«Sind die Leute hier rassistischer?»

St. Galler Tagblatt  27.11.2010

 

Richtiges Hudelwetter herrscht draussen in den Gassen St. Gallens. Agathe Duparc, Journalistin der renommierten französischen Tageszeitung «Le Monde», sitzt drinnen, im Frühstückssaal des Hotels Dom, wo wir uns zum Kaffee verabredet haben. Sie scheint nicht zu frösteln im garstigen Ostschweizer Spätherbst.

Sie habe kaum ein Wort verstanden, gestern an der Podiumsdiskussion in Zuzwil zur Ausschaffungs-Initiative. «Aber die Atmosphäre war eindrücklich, emotional, heiss», sagt die Französin. Sie habe das Gefühl, hier seien alle gegen Ausländer. «Doch die SVPler sind alle ganz nett gewesen», sagt sie. Einer habe sie gar spätabends nach St. Gallen ins Hotel gefahren.

 

 

Keine Banden wie in Paris

 

«Hat die Ostschweiz ein Ausländerproblem?» Ich relativiere: Nein, die Ausländerkriminalität ist nicht höher als anderswo. Nein, es gibt in St. Gallen keine Ghettos wie in Paris, wo Horden entfesselter und desillusionierter ausländischer Jugendlicher mit der Polizei Katz und Maus spielen. Nein, sehr viele Ausländerinnen und Ausländer sind hier bestens integriert. «Sind die Ostschweizer denn rassistischer als andere Leute?», fragt sie. Nein, auch das nicht. Aber der SVP, die in Frankreich oft mit dem rechtsextremen Front National von Jean-Marie Le Pen verglichen wird, gelingt es vorzüglich, aus den existierenden Integrationsproblemen vorab mit jungen Männern aus Balkanstaaten politisches Kapital zu schlagen und ein Klima des Generalverdachts zu schaffen.

Die Genfer Korrespondentin des Pariser «Le Monde» will eine Reportage aus der Ostschweiz schreiben. Während dreier Tage reist sie durch unsere Gegend, trifft Politiker und Beamte, befragt Bürgerinnen und Bürger, besucht öffentliche Diskussionsveranstaltungen, macht sich ein Bild von der Stimmungslage. «Das Interesse an der Schweizer Politik hat in Frankreich seit der Minarettabstimmung im vergangenen Herbst sprunghaft zugenommen», sagt Duparc. Jedenfalls habe ihr die Redaktionsleitung in Paris sofort grünes Licht gegeben, als sie eine Reportage aus der «Suisse alémanique» vorgeschlagen habe. «Für die Franzosen ergibt das ganz neue Einblicke. Denn wenn wir aus der Schweiz berichten, dann vor allem aus der Romandie, die uns kulturell und mentalitätsmässig nähersteht.» Die Deutschschweiz sei «terre inconnue» – unbekanntes Land.

 

Ausgewogen und fair

 

In der heutigen Ausgabe von «Le Monde» sind Agathe Duparcs Erkenntnisse zu lesen. Zu Wort kommen die SVP-Politiker Lukas Reimann und Karl Güntzel, FDP-Regierungsrätin Karin Keller-Sutter und SP-Kantonsrat Fredy Fässler. Der Schreibstil ist nüchtern, der Inhalt sachlich. Kein böses Wort über die SVP, keine Anklage, kein abschätziges Urteil. Da hat man auch schon anderes über die «kleine» Schweiz gelesen, die, wie viele andere Staaten, von der französischen Presse gerne belehrt wird. Doch seit Staatschef Nicolas Sarkozy im grossen Stil Romas ausschafft, haben die französischen Medien ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn sie mit dem Finger auf die Ausländerpolitik anderer Staaten zeigen. Dennoch, sagt Agathe Duparc, wenn die Schweizer am Sonntag der Initiative zustimmen, werde dies in Frankreich für Aufsehen sorgen. «Vielleicht, weil viele Franzosen sehr ähnlich denken.»

 

Stefan Schmid