Limmattaler Zeitung: Baden · Die Auswanderung nach Israel ist zwar kein Thema, aber wohl fühlen sich hier nicht mehr alle
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat die Juden in Europa nach den Terroranschlägen auf einen koscheren Supermarkt in Paris und eine Synagoge in Kopenhagen zur Auswanderung nach Israel aufgefordert. «Juden wurden auf europäischem Boden ermordet, nur, weil sie Juden waren. Es ist zu erwarten, dass sich diese Angriffswelle ebenso wie mörderische antisemitische Attacken fortsetzen.» Er wende sich an die Juden in Europa: «Israel ist eure Heimstätte.»
Was halten Jüdinnen und Juden aus der Region des Badener Tagblatts von diesem Aufruf? Diese Gegend steht in einer besonderen Beziehung zum Judentum, waren doch Endingen und Lengnau ab 1776 für rund hundert Jahre die einzigen Orte in der Schweiz, in denen sich Juden niederlassen durften.
Jules Bloch (67), Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Endingen: «Die Israeli können dankbar sein, dass viele Juden in Europa leben und sie von hier aus finanziell und moralisch unterstützen.» Die Situation der Juden in Europa und auch in der Schweiz sei derzeit aber tatsächlich schwierig. «Es gibt auch in der Schweiz verrückte Antisemiten. Wer weiss schon, zu was allem sie fähig sind.» Problematisch seien auch die vielen antisemitschen Vorfälle, die oft passierten und es nicht bis in die Medien schafften. Dies alles sind aber für Bloch keine Gründe, um die Schweiz zu verlassen: «Hier sind wir geboren und aufgewachsen, hier ist unsere Heimat. Unsere Aufgabe ist es nicht auszuwandern, sondern die Leute hier aufzuklären und daran zu erinnern, was vor 70 Jahren im Krieg passiert ist.» Denn die Verleugnung des Holocausts, des Völkermords der Nazis an 6,3 Millionen Juden, sei unerträglich.
«Fühle mich nicht ganz so sicher»
Käthi Frenkel (69) aus Lengnau, Präsidentin der christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft Aargau, sagt: «Ich fühle mich ehrlich gesagt nicht mehr ganz so sicher. Vor einigen Tagen habe ich mich gefragt: Gäbe es noch Solidarität mit uns Juden wie damals im Zweiten Weltkrieg, gäbe es Menschen hier in der Region, die uns im Extremfall bei sich aufnehmen und uns Schutz bieten würden, falls das nötig wäre? Zum Glück haben einige Freunde sofort Ja gesagt.»
Der Aufruf von Netanjahu berühre sie persönlich zwar nicht, und in Israel, das von Feinden umgeben sei, wäre die Bedrohung nicht kleiner als hier. «Die Schweiz zu verlassen, käme für mich im Moment nicht infrage, ich hätte sofort Heimweh.»
Zu wenige Menschen realisierten, dass der Antisemitismus derzeit grassiere, auch hier in der Region müsste das Bewusstsein geschärft werden, findet Frenkel. Leer geschluckt habe sie, als Fussballfans des FC Luzern einen symbolisch als orthodoxen Juden verkleideten Kollegen mit St.-Gallen-Schal durch die Strassen der Stadt trieben. «Auch wenn diese Aktion nur als Jux gedacht war und die Beteiligten nicht wussten, was sie taten, irritiert sie mich doch sehr.» Und sonderbar sei, dass Juden von Terroristen derzeit sozusagen im Schlepptau ermordet würden. «In Paris wurden erst Karikaturisten getötet, die Mohammed verhöhnt hatten – dieselbe Gruppe tötete dann auch noch Juden in einem koscheren Supermarkt. Warum eigentlich»? Dasselbe in Kopenhagen: Erst ein Anschlag auf einen Mohammed-Karikaturisten – und dann auf eine Synagoge. «Es ist schwierig, zu verstehen, woher der Hass kommt.»
«Badener Tagblatt»-Kolumnist Amy Bollag (90), in Baden geborener Künstler und Schriftsteller, begegnet den aktuellen antisemitischen Attacken mit betonter Unerschrockenheit. «Hören Sie, es beunruhigt mich persönlich wirklich nicht, was derzeit passiert. Das Gefühl der Angst ist mir fremd, das war zu allen Zeiten so, in denen der Antisemitismus leider grassierte. Hinzu kommt, dass meine Familie seit vierhundert Jahren in der Schweiz lebt, ich bin äusserst schweizerisch, und als eine der wichtigsten Eigenarten der Schweizer empfinde ich die innere Ruhe, die auch mir zu eigen geworden ist.» Seine Heimat zu verlassen, kam für Amy Bollag zeitlebens nie infrage. 1952 beispielsweise hätte sich ihm die Gelegenheit geboten, nach Amerika auszuwandern. «Bei einem der besten Grafiker hätte ich eine Stelle antreten können, aber ich lehnte ab. Schon oft war ich zu Gast in Israel, aber als in der Schweiz verwurzelter Mensch ist meine Heimat hier.»
Mitte Woche äusserte sich auch Innenminister Alain Berset zum Thema: Er betonte, dass die Juden zur Schweizer Gesellschaft gehörten und hier zu Hause seien, ihre Sicherheit müsse gewährleistet sein. Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) nahm diese Aussage erfreut zur Kenntnis: «Zum ersten Mal wird ausdrücklich gesagt, dass der Bundesrat die Antisemitismus-Situation ernst nimmt und dass er nach den Ereignissen von Paris und Kopenhagen auch die Sicherheitsbedürfnisse der jüdischen Gemeinschaft ernst nimmt.» Winter hofft, dass bald der ganze Bundesrat in einer offiziellen Erklärung zum Thema Antisemitismus Stellung nimmt. Ausserdem fordert er von den Behörden, dass sie überprüfen, ob die Sicherheitsmassnahmen für jüdische Einrichtungen angepasst werden müssen.