Interview mit Klaus-Michael Kühne. «Sie sind verführt worden und haben sich total geirrt»

Sonntagszeitung.

Erstmals äussert sich der Logistikunternehmer ausführlich über die Verstrickung seiner eigenen Familie mit dem Nazi-Staat. Er fühlt sich verantwortlich für seinen Vater.

Hoch über dem Zürichsee, am Hauptsitz des Logistikriesen Kühne + Nagel in Schindellegi SZ, empfängt Klaus-Michael Kühne zum Gespräch. Dem gross gewachsenen Mann sieht man sein Alter – 84 – kaum an. Er spricht und denkt rasch wie seit eh und je. Kühne ist im Element, denn wohl noch nie wurde der Menschheit so stark bewusst wie in der Pandemie, wie wichtig Logistik ist.

Herr Kühne, Ihre Familie und Ihre persönliche Geschichte erinnern mich an den Familienroman «Buddenbrooks» von Thomas Mann …

… das ist nicht gut. (lacht)

Allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Es ist kein unaufhaltsamer Abstieg wie bei der hanseatischen Kaufmannsfamilie Buddenbrook, sondern ein unglaublicher Erfolg, der von Generation zu Generation grösser wird. Was macht Sie so erfolgreich?

Harte Arbeit. Und viel Glück. Es war mein Anspruch, eine weltumspannende Organisation zu schaffen. Das hat Jahrzehnte gedauert. Mein Vater hatte die ersten Ideen dazu. Ich habe das dann mit grosser Konsequenz und mit harter Arbeit forciert.

Sie sind 84 und fast täglich im Büro. Was treibt Sie an, immer noch so viel zu arbeiten?

Ich möchte mich möglichst frisch halten und nicht immer über das Alter nachdenken. Meinen Computer habe ich immer bei mir, ganz egal, wo ich bin, am Flughafen, in der Bahn oder in unserem Haus auf Mallorca. Ich kann das Arbeiten nicht lassen.

Keine Freizeit?

Doch, doch. Am Wochenende, da spiele ich Tennis und lese viel. Da steht das Geschäft nicht im Vordergrund. Aber in der Woche ist es intensiv.

Macht Ihnen das Älterwerden Mühe?

Natürlich ist einem bewusst, dass man immer älter wird. Und rein körperlich hat man seine Belastungen. Ich versuche, das aber auszugleichen. Ich bin jeden Morgen dreissig Minuten auf einem Hometrainer, dann schwimme ich. Und wenn ich auf Mallorca bin oder am Wochenende auf der Lenzerheide, dann spiele ich Tennis mit meiner Frau. Das wird irgendwann mal nicht mehr so sein, das ist mir klar. Das kann ganz plötzlich kommen.

Wie stark belastet es Sie, dass Sie keine eigenen Kinder haben?

Das ist natürlich traurig. Die dritte Generation ist die letzte in der Familie. Als Familienunternehmer finde ich es schade, dass ich das Unternehmen persönlich nicht vererben kann, aber andererseits ist es auch ein Risiko. Deshalb sehe ich das relativ leidenschaftslos.

Welches Risiko meinen Sie?

Je grösser ein Unternehmen wird, desto schwieriger ist es zu vererben. Die Erben müssen qualifiziert sein. Und selbst wenn sie qualifiziert sind, ist ungewiss, ob sie mit einem so grossen Gebilde zurechtkommen.

Nach Ihrem Tod wird Ihre Stiftung das Firmenvermögen tragen. Das heisst, Sie haben stark über die Zeit nach Ihrem Ableben nachgedacht.

Ja, klar. Es muss die richtigen Vertrauensleute geben, die das Erbe in meinem Sinn fortführen. Und man muss ein Konzept haben, wie es mit den unternehmerischen Belangen weitergeht.

Ist der Stiftungsrat frei, das Unternehmen zu verkaufen, wenn er es für richtig hält?

Ich hinterlasse Richtlinien und Wünsche. Danach soll das Firmenvermögen tunlichst in der Stiftung erhalten bleiben und diese die Kontrolle über Kühne + Nagel ausüben. Aber es gibt da keine absolute Weisung, denn spätere Generationen müssen flexibel sein, um auf neue Situationen zu reagieren.

