«Ihre Freiheit ist eine Lüge»

Saiten.ch

Der ganz normale Irrsinn.150 Menschen protestieren am Samstagmorgen in der St.Galler Innenstadt gegen allerlei: Impfzwang, Corona-Massnahmen, Diktatur. Und die Polizei prügelt sich durch eine harmlose Gegendemonstration. Beobachtungen und offene Fragen.

Von Matthias Fässler.

Die Herbstsonne scheint, Menschen shoppen sich durch die systemrelevante Innenstadt. Der Gallusplatz hat sich mittlerweile fast geleert, da präsentiert der Kommunikationsbeauftragte der Stadtpolizei die hastig zusammengeschusterte und vom Einsatzleiter diktierte Bilanz dieses Samstagmorgens: eine friedliche Demonstration gegen die Coronamassnahmen, eine illegale Gegendemonstration, gegenseitige Provokationen, ein Angriff auf Polizisten, Schlagstockeinsatz, keine Verletzten, dafür Anzeigen gegen zwei Gegendemonstranten.

Ganz schön was los also. Die grösseren und koordinierten Coronaproteste sind mittlerweile auch in St.Gallen angekommen. Nur, was genau ist passiert? Und wie benutzt man einen Schlagstock, ohne Menschen damit zu verletzen? Vielleicht ist es doch ein bisschen komplizierter.

Mehr als schiefe Vergleiche

Am Tag zuvor hatte das BAG 6739 Neuinfektionen vermeldet, europäischer Spitzenwert, wenn man die Zahlen herunterrechnet. Dazu 97 neue Todesfälle, 262 Spitaleinweisungen. Mittlerweile haben die Intensivstationen in einigen Kantonen ihre Kapazitätsgrenze schon fast erreicht. Doch während Spitäler und wissenschaftliche Gremien wegen steigender Infektionszahlen und fehlendem Gesundheitspersonal Alarm schlagen, fürchten sich andere vor einer «Gesundheitsdiktatur».

Zwei davon stehen an diesem Morgen unter der grossen Linde auf dem Gallusplatz: Martin und Simone Ehrismann. Als Teil des Vereins «Reaktion» haben sie zur Demonstration gegen die Coronamasssnahmen aufgerufen. Am Ende werden es rund 150 Personen sein, die sich ihnen anschliessen und in weissen Schutzanzügen und mit Plakaten ausgerüstet durch die Innenstadt ziehen.

Darauf sind Sprüche zu lesen wie: «Gehorche», «WHO allwissend», «Hinterfrage nicht», Gandhi wird zitiert, Benjamin Franklin. Kein Zitat zu grossspurig, um auf das Unrecht zu verweisen, das einem da grad widerfährt, weil man in der Migros eine Maske tragen muss oder in Restaurants nur noch zu viert an einen Tisch sitzen darf.

Doch es bleibt nicht bei Gandhi und Franklin: Obwohl die OrganisatorInnen im Telegram-Chat, über den hauptsächlich mobilisiert wurde, angekündigt hatten, dass «suggestive Botschaften zum 2. Weltkrieg oder den (sic!) Holocaust», wie etwa «Impfen macht frei», nicht zugelassen würden, tauchen gleich mehrere Schilder mit ebendiesen Botschaften auf. Oder auch: «Gehorsam macht frei».

«Kein Problem», finden die Ehrismanns auf Anfrage, es sei schliesslich ein Hinweis auf das aktuelle Geschehen und habe nichts mit der Nazi-Zeit zu tun.

Es sind mitunter solche antisemitischen Inhalte auf den Coronademonstrationen, die befürchten lassen, dass die Proteste auch als Mobilisierungsfeld für Rechtsextreme genutzt werden können. In Deutschland laufen gerade regelmässig bekannte Neonazis in den ersten Reihen der Demonstrationen mit und sind an Angriffen auf die Polizei beteiligt.

Auch in der Schweiz gibt es vereinzelt Anzeichen dafür: So rief etwa Ignaz Bearth, Mitglied der PNOS und einstiger Sprecher der erfolglosen Pegida Schweiz, ebenfalls dazu auf, am Stillen Protest in St.Gallen teilzunehmen. Er wohnt in der Ostschweiz.

Wiederum kein Problem, finden die Ehrismanns. Zwar grenze man sich von Rechtsextremismus ab, aber wenn Leute aus diesem Spektrum an der Demonstration teilnehmen wollten, ohne Gewalt, ohne Krawall, dann sei das natürlich möglich.

Auch weil sich solche Proteste noch immer zu wenig gegen rechts abgrenzen und es Anzeichen gab, dass mehrere Rechtsextreme teilnehmen könnten, organisierten sich im Vorfeld lokale Antifa-Gruppen. Am Tag selber bleibt es diesbezüglich dann jedoch ziemlich still. Scheinbar beschränken sich Neonazis gerade darauf, martialische Bergsteigervideos zu drehen und auf Dächern rumzuposieren.

Klangschalenaktivismus

Die Demonstration am Samstag war nicht der erste Stille Protest dieser Art. Bereits in Schaffhausen und Zürich fanden ähnliche Aktionen statt, allerdings in deutlich kleinerem Rahmen.

