Der Bund.
Interview mit Thomas Meyer. Der Schriftsteller musste entdecken, dass sogar Freunde und Bekannte von ihm antisemitisch denken. Über seine Erfahrungen hat er nun ein Buch geschrieben.
Wann haben Sie zuletzt Antisemitismus erlebt?
Gerade eben, vor ein paar Minuten, in meiner Mailbox. Ein Mann reagierte auf ein Interview von mir. Er schrieb mir: Von all den Chefs, die er in seinem Arbeitsleben gehabt habe, sei einer richtig schlecht gewesen. Der habe den Lohn nicht gezahlt und so weiter. Und dieser Chef sei ein Jude gewesen. Ich solle das doch bitte berücksichtigen, wenn ich die Juden zu Heiligen stilisieren möchte.
Was Sie gar nicht tun.
Der Mann versucht, mich mit einer vermeintlich sachlichen Argumentation zu diskreditieren, und würde höchstwahrscheinlich empört reagieren, wenn ich ihn als Antisemiten bezeichnen würde. So reagieren ja die meisten, wenn man sie auf ihren Antisemitismus anspricht. Dass jemand in sich geht und zugibt: «Ja, da hatte ich tatsächlich einen antisemitischen Gedanken» – das kommt nur sehr, sehr selten vor. Von den Hunderten antisemitischen Erlebnissen, die ich hatte, nahmen etwa fünf eine solche erfreuliche Wendung. Ansonsten haben sich die Leute der Einsicht verweigert.
Weshalb?
Es ist der Stolz. Es braucht Charakterstärke, einen Fehler ganz bei sich zu suchen. Und bei einer antisemitischen Äusserung liegt der Fehler nun mal ganz bei einem selber. Das kann man auf niemanden abwälzen.
Mussten Sie deswegen schon Freundschaften beenden?
Ja. Ich kann keine offen antisemitischen Freunde haben. Ich kann aber auch keine Freunde haben, die sich ihren unbewussten Antisemitismus nicht eingestehen wollen. So hatte ich einen Freund, der einer jüdischen Vermieterin für eine neue Wohnung nur 3500 statt 4000 Franken Miete zahlen wollte. Als ihm das gelungen war, sagte er zu mir: «Sie ist eine Jüdin, die versteht das!» Ich fragte ihn, was er damit meine. «Na, die weiss eben, was Geld bedeutet.» Als ich ihn dann freundlich darauf hinwies, dass das antisemitisch sei, wollte er nichts davon wissen. Er gab mir vielmehr heftig Paroli: Nein, er sei sicher kein Antisemit. Ich habe dann seine Nummer vom Handy gelöscht.
Sie meinen, diesen unbewussten Antisemitismus treffe man überall an, auch in progressiven Milieus.
Das ist so. Dazu ein zweites Beispiel: Ein urbaner, links politisierter Gastronom wollte einen Text von mir zweitverwerten, mir dafür aber kein weiteres Honorar bezahlen. Als ich darauf beharrte, sagte er: «Du bist doch ein Jude.» Ich sagte: «Ja, ich bin ein Jude… und du bist ein Arschloch.»
Der Holocaust zeigte auf brutalste Art, wohin Antisemitismus führen kann. Weshalb hat sich der beiläufige Antisemitismus, den Sie in Ihrem Buch beschreiben, so gut erhalten?
Das kann ich mir auch nicht erklären. Hitler, Nazis, den Holocaust: Das finden wir ja alle schrecklich und schlimm. Aber den Leuten kommt es offenbar nicht in den Sinn, dass sie selber Träger von Antisemitismus sein könnten.
Hatten Sie schon mit offenem Faschismus, unverhohlenen Nazis zu tun?
Ja, Ende der 1990er-Jahre, da verbrachte ich viel Zeit in einem Chatroom, wo sich manchmal einzelne Neonazis tummelten. Zwei davon traf ich mal in Baden zum Bier, zum Austausch. Es waren umgängliche, aber ziemlich unbedarfte Jungs. Einer meinte, den Holocaust könne es deshalb nicht gegeben haben, weil ja immer noch Juden lebten. Auf dem Niveau kommt man natürlich nicht weit.