Das heisst, ein Verkauf ist nicht ausgeschlossen?

Man kann nichts ausschliessen. Die Welt wird sich stark ändern. Letztlich ist der Stiftungsrat souverän, auch andere Entscheidungen zu treffen, allerdings mit einer qualifizierten Mehrheit von drei Vierteln.

Während der Herrschaft der Nationalsozialisten spielte Kühne + Nagel eine Schlüsselrolle beim Abtransport von Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen deportierter Juden im besetzten Westeuropa. Wie stark schmerzt Sie dieser Teil der Familien- und Firmengeschichte?

Ich fühle mich verantwortlich für meine Vorfahren, für meinen Vater speziell. Er musste sich mit dem Unternehmen an der Kriegswirtschaft beteiligen, hat es aber auch gut durch den Krieg gebracht. Das war eine Leistung. Aber es waren alle damals eingebunden und politisch falsch ausgerichtet. Das muss man klar sagen. Man kann aber darüber schwer urteilen, wenn man das nicht selbst erlebt hat und nicht selbst vor diese Herausforderung gestellt war. Ich selbst war bei Kriegsende erst sieben Jahre alt.

Wieso trat Ihr Vater 1933 kurz nach Hitlers Machtergreifung der NSDAP bei?

Mein Vater hat immer gesagt, er sei in die Partei eingetreten, weil Deutschland wirtschaftlich darniederlag. Viele haben 1933 in der NSDAP die Wende gesehen zum Besseren. Sie sind verführt worden und haben sich total geirrt.

Konnten Sie mit Ihrem Vater offen darüber sprechen?

Ja, durchaus. Er hat mich über vieles informiert. Es war nicht so, dass da eine Mauer war oder dass er sich nicht dazu geäussert hat. Aber vieles hat er mir wahrscheinlich nicht erzählt, das vielleicht zu unerfreulich gewesen wäre.

Zum 125-Jahr-Firmenjubiläum 2015 kam Kritik daran auf, dass Ihr Unternehmen diese Verwicklung in die Nazi-Verbrechen weitgehend verschwiegen hat. Warum haben Sie die Geschichte nicht offen aufgearbeitet?

Ich hätte Verständnis gehabt, wenn man zehn, zwanzig Jahre nach dem Krieg diese Dinge infrage gestellt hätte. Da war alles noch in frischer Erinnerung. Da lebten ja auch noch diejenigen, die damals verantwortlich waren. Aber man ist siebzig Jahre später darauf zurückgekommen. Das halte ich für merkwürdig.

Die Aufarbeitung wäre in Ihren Händen gelegen.

Irgendwann muss mal Gras über die Dinge wachsen. Das ist meine grundsätzliche Einstellung. Wichtig ist, Lehren aus den damaligen Vorkommnissen zu ziehen.

Warum haben Sie Ihre Archive nicht Historikern geöffnet, damit diese die Geschichte beurteilen können?

Unsere Archive waren nach den Luftangriffen in Bremen und Hamburg zerstört, und andere Archive gab es nicht. Wir haben also die Information über die Transporte von Möbeln deportierter Juden nur aus der Presse und von Historikern, die in Staatsarchiven recherchiert hatten. Wir können nichts Zusätzliches beitragen. Wir können es nur so hinnehmen, und das haben wir in unserer Jubiläumsbroschüre und in Presseinformationen so dargestellt.

Viele andere deutsche Unternehmen haben eine unabhängige Historikerkommission zur Aufklärung ihrer Geschichte berufen. Wieso Sie nicht?

Uns sprachen einige an, die das gerne gemacht hätten und dafür einige Hunderttausend Euro verlangten. Die sagten, wir wären dazu verpflichtet. Das fand ich fast ein bisschen erpresserisch. Da habe ich gesagt: Das machen wir nicht. Wir haben nichts zu verbergen, wir bekennen uns zu unserer Schuld.

Ihr Vater verlegte 1969 das Geschäft von Hamburg in die Schweiz, aus Angst vor der sozialdemokratischen Politik von Willy Brandt. Es mag auch steuerliche Gründe gegeben haben. Ist Ihr starkes Engagement in Hamburg eine Art Wiedergutmachung dafür, dass Sie die Steuern nicht dort zahlen?

