Nach fünf Prozesstagen haben gestern im Fall von Allmen die Verteidiger plädiert ? das letzte Wort hatten die Angeklagten
12 Jahre Zuchthaus für die Mittäter und 15 Jahre Zuchthaus für den Hauptangeschuldigten verlangen die Verteidiger im Mordfall von Allmen für ihre Mandanten. Diese sprechen in ihrem letzten Wort von ihrer Reue.
Christine Brand
«Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.» Marcel Grass, der amtliche Verteidiger von Marcel M., zieht mit dem Staatsanwalt gleich. Auch er zitiert in seinem Plädoyer die Bibel. Es ist der vorerst letzte Tag, an dem die seltsam zusammengewürfelte Gemeinschaft von Angeklagten, Richtern, Anwälten, Journalisten, Angehörigen und Zuschauern im prächtigen Assisensaal im Berner Amthaus zusammengekommen ist. Es ist der Tag der Verteidigung, der Tag der letzten Worte. Nach einer langen Prozesswoche, in der noch einmal die ganze grauenhafte Geschichte neu aufgerollt und zur juristischen Begutachtung öffentlich ausgebreitet wurde. Am Abend wird für die Angeklagten das Warten auf das Urteil beginnen. Die Richtenden werden es am 29. März eröffnen.
«Verabscheuungswürdige Tat»
Um überhaupt in diesem «besonderen Fall mit einer verabscheuungswürdigen Tat» ein Urteil finden zu können, sagt Marcel Grass, müsse das Gericht «probieren, die Hintergründe und Beweggründe zu erkennen». Sein Mandant Marcel M. war es, der die Tötung Marcel von Allmens beschlossen, gemeinsam mit seinen «Kameraden» geplant und schliesslich vollzogen hatte. Marcel M. hatte Marcel von Allmen mit einem Chromstahlrohr zu Tode geschlagen ? weil dieser das Schweigegelübde des «Ordens der arischen Ritter» gebrochen hatte.«Wie konnte es so weit kommen, dass an und für sich rechtschaffene Jugendliche zu Schwerstkriminellen wurden?» fragt Grass. Er und auch die beiden anderen Verteidiger versuchen in ihren Plädoyers Erklärungsansätze für das Unerklärliche zu finden. Für Grass liegt der Anfang der fatalen Entwicklung bei den Auseinandersetzungen zwischen einheimischen und ausländischen Jugendlichen auf dem Bödeli. «Es wurde ein Gewaltpotenzial unter jungen Leuten herangezüchtet.» Ein Nährboden für Rechtsradikalismus geschaffen. In diesem Klima hätten sich die halbwüchsigen, orientierungslosen Phantasten eine irreale Welt aufbauen wollen ? und diese sei durch Marcel von Allmen gefährdet worden.Marcel Grass versucht in seinem Plädoyer klar zu machen, dass Marcel M. nicht «der Führer» gewesen sei, zu dem ihn die andern machen wollten, er habe nicht im Alleingang entschieden. «Es gab keine Rangordnung, die Mitglieder waren alle gleich.» Marcel Grass spricht in Bildern: vom Rennbob-Team, das nicht aussteigen könne, sobald der Bob einmal fahre. Bei dem es wohl einen Steuermann gebe ? aber auch einen Bremser. «Aber es hat keiner gebremst.» Auch wenn möglicherweise jeder darauf gewartet habe, dass es einer tue. Und er erinnert an Dürrenmatts «Besuch der alten Dame», bei dem ein ganzes Dorf einen Mord plane und begehe und der Einzelne keine Verantwortung dafür übernehme. Marcel Grass versucht aufzuzeigen, dass es sehr wohl auch für Marcel M. strafmildernde Umstände gebe. Er bezichtigt den «deutschen» Gerichtspsychiater Volker Dittmann, das Gericht mit seinem Gutachten zum Nachteil Marcel M.s beeinflussen zu wollen. «Weil er ein ganz massives Problem mit M.s Gesinnung hatte.» Es sei doch gar nicht möglich, dass Marcel M. über überhaupt keine psychische Störung verfüge, wie dies Dittmann dem Gericht weismachen wolle. Wer eine derartige Tat begehe, bei dem «muss doch eine Abnormalität vorliegen». Es sei darum sehr wohl eine verminderte Zurechnungsfähigkeit zur Tatzeit anzunehmen.
15 und 12 Jahre Zuchthaus
Marcel Grass verlangt, dass Marcel M. unter anderem wegen vollendeten Mordes an Marcel von Allmen schuldig gesprochen und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wird. «Lebenslänglich», die Höchststrafe, die Staatsanwalt Hans-Peter Schürch gefordert hatte, sei nicht gerechtfertigt. «Ein Delikt eines 20-Jährigen darf nicht gleich bewertet werden wie das eines 40-Jährigen.» Es solle ausreichend Sühne geschehen, sagt Grass zum Gericht. «Aber lasst für ihn ganz hinten im langen Tunnel noch ein Lichtlein brennen.»18 Jahre Zuchthaus hatte Staatsanwalt Schürch für die beiden anderen Angeklagten gefordert. Höchstens 12 Jahre Zuchthaus verlangen deren Verteidiger. Für sie sah die Rollenverteilung in der Gruppe anders aus als für Marcel Grass. Es stimme, dass keiner gebremst, klar Nein zur Tötung von Allmens gesagt habe. Aber: Dieses Nein-Sagen wäre ihrer Ansicht nach auch nicht ganz einfach gewesen. Renato S. habe als Mitwisser nicht einfach so aussteigen können, erklärt Verteidiger Günther Galli. «Seine Entscheidungsfreiheit, beim Tötungsdelikt mitzumachen, war eingeschränkt.» Renato S. habe sich vor Marcel M. gefürchtet, sei unter Druck gestanden. Adrian Glatthard, Verteidiger von Michael S., stösst ins gleiche Horn. Michael S. habe gar noch versucht, Marcel M. von der Umsetzung des Pläne abzuhalten, habe von einer Polizeikontrolle erzählt, von der möglichen Schwangerschaft seiner Freundin. Und habe dann probiert, zumindest sich selber herauszuhalten. «S. hat innerhalb der Gruppe keine Entscheidungen getroffen ? dies hat er wie alle anderen Marcel M. überlassen.»
Die letzten Worte
Es sind die Angeklagten, die das letzte Wort haben. «Ich wünsche mir eine harte Strafe. Aber eine faire», sagt Renato S. und ringt um Fassung. Er bereue die Tat zutiefst und bedaure, der Familie des Opfers, aber auch seiner Familie derart viel Leid zugefügt zu haben. «Ich schäme mich.» Michael S. schliesst sich seinen Worten an, macht seinem Bedauern Ausdruck. Auch Marcel M. verlangt das letzte Wort. «Ich weiss, dass ich grosse Defizite habe, meine Gefühle zu zeigen», sagt er, der sich während des Prozesses nüchtern, kühl und überkorrekt gab. «Mir wäre es wohler, wenn es anders wäre.» Und er sagt sachlich, aber mit Nachdruck: «Es tut mir alles sehr Leid.»