Tages-Anzeiger. Eine neue Studie geht von «nur» 4000 jüdischen Flüchtlingen aus, die während des Zweiten Weltkriegs an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden. Damit widerspricht sie bisherigen Erkenntnissen.
Andreas Tobler
Seit vergangenem Samstag hat sich die Schweizer Geschichtsschreibung mal wieder in einen politischen Kampfplatz verwandelt: An der Universität Genf wurde eine Dissertation verteidigt, in der es um die Juden geht, die während des Zweiten Weltkriegs an die Schweizer Grenze gelangt waren, dort eingelassen oder abgewiesen wurden. Gemäss der neuen Studie waren es maximal 4000 jüdische Flüchtlinge, die von den Schweizern ausgeschafft oder zurückgewiesen wurden. Im kollektiven Gedächtnis hat sich aber die weit höhere Zahl von 24 500 zurückgewiesenen Emigranten eingeprägt, die sich auch im Bergier-Bericht findet, mit dem die Flüchtlingspolitik der Schweiz von unabhängigen Historikern untersucht wurde.
Gegenstand der Debatte ist nun wie zu erwarten die Differenz zwischen den Zahlen, die auf den ersten Blick verblüffen muss und die von der politischen Rechten sofort in ein revisionistisches Argument und eine Polemik verwandelt wurde – gegen die Historiker des Bergier-Berichts, die es bei der Aufarbeitung der Geschichte nur auf die moralische Selbstüberhebung abgesehen gehabt hätten, wie die «Weltwoche» in ihrer jüngsten Ausgabe schreibt.
Worum geht es aber wirklich in dieser neuen Studie, die scheinbar alle bisherigen Forschungsarbeiten umstösst? Die Historikerin Ruth Fivaz-Silbermann, selbst Kind jüdischer Emigranten, die im März 1939 in die Schweiz gelangt waren, hat nach über 20-jähriger Forschungsarbeit in Archiven ihre Dissertation vorgelegt und erfolgreich vor Experten verteidigt. In ihrer Studie zeichnet Fivaz sehr detailliert die Herkunft der Flüchtlinge, ihre Wege und Aufenthalte nach, bis sie in der Schweiz ankamen, hier bleiben durften – oder eben zurückgewiesen wurden. «Auch von Reaktionen der Behörden in Frankreich sowie den Schleppern und was diese gekostet haben, erfährt man sehr viel», sagt der Historiker Hans Ulrich Jost. Er war in der Expertenkommission, die über die Annahme der Arbeit zu entscheiden hatte, und übte im Gespräch mit dieser Zeitung sehr scharfe Kritik an den Methoden von Ruth Fivaz.
Der statistische Teil zu den abgewiesenen jüdischen Flüchtlingen, der nun zum Gegenstand heftiger Diskussionen wird, umfasst in der Studie von Fivaz lediglich knapp 30 Seiten. Er ist also nur ein Aspekt neben vielen anderen, die in dieser umfangreichen Arbeit erforscht und dokumentiert wurden. Und doch steht dieses schmale Kapitel nun im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil die Schere zwischen den Zahlen so gross zu sein scheint.
Die Sache mit den Zahlen
Die Diskrepanz zwischen Fivaz’ Studie und dem Bergier-Bericht kann aber ziemlich rasch geklärt werden: Die unabhängige Expertenkommission geht in Bezug auf die abgewiesenen
jüdischen Flüchtlinge von einer Studie des Historikers Guido Koller aus, der die gesamten Flüchtlingsakten des Bundes inventarisiert und ausgewertet hat: Koller kommt auf rund 24 500 Flüchtlinge, die während der Zeit des Zweiten Weltkriegs an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden. Wie viele Juden sich darunter befanden, konnte Koller nicht ermitteln, da es hierzu im Bundesarchiv keine genauen Angaben gibt. Der Bergier-Bericht, der sich auf Kollers Studie bezieht, ist daher sehr vorsichtig, wenn es um die Frage nach der genauen Zahl der abgewiesenen Juden geht. Das räumt auch Ruth Fivaz ein. «Die Sache mit den Zahlen ist ein absurder Streit», sagte die Historikerin im Interview mit dem TA.