Ich bin der Meinung, dass jeder erfolgreiche Unternehmer dazu verpflichtet ist, einen Teil seines Geldes der Allgemeinheit zu geben. Dass davon ein Teil in Deutschland bleibt, ist sicherlich ein gewisser Ausgleich dafür, dass ich hier steuerlich gut gefahren bin.

Sie finanzieren den Hamburger SV und die Kühne Logistics University in Hamburg, haben die Reederei Hapag-Lloyd in Hamburg gerettet und die Elbphilharmonie mit fünf Millionen Euro unterstützt. Also alles Engagements in Hamburg, Ihrer Heimatstadt. Fühlen Sie sich Hamburg mehr verbunden als der Schweiz?

Nein. Ich und meine Stiftung tun viel in der Schweiz. In der Hochgebirgsklinik in Davos investieren wir grosse Summen in die Forschung zur Bekämpfung von Allergien und Herzkrankheiten. Und wir sind Hauptsponsoren beim Lucerne Festival, unterstützen das Opernhaus Zürich, den Musiksommer am Zürichsee und andere Projekte. Die Schweiz kommt durchaus zu ihrem Recht.

Sie wohnen seit 1975 hier, wählen aber in Deutschland. Warum haben Sie nie den Schweizer Pass beantragt?

Ich bin der Meinung, man sollte nicht verleugnen und vernachlässigen, wo man geboren und aufgewachsen ist, wo man seine alte Heimat hat. Und man sollte sich zu einer Nation bekennen. Ich lebe gerne hier, habe viel Respekt vor der Schweiz und finde sie grossartig. Aber warum sollte ich gleich die Nationalität annehmen, wenn ich es eigentlich gar nicht verdient habe?

Jetzt stapeln Sie tief.

Mag sein. Ich fühle mich im Übrigen als Weltbürger, als einer, der international denkt und sich zu Europa bekennt. Das macht die Schweiz leider nicht. Das bedauere ich sehr. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, nicht Schweizer zu werden.

Die Idee der europäischen Einigung ist Ihnen also wichtig.

Ich bin ein überzeugter Europäer und finde den Zusammenschluss der europäischen Länder absolut notwendig. Formal ist das auch geschehen, aber die Praxis funktioniert schlecht. Das ist traurig, denn wir sollten zu einer einheitlichen Politik kommen, um die unterschiedlichen Interessen zwischen den Ländern auszugleichen und Europas Stimme gegenüber Amerika und China zu stärken.

Vor der deutschen Bundestagswahl sagten Sie, eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP könne nicht funktionieren. Nun gibt es genau diese Ampelkoalition. Wie gut oder schlecht ist das für Deutschland und Europa?

Es ist ein grosses Experiment. Ich kann es mir nicht richtig vorstellen, dass die Roten und die Liberalen auf einen Nenner kommen. Die Grünen sind dazwischen und werden zermalmt zwischen den Wirtschaftsinteressen der beiden anderen Parteien. Sowohl die Sozialisten als auch die Liberalen sind ja eigentlich wirtschaftsfreundlich eingestellt. Bei den Grünen ist es eher das Gegenteil.

Ihre Prognose: Wie lange wird die Koalition halten?

Ich glaube, dass man sich in den nächsten zwei Jahren zusammenreissen wird. Es wird neue Ideen geben, die sind auch gut, gerade in Hinsicht auf den Umweltschutz. Doch die Wahlversprechen kosten mehr Geld. Da kann es Streitigkeiten über die Finanzierung geben, speziell mit der FDP, die da sehr konsequent ist. Also ich sage mal: Es wird spannend, und der Ausgang ist schwer vorhersehbar.

Vor zwei Jahren sagten Sie, wenn man sich die Parteien in Deutschland anschaue, dann seien die Grünen der einzige Hoffnungsträger. Sind Sie ein Grüner?

Nein, das bin ich nicht. Aber ich gebe zu, grüne Ideen habe ich schon immer gut gefunden, weil mehr für die Umwelt getan werden muss. Insofern finde ich die grüne Bewegung wichtig und gut. Allerdings vertreten die Grünen teilweise Dinge, die mir problematisch erscheinen.

Zum Beispiel?

