SOLTERPOLTER-PROZESS / Im Juli 2000 schossen zwei der drei Angeschuldigten mit Sturmgewehren auf das «Solterpolter»-Gebäude im Marzili. Wie und warum es zu diesem Gewaltexzess gekommen war, konnten die einstigen Skinheads dem Kreisgericht Bern-Laupen gestern nicht beantworten – sie machten Erinnerungslücken geltend.
* HEIDI GMÜR
An fast nichts mehr wollten sie sich erinnern können, für fast nichts hatten sie eine Erklärung – «ich weiss es nicht» oder «…nicht mehr» waren denn die häufigsten Antworten der drei Angeschuldigten auf die Fragen des Berner Kreisgerichts nach dem Warum und dem Wie. Schuld an den Erinnerungslücken sei der Alkohol, der geflossen sei an jenem Sonntagabend, am 9. Juli 2000. Damals, als die drei Jugendlichen aus dem Raum Bern im Restaurant Post in Burgdorf beschlossen hatten, den «Linken» einen Denkzettel zu verpassen, als sie sich darum spät in der Nacht in Ittigen das persönliche Sturmgewehr des ältesten Angeschuldigten holten, danach im Schiessstand Schliern-Platten ein Jungschützengewehr und Munition beschafften und ins Marziliquartier fuhren, wo die beiden Älteren um zirka 2.40 Uhr rund 110 Schüsse auf die linksalternative Wohngemeinschaft «Solterpolter» abfeuerten.
Proper gekleidet, unauffällig alles in allem, erschienen die drei – etwas pubertär anmutenden – Jugendlichen im Alter zwischen 20 und 23 Jahren am ersten Prozesstag im Amthaus Bern. Der Hauptanklagepunkt: versuchte vorsätzliche Tötung. Nur «grossem Zufall» ist es laut Anklage nämlich zu verdanken, dass keiner der damals anwesenden fünf Bewohner der alten Soltermann-Schlosserei im «Kugelhagel» getroffen worden ist. Als Motiv gaben die geständigen Angeschuldigten nach ihrer Festnahme «Abneigung gegen Linke» an – sie verkehrten in der rechtsextremen Szene, hatten damals laut eigenen Aussagen auch Glatzen, trugen Bomberjacken.
«Der Rest ist Filmriss»
Der älteste Angeschuldigte, ein heute 23-jähriger Velomechaniker aus Ittigen, Sohn eines Arztes, hatte zur Tatzeit eine Blutalkohlkonzentration von zirka 1,4 bis 2,3 Promille. «Sie waren ziemlich betrunken», konstatierte Gerichtspräsident Peter Reusser. «Ja, ich spürte den Alkohol schon», meinte der Ittiger. Reusser: «Aber Sie wussten noch, was sie machen?» Was er noch wisse, habe er gesagt, antwortete der 23-Jährige, «der Rest ist Filmriss». Wer denn damals die Idee zur Tat gehabt habe und warum, wollte Reusser wissen. «Ich habe keine Ahnung mehr, ich war betrunken», erklärte der Angeschuldigte. Und nach mehrmaligem Nachfragen und dem immer folgenden Verweis auf den Alkohol, meinte Reusser: «Nein, Sie können nicht einfach den Alkohol vorschieben.» Das wolle er auch nicht, so die Antwort, aber «ich weiss nicht mehr, was ich dachte». Schliesslich erklärte der 23-Jährige: «Ich hatte einen Depro-Suff.» Und er habe immer wieder Probleme mit Linken gehabt: «Die stauten sich auf, der Alkohol kam dazu.» Mit Problemen meine er Schlägereien und Anpöbeleien. Ja, es sei ihm klar, dass es immer zwei Seiten brauche. Nachdem Reusser festhielt, wie «wahnsinnig» diese Tat gewesen sei, sagte der Angeschuldigte: «Ja, es war absoluter Blödsinn.»
«Froh, ist nichts passiert»
Aber er habe sich in diesem Moment eben nichts überlegt, auch nicht, dass Leute im Gebäude sein könnten, dass die Kugeln ins Innere dringen könnten. Zudem habe er versucht, die Mauer zu treffen – was ihm scheinbar aber «nicht so gelungen» sei. «Ich war mir nicht bewusst, dass ich jemanden gefährden könnte.» Reusser: «Es geht nicht nur um Gefährdung, es war grosses Glück, dass niemand getroffen wurde. Sie hätten ein totales Blutbad anrichten können.» Der Angeschuldigte: «Ich bin ja auch froh, ist nichts passiert. Ich wollte niemanden töten.» Reusser:«Sie mussten es in Kauf nehmen.» Der Angeschuldigte: «Nein, ich habe mir nichts überlegt.» Nach seiner Verhaftung am 10. Juli habe er aber gesagt, er hätte auch geschossen, wenn das Risiko bestanden hätte, jemanden zu treffen, hielt Peter Reusser ihm vor. «Da war ich noch nicht einmal nüchtern», entgegnete der Ittiger. Zudem habe er eine «Stinkwut» gehabt, wie wohl jeder, der verhaftet werde.
Auch der heute 21-jährige Koch aus Bern, der zur Tatzeit die Unteroffiziersschule besucht hatte, konnte sich «nicht mehr erinnern», wer die Idee zum Anschlag auf «Solterpolter» hatte: «Sie war einfach plötzlich da.» Er bestätigte indessen, dass man zuerst die Reitschule im Visier hatte, dann aber davon absah, weil es dort Passanten und Verkehr hat. Und auch er beteuerte, dass sie den «Solterpolter»-Bewohnern nur einen Schrecken hätten einjagen wollen. Warum man dann nicht einfach in die Luft geschossen habe, wollte Staatsanwalt Hansjörg Jester wissen. Er bekam keine Antwort. Erinnern könnten sie sich auch nicht mehr daran, so die beiden Angeschuldigten, dass am Tattag jemand gesagt haben soll: «Wir können sie ja gleich umlegen statt nur zu verklopfen.» Eine Aussage, die laut Jester vom jüngsten Angeschuldigten stammt. Der 20-jährige Jungschütze, der eines der Gewehre und Munition beschafft und die anderen zum Tatort gefahren hatte, wird heute einvernommen.
Erste Kontakte im Stadion
Befragt wurden die Angeschuldigten gestern auch zu ihren Beziehungen zur rechtsextremen Szene. Sie seien «reingerutscht», gaben sie an; erste Kontakte hätten sie an SCB- und YB-Spielen geknüpft. «Es hat sich einfach so ergeben, es gab Probleme mit Ausländern und Punks», sagte etwa der 23-jährige Ittiger, der in der Schule Schwierigkeiten aufgrund einer schweren Legasthenie hatte. «Ich war schon ein Skin, aber nicht politisch, eher aus Spass. Es ging auch ums Provozieren.» Wo dies hinführe, wisse er jetzt. Mit dem Gedankengut der Neonazis habe er sich damals kaum auseinander gesetzt. So auch der Koch, der angab: «Ich wollte immer arbeiten und regte mich auf über jene, die den ganzen Tag nichts taten.» Alle drei beteuerten schliesslich, sich komplett vom Rechtsextremismus distanziert zu haben.