Schwarz gekleidet, den Blick zu Boden gesenkt, meist etwas eilig unterwegs: So begegnet einem die ultraorthodoxe jüdische Gemeinde in Wiedikon. Diese ist prozentual zwar verschwindend klein, in diesem Stadtteil aber sehr präsent.
Ebenfalls im Zürcher Kreis 3 lebt der jüdische Erfolgsautor Thomas Meyer. «Ich selber lebe nicht religiös, sondern säkular und selbstbestimmt», stellt er gleich zu Beginn unseres Spaziergangs vor dem «Koscher City», dem grössten koscheren Supermarkt der Stadt, klar. Aus diesem Grund wisse er auch vieles, was mit dem religiösen Leben zusammenhänge, nicht. Dass ich dennoch mit ihm unterwegs bin, liegt an seinem Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse». Im Buch beschreibt er das Leben eines jungen Orthodoxen, der zwar nicht explizit in Wiedikon lebt – möglich wäre es aber durchaus.
Perücken, Pelzhüte und Strümpfe
Ich selber lebe in Wiedikon und habe eine gefühlte Million Fragen an jene Menschen, die nach den Regeln der Halacha, des jüdischen Gesetzes leben. Es sind rund 3000 ultraorthodoxe Juden, die in der Schweiz leben. Insgesamt zählen sich 0,15 Prozent der Schweizer Bevölkerung, etwa 18’000 Menschen, zur jüdischen Religion zugehörig. Die ultraorthodoxe Gemeinde ist also eine Minderheit innerhalb einer Minderheit. Und wer nicht per Zufall in Wiedikon lebt, dem ist wahrscheinlich gar nicht bewusst, dass es in Zürich überhaupt eine solche Gemeinde gibt.
Wer aber hier lebt, dem fallen spätestens am Samstag, am Sabbat, die vielen sehr ähnlich gekleideten Menschen auf der Strasse auf. Grosse, runde Pelzhüte, schwarze Mäntel, bei den Frauen sind es vor allem die Perücken, die Aussenstehenden auffallen. «Es gibt auch innerhalb der von aussen als Einheit wahrgenommenen Gemeinde, eine grosse Pluralität», sagt Thomas Meyer.
«Jene, die einen Pelzhut und weisse Strümpfe tragen, das sind die Chassidim, die ursprünglich aus Osteuropa stammen. Andere tragen lediglich einen schwarzen, breitkrempigen Hut – das sind, soweit ich weiss, einfach normal orthodoxe Juden.» Auch heute kleiden sie sich so, wie es im so genannten Stetl im 17. Jahrhundert üblich war. «Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass man ein gottesfürchtiges Leben führt. Was das genau heisst, ist aber je nach Strömung unterschiedlich. Jede dieser Strömungen im Judentum ist sich aber sicher, dass sie die richtige und reinste ist.»
Argwöhnische Blicke
Wir stehen vor der Synagoge Agudas Achim. Thomas Meyer spricht ins SRF-Mikrophon. Eine Gruppe von Männern beäugt uns relativ argwöhnisch. «Wer hier steht und in ein Mikrofon hinein spricht, der bewirkt ein latentes Misstrauen. Denn leider herrscht unter den Juden eine gewisse Paranoia – was historisch gut nachvollziehbar ist, aber in der heutigen Ausprägung eine etwas nervöse Note hat», sagt Meyer. Doch nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen, der beunruhigenden Zunahme des Antisemitismus auch in der Schweiz, ist auch diese Nervosität nachvollziehbar. «Sowieso ist Antisemitismus in den Köpfen der Schweizer tiefer verwurzelt, als es auf den ersten Blick scheint», so Meyer. Er müsse wieder und wieder gegen Verschwörungstheorien ankämpfen: «Antisemiten machen mich wütend, denn wenn ich versuche, gegen ihre kruden Überzeugungen anzureden, heisst es gleich, ja schau nur, du versuchst dich jüdisch herauszureden. Das widert mich an.»
Unterdessen stehen wir vor der koscheren Metzgerei «Kol Tuv». Damit Fleisch koscher, also rein ist, werden die Tiere geschächtet. So ist möglichst wenig Blut im Tier – denn der Verzehr von Blut ist nicht erlaubt. Es gibt immer wieder Leute, die sagen, das Judentum sei eine tierquälerische Religion: «Aber auch diesen Leuten geht es letztendlich nicht um die Tiere, sondern um ihre feindliche Haltung Juden gegenüber. Natürlich kann man das Schächten in Frage stellen, doch hier muss ich einfach sagen, dass unser Fleischkonsum allgemein viel verheerender ist. An der tierfeindlichen Industrie sind die Juden zwar beteiligt – aber nur mit 0,15 Prozent. Lassen Sie es mich so sagen: Nicht das Schächten ist das Problem, sondern Antisemitismus ist ein Problem und unser Tierkonsum.»
Ich merke, je länger ich mit Thomas Meyer unterwegs bin, desto mehr Fragen habe ich. Und so endet mein Spaziergang, wo er begonnen hat: mit einer gefühlten Million Fragen im Kopf.