Republik. Vor einem halben Jahr griffen Neonazis eine Lesestunde für Kinder an. Jetzt nimmt Verleger Roger Köppel die «Drag Story Time» ins Visier. Und nennt dabei Ort und Zeit der Veranstaltung.
Letzten Oktober blockierten vermummte Neonazis bei einer Kinderlesestunde in Zürich den Eingang, zündeten Rauchbomben und versetzten damit Kinder und Eltern in Panik. Später posteten sie, Name und Gesicht zeigend, eine Art Bekennervideo. Die Angreifer schienen sich sicher zu fühlen. Tatsächlich lautete die Antwort der SVP im Zürcher Gemeinderat auf den medialen Wirbel, den der rechtsextreme Angriff ausgelöst hatte, man müsse die Lesestunde abschaffen – nicht die Nazis.
Sechs Monate ist der Angriff der Neonazis auf die «Drag Story Time» her, eine beliebte Veranstaltung in Zürich, in der Dragqueens Kindern zwischen drei und acht Jahren Geschichten vorlesen. Veranstaltet wird die Lesestunde seit fast fünf Jahren von Brandy Butler, bekannt aus «The Voice of Switzerland».
Bei der «Drag Story Time» sei es immer darum gegangen, Kindern einen sicheren Raum zu bieten, schrieb Butler kürzlich auf Instagram. «Aber das scheint immer schwieriger zu werden, weil Leute das Drag-Element der Veranstaltung vereinnahmen, weil queere Menschen leider noch immer ein leichtes Ziel sind.» Butler habe seither extrem viele Anfragen wegen der «Drag Story Time» bekommen. «Aber ich bin vorsichtig geworden, denn es braut sich ein Sturm zusammen. Ich kann es spüren.»
Das schrieb Butler Mitte April. Da war es noch ruhig. Der Sturm begann vergangene Woche.
In der Zürcher Seegemeinde Stäfa musste die Sekundarschule einen «Gender-Tag» absagen, nachdem Morddrohungen bei der Schule eingegangen waren. Mitverantwortlich für die Absage waren die beiden SVP-Politiker Andreas Glarner und Roger Köppel.
Glarner stellte die Einladung zum «Gender-Tag», an dem es um gesellschaftliche Rollenbilder und Gleichstellung gehen sollte, mit Namen und Telefonnummer der zuständigen Schulsozialarbeiterin auf Twitter. Köppel sprach in seinem Videoformat «Weltwoche Daily» von «Genderverrückten» und von «indoktrinierten Kindern», die als Waffen gegen die traditionelle Familie eingesetzt würden, und er fantasierte von «einer echten Ideologisierung und Versexisierung des Schulunterrichts».
Die NZZ kommentierte daraufhin, es sei «ein gesellschaftliches Armutszeugnis», wenn eine Schule die Polizei aufbieten müsse, um den Unterricht durchführen zu können. «Noch alarmierender, wenn die Schule auf einen Projekttag verzichtet, weil die Drohungen überhandnahmen.»
Die Eskalation sei kein Zufall, sagte Psychologe und Männeraktivist Markus Theunert in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag». «Die Rechte nutzt das Genderthema gezielt für ihren Kulturkampf.» Theunert stellte zudem eine Verbindung her von Glarners und Köppels Umtrieben zu den Morddrohungen von Stäfa. «Es waren die SVP-Nationalräte Roger Köppel und Andreas Glarner, die ihre Follower in den sozialen Netzwerken gegen die Schule in Stäfa aufgehetzt haben», sagte er.
Die Morddrohungen seien nicht von den Politikern gekommen, wandten die Journalistinnen ein, und Theunert antwortete: «Haben Sie das Video von Roger Köppel gesehen? Ich will keine Kausalitäten herbeireden, aber natürlich wird so etwas als Ermutigung verstanden. Und die Bereitschaft mancher Leute, sich blindwütig zu ereifern, ist riesig.»
Und nun, als nächste Station einer rechten Zensurkultur gegen Veranstaltungen, die nicht ins enge ideologische Raster passen, wird die «Drag Story Time» attackiert, die am Samstag in Zürich-Oerlikon stattfindet. Der Sturm, den Brandy Butler Mitte April prophezeit hatte, tobt in den sozialen Netzwerken, in Chats von Rechtsextremen.
Und wieder machen die beiden SVP-Männer Roger Köppel und Andreas Glarner Stimmung.
Bemerkenswert: Bei seiner Attacke gegen den «Gender-Tag» in Stäfa bediente sich Roger Köppel desselben Vokabulars, das die Neonazis der «Jungen Tat» in ihrem Video benutzten, in dem sie den Angriff auf die Kinderlesestunde rechtfertigten: «Gender» sei ein Angriff auf die traditionelle Familie. Dieselben Neonazis verehren Roger Köppel denn auch auf Twitter als «stabilsten Politiker der Schweiz», in Uster besuchten sie einen seiner Vorträge.
Am Montag dieser Woche schaltete Roger Köppel ein Video auf, in dem er sich gegen die «Drag Story Time» aussprach. «Was ist das jetzt schon wieder?», sagte er und spielte den Unwissenden. In den Händen hielt er die Einladung zur Kinderlesestunde, dann bezeichnete er sie als «zwanghafte Sexualisierung aller Lebensbereiche, jetzt müssen sich Dreijährige schon mit Dragqueens auseinandersetzen».
Und dann tat Köppel etwas für einen Journalisten Ungewöhnliches, angesichts der aufgeheizten Stimmung wirklich Irritierendes: Er nannte in seinem Videoblog zuerst den Veranstaltungsort, dann den Tag und dann, fast als würde er sein virtuelles Publikum konkret ansprechen wollen, dort vorbeizuschauen, nannte er auch noch die Uhrzeit.
Mittlerweile sind offenbar bereits Drohungen gegen die Veranstaltung eingegangen. Die Lesestunde für Kinder wird mit Polizeischutz stattfinden, bestätigt Medienchefin Judith Hödl gegenüber der Republik.