Bislang ist es dem Verein und der noch sehr bescheidenen Protestbewegung gegen die Coronamassnahmen nicht gelungen, eine politische Öffentlichkeit herzustellen, die über diesen höchst symbolischen und diffusen Klangschalenaktivismus hinausgeht. Auch wenn es ihr an diesem Samstag durchaus gelang, die Aufmerksamkeit in der Stadt auf sich zu ziehen, fehlt es an konkreten Forderungen und einheitlichen Positionen.

Für linke Gegenproteste bedeutet das immer auch ein Dilemma: Wie protestiert man gegen solche Aktionen und Vereine, ohne sie grösser zu machen als sie sind? Und wie sorgt man dafür, dass bei all dem Abreagieren daran und der potentiellen Gefahr rechter Mobilisierungen andere Fragen nicht vergessen gehen: etwa jene, wer diese Krise bezahlt und wie wir es schaffen, das Geld bei jenen zu holen, die von der Krise profitieren. Oder wie es sein kann, dass gerade Wirtschaftsverbände und -lobbys der Bundesregierung den Takt vorgeben und weitere wichtige Massnahmen blockieren. Oder wie wir es hinkriegen, Pflegearbeit besser zu entlöhnen.

Keine einfachen Fragen, und natürlich das Mindeste, dem Coronaprotest zu sagen, was man von ihm hält. Während das die einen mit Plakaten und unmissverständlichen Botschaften taten («Gönd hei»), wiesen andere auf das beschränkte Freiheitsverständnis der Coronaproteste hin («Ihre Freiheit ist eine Lüge»), die sich erst dann politisch zu engagieren scheinen, wenn die eigenen Freiheiten und Eitelkeiten betroffen sind. Und eben nicht von einer Freiheit ausgehen, die Solidarität mit anderen beinhaltet.

Stapo ausser Rand und Band

Und natürlich bleiben auch noch andere Fragen offen, die sich vor allem die Polizei gefallen lassen muss. Sie war es, die mit übermässiger Härte auf eine kleine Gruppe reagierte, die sich hinter einem Transparent auf dem Gallusplatz versammelt hatte, als der Stille Protest wieder am Ausgangsort eintraf.

Die rund 30 AktivistInnen des Gegenprotests standen etwa 20 Minuten von den Bereitschaftspolizisten unbehelligt auf dem Platz, Personenkontrollen wurden zu diesem Zeitpunkt nicht vorgenommen.

Als sich die friedliche Gruppe danach in Richtung Innenstadt auflösen wollte, stürmten mehrere mittlerweile eingetroffene Beamte in die Gruppe hinein, wohl um Personenkontrollen vorzunehmen. Dabei prügelten sie mehrmals mit Schlagstöcken auf DemonstrantInnen ein, wobei sich – entgegen der Darstellung der Polizei – mehrere Personen leichte Verletzungen zugezogen haben.

Die Polizisten wirkten dabei so überfordert und unkoordiniert, dass es keine Überraschung war, dass innerhalb der GegendemonstrantInnen Panik ausbrach. Der von der Polizei später konstruierte «Angriff» auf die Beamten war nichts weiter als der Versuch der GegendemonstrantInnen, ihre Kollegen von der Polizei wegzuziehen.

Auch die TeilnehmerInnen des Gegenprotests widersprechen der Darstellung der Polizei.

Damit bleiben auch die Frage und die Skepsis, ob es nicht dieselben autoritären Sehnsüchte sind, die in den Augen der schlagstockschwingenden Polizisten aufblitzen, wie jene Gelüste, die sich hinter manchem der Schilder des Protests gegen die Massnahmen verbergen – mögen sie sich noch so freiheitsliebend geben.

Der Polizei hätte klar sein müssen, dass sie die Situation eskalieren lässt, wenn sie die Personenkontrolle und -anhaltung um jeden Preis durchsetzen will. Sie hätte die ziemlich unspektakuläre und friedliche Gegendemonstration, die sie vorher so lange gewähren liess, ruhig abziehen lassen können. Mittlerweile jedoch, so bestätigen mehrere Quellen, telefoniert sie sich quer durch die Stadt und verteilt persönlich Vorladungen, um diesem scheinbar so ungeheuerlichen Gegenprotest Herr zu werden.

Man braucht nicht an Verschwörungen zu glauben, um zu merken, dass es hier auch darum geht, junge linke Aktivistinnen und Aktivisten einzuschüchtern und zu kriminalisieren. Gerade auch, wenn man bedenkt, wie geduldig die Polizei noch vor wenigen Monaten in St.Gallen gegen unbewilligte Coronademonstrationen am Bahnhof vorging und erst nach mehreren Durchsagen und direkten Gesprächen verständnisvoll Personenkontrollen durchführte. Und im Vergleich dazu am vergangenen Samstag kurzerhand und ohne Ankündigung den Knüppel aus dem Sack zieht.

Ginge es nach der kantonalen SVP, müssten die VeranstalterInnen von nicht bewilligten Demonstrationen künftig solche Polizeieinsätze gar noch selber berappen.

Ironische Pointe: Einigen GegendemonstrantInnen wirft die Polizei nun vor, gegen das Verbot von Menschenansammlungen von über 15 Personen im öffentlichen Raum verstossen zu haben. Der ganz normale Irrsinn.