Der Bund. Ein verhinderter Nachahmer des Christchurch-Attentats ist auf der Flucht, während Justizministerin Karin Keller-Sutter mit seinem Fall für das Anti-Terror-Gesetzt wirbt.
In ihren weissen Gewändern und mit den gefalteten Händen sehen die Kinder ein bisschen wie Engel aus. Der Priester trägt einen gelben Talar. Zur Kommunion steckt er Miran S. (Name geändert) eine Hostie in den Mund. Hinter dem 9-Jährigen stehen die Eltern, stolz, ebenfalls mit gefalteten Händen. Es ist ein Sonntag im Mai 2011.
Acht Jahre später, im Sommer 2019, ist aus dem «Engel» von einst ein Jugendlicher voller Hass auf Muslime geworden. Auf Englisch kündigt Miran S. in den sozialen Medien an, dass er «all diese Muslime töten» werde. Der 17-Jährige lädt Ausschnitte aus dem Video jenes australischen Neonazis hoch, der im März 2019 in zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch 51 Muslime ermordete. Dazu schreibt er: «Irgendwann möchte ich das Gleiche in der Schweiz tun.» Im Chat lässt er auch durchblicken, dass es ganz bei ihm in der Nähe eine Moschee gebe.
Nicht ernst gemeint?
Welches Gotteshaus Ziel werden könnte, ist unklar. Die Moscheen, die am nächsten bei seinem Wohnort liegen, sind die muslimischen Gebetshäuser von St. Gallen.
Zu einem Anschlag kommt es nicht. Ein befreundeter Nachrichtendienst meldet den Schweizer Sicherheitsbehörden die Onlineaktivitäten von Miran S. Die Briten teilen mit, dass ihnen einige der Chatpartner des jungen Schweizers bekannt seien. Und die deutsche Polizei warnt davor, dass dieser auch in einem Forum präsent sei, das sich auf Sprengstoffe spezialisiere.
Der Ostschweizer mit den balkanischen Wurzeln schreibt in den sozialen Medien mehrmals Sätze wie: «Ich habe Vorläuferstoffe bestellt, ich kann Bomben basteln, ich habe Waffen.» Ist hier ein Sprüchemacher am Werk, der seine Drohungen gar nicht ernst meint, wie das nun die Familie von Miran S. behauptet?
Fakt ist, dass Miran S. in einem Onlineshop einer Drogerie 7,5 Kilogramm Aceton, 4 Kilogramm Wasserstoffperoxid und 5 Kilogramm Salzsäure bestellt. Die Drogerie wird misstrauisch, blockiert die Bestellung und meldet sie dem Bundesamt für Polizei (Fedpol).
Die Chemikalien, die sich Miran S. liefern lassen möchte, passen genau zu seinen angeblichen Plänen, den hochexplosiven Initialsprengstoff TATP herzustellen. Allerdings ist TATP unter anderem schlagempfindlich, sodass sich schon eine ganze Reihe Möchtegern-Attentäter des Islamischen Staats bei der Herstellung versehentlich in die Luft jagten.
Zweimal verhaftet
Miran S. hat eine Lehre im Bereich Elektronik angefangen, er hätte also vermutlich das Fachwissen, um auch einen elektrischen Zündmechanismus zu bauen. Die Kantonspolizei verhaftet ihn auf dem Weg zur Arbeit. Nach kurzer Zeit wird er aber freigelassen – und macht in seinen Chatgruppen einfach weiter, wie ein Insider erzählt. Die Gruppenmitglieder sind Deutsche, Niederländer und Briten, die sich aus dem Internet kennen. Sie berufen sich auf pseudochristliche, antimuslimische und rechtsextreme Wertvorstellungen, wie das Fedpol in seinem Jahresbericht schreibt.
Miran S. wird ein zweites Mal verhaftet und nun länger weggesperrt. Gegen ihn läuft ein Strafverfahren der Jugendanwaltschaft, das bis heute nicht abgeschlossen ist. Die Sicherheitsbehörden des zuständigen Kantons und des Bundes sind involviert. Sie schätzen Miran S. als sehr gefährlich ein. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Sympathisch, charmant, mit Grips
Im Umfeld der Familie heisst es, dass Miran S. niemals Gewalt anwenden würde. Mit den Vorwürfen, die aus dem Fedpol-Bericht hervorgehen, konfrontiert, schreibt die Mutter per SMS zurück: «Kein Kommentar. Lassen Sie uns in Ruhe, mich und meine Familie.»
Seit langem lebt die Familie in einem Dorf in der Ostschweiz. Die Ruhe, der Frieden, ist für Auswärtige fast erdrückend. Jemand hat Bettlaken zum Trocknen aus dem Fenster gehängt, und aus ein paar Kaminen zieht Rauch in den blauen Himmel. Warum will man hier zum Terroristen werden? Warum kann sich hier so ein Hass auf Muslime entwickeln?
Alte Bauernhäuser wechseln sich ab mit neuen Eigentumswohnungen aus viel Holz und Glas. Ein grauer, wuchtiger Wohnblock fällt aus der Reihe. Die Farbe auf den Garagentoren ist verblasst, die Briefkästen zerkratzt. Auf den meisten Klingelschildern stehen ausländisch klingende Nachnamen, auch jener der Familie S.
Bekannte des mittlerweile jungen Erwachsenen erzählen Widersprüchliches. Für die einen ist er ein sympathischer, charmanter Typ mit Grips. Andere halten ihn für undurchsichtig. Er komme aus schwierigen Familienverhältnissen. Auffällig ist, wie viele der Befragten Angst haben, sich klar zu äussern.
Die halbe Wahrheit von Karin Keller-Sutter
Wortkarg geben sich auch die Bundesbehörden. Das Fedpol will sich aktuell zur Angelegenheit nicht äussern, obschon es den Fall in seinem Jahresbericht beschrieben hat; und obwohl Justizministerin Karin Keller-Sutter den verhinderten «Christchurch-Attentäter» als Beispiel erwähnt, als sie sich vor wenigen Tagen an einer Medienkonferenz für das geplante Anti-Terror-Gesetz ins Zeug legt. Die Bundesrätin benützt den Fall Miran S., um für polizeiliche Präventivmassnahmen, die sich auch gegen jugendliche Gefährder richten sollen, Werbung zu machen. Die Schweiz wird am 13. Juni über das Gesetz abstimmen.
Was Keller-Sutter verschweigt: Miran S. ist der Justiz entkommen. Er war nach seiner zweiten Verhaftung im Kantonalzürcher Massnahmenzentrum Uitikon inhaftiert. Die Justizanstalt für Jugendliche und junge Erwachsene zielt auf eine «deutliche Verminderung der Rückfallwahrscheinlichkeit und eine möglichst effiziente Deliktprävention», wie auf der Website des Massnahmenzentrums nachzulesen ist. Doch daraus wird im Fall des mutmasslichen Rechtsterroristen wohl nichts: Miran S. ist die Flucht von dort gelungen, vor einigen Monaten schon, wie zwei Quellen dieser Zeitung unabhängig voneinander bestätigen. Angeblich hat er sich in das Herkunftsland seiner Familie auf dem Balkan abgesetzt.