Fivaz selbst hat für ihre Studie einen anderen Ansatz als Koller gewählt: Sie hat in zahlreichen Archiven in der Westschweiz und in Frankreich gearbeitet, Einzelschicksale erforscht und kommt so für die Situation an der Westgrenze auf eine Zahl, die sich zwischen 2030 und 2454 abgewiesenen Juden bewegt. Genau festzulegen ist die Zahl deshalb nicht, weil einige Flüchtlinge mehrere Einreiseversuche unternommen haben könnten.
Für ihre Forschungen zur Situation an der Westgrenze erhielt Fivaz stets grosse Anerkennung. Kritisiert werden hingegen ihre Hochrechnungen, was die Situation an der Grenze zu Österreich und Deutschland betrifft. Hier verfügt man bis heute über keine genauen Zahlen. Umstritten sind auch die Angaben zum Tessin: Für die Südgrenze verweist Fivaz auf eine unveröffentlichte Studie des Tessiner Staatsarchivs, die in Fachkreisen seit längerem bekannt ist. Sie geht für den Zweiten Weltkrieg von gut 6000 jüdischen Flüchtlingen aus, die über die Grenze in die Schweiz gelangten. Davon seien nur rund 300 abgewiesen worden.
Bei der Zahl von 6000 Juden handelt es sich aber um Flüchtlinge, die bereits im Tessin aufgenommen wurden, die also über die Grenze gelangt waren und von denen 300 schliesslich wieder zurückgeschafft wurden. Bekannt ist aber auch noch eine zweite Zahl von rund 10 000 abgewiesenen Flüchtlingen. Diese wurden bereits an der Tessiner Grenze zurückgewiesen, konnten also noch nicht einmal einreisen. Deshalb tauchen sie in den Akten des Territorialkommandos nicht auf, auf die sich die Studie stützt, die Ruth Fivaz als massgeblich anführt.
Fivaz wird nun der Vorwurf gemacht, sie habe diese zweite Zahl von 10 000 abgewiesenen Flüchtlingen ignoriert, die man bereits in der Studie von Koller aus dem Jahr 1996 findet. Die Autorin selbst bestreitet dies: Koller selbst habe darauf hingewiesen, dass unter den an der Grenze abgewiesenen Flüchtlingen lediglich einige wenige Juden waren. Der überwiegende Rest seien Zivilisten gewesen, die aus Angst vor den Deutschen in die Schweiz kommen wollten. «Zudem gab es ziemlich viele ehemalige italienische Soldaten, die sich ihrer Uniformen entledigten, um als Zivilpersonen in die Schweiz einreisen zu können», sagte die Historikerin im Gespräch mit dem TA.
Die Rolle Heinrich Rothmunds
Der Umgang mit den Zahlen zur Grenze zu Italien, Deutschland und Österreich ist nicht der einzige strittige Punkt. Stark kritisiert wird auch Fivaz’ Bewertung von Heinrich Rothmund, der als Leiter der Eidgenössischen Fremdenpolizei massgeblich für die Durchsetzung der restriktiven Flüchtlingspolitik verantwortlich war. So etwa für die Weisung vom 26. September 1942, derzufolge «aus Rassegründen» verfolgte Personen nicht als politische Flüchtlinge anzuerkennen seien, also an der Grenze abgewiesen werden sollten. Ruth Fivaz argumentiert, dass Rothmund «unter dem Tisch» wiederholt Weisungen gegeben habe, möglichst viele Juden einzulassen. Und dass Rothmund kein Antisemit gewesen sei.
Damit widerspricht Fivaz diametral der Bergier-Kommission, die Rothmund «klar als antisemitisch» charakterisiert hat. Der Bergier-Bericht habe zugleich sehr deutlich davor gewarnt, hochrangige Beamte wie Rothmund «zu stark ins Zentrum» zu rücken, erklärt Jakob Tanner von der Bergier-Kommission auf Anfrage hin.
Das Bild der «Zone grise», von der Primo Levi sprach und die auch für Ruth Fivaz die Metapher bei ihrer Arbeit war, sei bereits im Bergier-Bericht «omnipräsent», fügt der Historiker hinzu. Er bedauert es denn auch, «dass die empirisch dichte, zu vielen spannenden Ergebnissen gelangende Dissertation» von Fivaz «durch unfundierte Aussagen» gegen die Bergier-Kommission und viele andere Forscher sich selbst infrage stellt und durch eine «unnötige Politisierung» einer Polemik zuarbeitet, «die erneut von rechts entfacht wird».