegin. Hamer wurde mehrfach zu Haftstrafen verurteilt, weil Patienten in seiner Obhut gestorben waren.
Unpolitisch und weltoffen, aber nur nach aussen
Graswurzle und Urig betonen ihre friedlichen Absichten, man habe den Kampf gegen das «alte System» aufgegeben. Von politischem Engagement ist zumindest öffentlich keine Rede. Es gehe um den «Aufbruch in die Zukunft», heisst es bei Graswurzle. Bei Urig klingt das so: «Wir verlagern unsere Zeit, Aufmerksamkeit und Energie weg von den Strömungen der Angst, des Leides, der Wut, des Hasses, der Rache, der Bestrafung und der Zerstörung der alten hin zum Aufbau der neuen Welt.»
«Sie wollen sich durch das Aufbauen einer Parallelgesellschaft dem Diskurs entziehen», meint dazu Julia Sulzmann. «Das sieht anfangs wie eine Entpolitisierung aus. Aber es wird offen gesagt, dass durch die Parallelgesellschaft das alte System obsolet wird. Das hat dann schon eine politische Dimension.»
Graswurzle will demnächst eine eigene Zeitschrift mit dem Titel «Die Freien» herausgeben, unter der Leitung von Prisca Würgler. Als Autorinnen und Autoren werden mehrere prominente Personen aus der Corona-kritischen Szene aufgeführt. Michael Bubendorf etwa, früher Sprecher der Freunde der Verfassung, jener Organisation, die durch ihr rapides Wachstum unter Massnahmengegnern zwei Referenden gegen das Covid-19-Gesetz zustande brachte. Nachdem Bubendorf mehrfach den Aufbau einer Parallelgesellschaft gefordert hatte, wurde er Ende 2021 aus dem Vorstand der Verfassungsfreunde ausgeschlossen.
Auch der Satiriker und Komiker Andreas Thiel, der seit Beginn der Corona-Pandemie zu den bekanntesten Sprechern der Massnahmenkritiker gehörte, wird als Autor der neuen Zeitschrift geführt, ebenso Daniele Ganser, ein Basler Historiker, der mit Verschwörungserzählungen etwa zum 11. September 2001 eine Gefolgschaft im deutschsprachigen Raum aufgebaut hat. Sowohl Graswurzle als auch Urig geben zwar an, für alle Interessierten offen zu sein. Aber beide Gruppen prüfen genau, wen sie in ihre Kreise aufnehmen. Grosse Teile der Websites beider Gruppen sind nur Mitgliedern zugänglich, Zeit und Ort von Veranstaltungen werden oft nur kurzfristig und registrierten Teilnehmern bekannt gegeben.
Im geschützten Umfeld soll auch ein Austausch möglich sein, der Angebote wie die Betreuung von Kindern oder Seniorinnen oder die Vermittlung von Unterkünften beinhaltet. Den Aufbau eines ähnlichen Online-Marktplatzes haben auch die Freunde der Verfassung ins Auge gefasst. «Ein Ziel ist es, dass unsere Kreise ihre Dienstleistungen anbieten können», sagte Mark Steiner, Vorstandsmitglied der Freunde der Verfassung, in einer Onlinediskussion. «Ich möchte das Geld nicht in die alte Gesellschaft investieren.»