In konservativen und rechten Kreisen gibt es eine vehemente Unterstützung für den Staat Israel: hierzulande von SVPlern, in den USA von Trumpisten. Begrüssen Sie das?
Nein. Denn das ist ein durchsichtiges Manöver. Man sagt: «Schaut her, ich verteidige die Juden. Also kann ich doch gar kein Rassist sein, und meine Abneigung gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen ist differenziert, also vernünftig.» Trump hätte in Jerusalem eine zweite US-Botschaft eröffnen müssen, im arabischen Teil. Dann wäre ein echter Dialog möglich gewesen.
Wann ist Kritik am Staat Israel berechtigt? Wann wird sie antisemitisch?
Kritik an der Politik Israels ist sehr wohl angebracht. Die Lebensumstände der meisten Palästinenser sind furchtbar. Allerdings muss man immer nach dem Motiv fragen. Warum will jemand ausgerechnet den Staat Israel kritisieren? Warum pflückt man sich als Schweizer just dieses Land heraus? Die Politik der anderen Staaten im Nahen Osten ist ja nicht besser, im Gegenteil. Denken wir nur an die Situation der Homosexuellen in Ägypten oder in anderen arabischen Ländern.
Das Jüdische Museum Berlin organisierte 2018 ein Podium mit dem Titel «Importierter Antisemitismus?» Es ging um die Frage, ob Geflüchtete aus dem arabischen Raum den Antisemitismus verstärkten. Diese Frage kommt in Ihrem Buch nicht vor. War sie zu unwichtig? Oder zu heikel?
Zu unwichtig. Zum einen geht es mir gerade nicht um bewussten, offenen Antisemitismus. Zum andern müsste sich eben noch zeigen, wie sehr Geflüchtete den Antisemitismus hierzulande verstärken. Inwiefern sich dieser arabische Antisemitismus zum Schweizer Antisemitismus addiert. Für so ein Urteil bräuchte man Zahlen. Ich selber bin noch nie einem antisemitischen Araber begegnet. Aber letztlich ist das sowieso eine müssige Diskussion. Denn der Schweizer Antisemitismus ist als Problem gross genug, um thematisiert zu werden.
Es gibt offenkundig auch eine grosse Faszination fürs jüdische Leben, wie die Erfolge Ihrer Romane oder jüngst der Netflix-Serie «Unorthodox» zeigen. Besteht die Gefahr einer Verklärung?
Solange Stereotypen und Klischees vom Zuschauer nicht einfach reproduziert, sondern hinterfragt werden, sehe ich da kein Problem.
Sie selber wurden für Ihre Darstellung der jüdischen Kultur kritisiert. Der Literaturwissenschaftler Caspar Battegay sagt über Ihre Romane: «Dem Autor fehlt offensichtlich das kulturelle Wissen, um souverän mit den Stereotypen umgehen zu können. Das zeigt sich etwa am von Meyer verwendeten Pseudojiddisch, das das echte Jiddisch letztlich infantilisiert.»
Was soll ich dazu sagen? In meiner Familie hat man ein mit jiddischen Wörtern gespicktes Schweizerdeutsch gesprochen, das habe ich im Buch genau so wiedergegeben. Ausserdem habe ich mir für meine Romane einiges an Wissen angelesen. Ich frage mich, ab wann ich aus der Sicht von Herrn Battegay denn über genügend kulturelles Wissen verfügen würde, um einen souveränen Roman mit jüdischen Figuren schreiben zu können.
Die Schweiz hat nebst Minaretten nun auch Burkas verboten. Solche Verbote könnten unter Umständen auch auf andere religiöse Minderheiten ausgeweitet werden.
Diese Möglichkeit sehe ich ebenfalls. Es ist ja auch schwer nachvollziehbar, dass man eine Burka verbietet, nicht aber eine jüdisch-orthodoxe Kleidung.