Ich finde es fürchterlich, wenn in meiner Heimatstadt Hamburg die schönsten Strassen für Autos gesperrt werden und nur noch für Fahrräder offen sind. Das führt zum Verkehrschaos. Es ist auch gar nicht notwendig. Man schafft viel zu grosse Flächen für Fahrräder, alles andere wird zurückgedrängt. Das ist ein Kampf gegen die Autofahrer. So etwas schätze ich gar nicht.

Als Hamburger kennen Sie den neuen Bundeskanzler Olaf Scholz bestens. In welche Richtung wird sich Deutschland unter ihm bewegen?

Scholz ist eine Sphinx. Man weiss nie richtig, was er vorhat. Ich habe mit ihm mehrfach verhandelt. Er beherrschte die Materie gut, versteht was von Wirtschaft. Aber politisch neigt er zu linken Experimenten.

Die meisten Beobachter rechnen ihn aber dem gemässigten Flügel der SPD zu.

Er hat einen gewissen Hang, dem Sozialismus mehr Raum zu geben und die Steuern zu erhöhen. Ich finde seine enorme Ausgabenfreudigkeit fragwürdig. Und er hat mitgewirkt, dass in Europa eine Vergemeinschaftung der Schulden zugunsten der südlichen Länder stattfindet. Es kann natürlich sein, dass er durch den Koalitionspartner FDP ausgebremst wird. Man muss abwarten, wer die Oberhand gewinnt.

Die Pandemie hat Europas Abhängigkeit von China schonungslos offengelegt. Muss sie nicht vermindert werden?

Ja. Nahezu jedes Unternehmen in der industriellen Branche denkt heutzutage darüber nach, woanders einzukaufen, Güter unter Umständen selber zu produzieren und grössere Lagerkapazitäten einzurichten. Daraus werden sich in den nächsten ein, zwei Jahren sicherlich Veränderungen ergeben, um Abhängigkeiten wenn immer möglich zu reduzieren.

Als eines der weltgrössten Logistikunternehmen haben Sie eine besondere Verantwortung gegenüber der Umwelt. Haben Sie mal ausgerechnet, wie gross der Ausstoss von Schiffen, Flugzeugen und Lastwagen bei Kühne + Nagel ist?

Wir sind bereits heute klimaneutral, was unseren eigenen CO₂-Ausstoss anbelangt. Was die von unseren Kunden herrührenden Transportemissionen betrifft, so wollen wir bis 2030 CO₂-neutral sein. Wir unterstützen Wiederaufforstungsprojekte in verschiedenen Teilen der Welt und bekämpfen den CO₂-Ausstoss mit anderen Massnahmen.

Womit genau?

Indem wir bei jedem Transport den CO₂-Ausstoss messen und bekannt geben können. Wir schaffen damit für jedermann Transparenz. Zudem schlagen wir unseren Kunden umweltfreundliche Transportalternativen vor. Selbst in der Luftfahrt, die besonders umweltfeindlich ist, ermöglichen neue Treibstoffe die Reduktion des CO₂-Ausstosses. Es wird an allen Ecken und Enden daran gearbeitet, unsere Tätigkeit klimafreundlich auszurichten.

Seit kurzem können Ihre Kunden wählen, ob sie ihre Luftfracht mit herkömmlichem oder mit CO2-freiem, dafür teurerem Kerosin transportiert haben wollen. Sie sind da weltweit ein Pionier. Wissen Sie schon, wie viele Kunden diese Option wählen werden?

Immer mehr Kunden interessieren sich für das Thema. Vorrangig sind es internationale Firmen, unter anderem aus der Elektronik- und der Konsumgüterindustrie. Ich finde diese Entwicklung bemerkenswert: Früher waren nur der Preis und die Qualität dominierend. Heute ist das Thema der Klimafreundlichkeit sehr im Bewusstsein.

Welche weiteren Beiträge zum Klimaschutz werden Sie leisten?

Wir überlegen uns, in Kanada oder den USA in Waldeigentum zu investieren. Meine Stiftung betreibt schon solche Aufforstungsprojekte in Neuseeland. Dort werden neue, CO₂-absorbierende Wälder angepflanzt. Das ist mir viel lieber, als wenn wir nur Zertifikate erwerben.