Aber würden Sie ein Verbot solcher Kleidung denn tatsächlich begrüssen?
Wer bin ich, so etwas fordern zu können? Ich weiss nur, dass ich im engen orthodoxen Regelwerk nicht leben könnte. Dass mir der Verhüllungszwang und dieser ganze religiöse Reinheitsfanatismus ein Graus sind. Und dass ich es schlimm finde, wenn solch unfassbar archaische Regeln Menschen an ihrer Entfaltung hindern. Jede Religion ist letztlich ein Irrsinn. Aber Verbote sind ja oft ein untaugliches Mittel. Mädchenbeschneidungen sind ja auch verboten, kommen aber in der Schweiz dennoch vor.
Am Schluss Ihres Buchs steht ein Geständnis.
Ja. Nämlich, dass ich bei Velo fahrenden Schwarzen immer denke, die hätten das Velo gestohlen. Ich weiss, das ist wirklich zum Schämen. Seit ich dieses Geständnis im Buch abgelegt habe, hat sich dieser Zwangsgedanken seltsamerweise verflüchtigt. Ich denke jetzt nicht mehr so. Aber bisher habe ich tatsächlich intuitiv so gedacht, ja: bei Schwarzen auf Velos und bei Schwarzen in Autos.
Was hat Sie zu diesem Geständnis bewogen?
Ich hoffe natürlich, dass ich die Leserinnen und Leser dazu animieren kann, sich selber öfter zu reflektieren. Würden sie ihre antisemitischen Gedanken zugeben, wäre schon viel gewonnen.
Gibt es eine Schnittmenge zwischen Ihrem autobiografischen Essay und der aktuellen Debatte um Identitätspolitik? Etwa die Feststellung, dass wir Identitäten letztlich nicht überwinden können? Dass uns immer etwas trennen wird und dass wir uns für diese unüberbrückbaren Unterschiede nur so gut wie möglich sensibilisieren können?
Die Frage ist doch, wie eine Überwindung genau funktionieren soll. Will man, dass die frommen Juden plötzlich im Volg einkaufen, nur weil dort die durchschnittliche Schweizerin einkauft? Oder sollen die frommen Juden uns einladen? Eine Bar eröffnen? Es gibt nun mal Lebenswelten, die sehr verschieden sind und einander wohl immer fremd bleiben.
Gibt es Momente, in denen Sie sich einem orthodoxen Juden nahe fühlen?
Ja, wenn ich in Israel bin. Der Besuch der Klagemauer inmitten frommer Juden war ein mystisches Erlebnis. Da war ein grosses Gemeinschaftsgefühl, in dem ich mich sehr gut aufgehoben fühlte. Die aschkenasischen Gesänge, die sephardischen Gesänge… es war magisch, wunderschön. Dem kann auch ich mich nicht entziehen.
Bestsellerautor aus Zürich
Thomas Meyer wurde 1974 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters geboren. Erst Werbetexter und Journalist, avancierte Meyer 2012 mit «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» zu einem der bekanntesten und erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller.
Der Roman war ein Bestseller und wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Ebenfalls sehr erfolgreich war 2017 die Verfilmung, für die Meyer das Drehbuch schrieb. 2019 schloss Meyer mit dem Roman «Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin» an sein Debüt an. (lsch)
Pilotprojekt der Armee
Im Januar veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» eine Recherche zum Antisemitismus in der Armee. Darin erzählte ein jüdischer Rekrut unter anderem, wie Judenwitze zu seinem Alltag in der RS gehörten.
Als Reaktion auf die Recherche kündigte der Bund am Donnerstag ein Pilotprojekt an. In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) soll die Prävention in der Truppe verstärkt werden. Der SIG ist der Dachverband der Schweizer Jüdinnen und Juden.
(lsch)
Zum Buch
Thomas Meyer: Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein? Über den Antisemitismus im Alltag. Salis-Verlag, Zürich 2021. 128 S., ca. 24 Fr.