Badener Tagblatt.
Zum internationalen Gedenktag an Holocaustopfer hat die Stiftung der Badenerin Anita Winter eine virtuelle Ausstellung erschaffen.
Der Zweite Weltkrieg gehört heute fest zum obligatorischen Schulstoff. Bereits Kinder werden darauf sensibilisiert, welches Ausmass Hass annehmen kann. Alle kennen mittlerweile die grauenvollen Geschichten aus den Konzentrationslagern, aus den Deportationszügen, aus den Gaskammern. Über den Genozid gibt es Tausende Filme und noch mehr Bücher, geschrieben von Verwandten, Freunden, Beteiligten – aber vor allem von Überlebenden.
Zwar fehlt vielen von ihnen die Kraft, das Erlebte zu erzählen. Doch denjenigen, die darüber sprechen können und wollen, bietet Anita Winter eine Plattform. Damit ihre Geschichte weitergetragen wird, damit sie für zukünftige Generationen festgehalten wird, damit sie nie vergessen geht.
Winter stammt ursprünglich aus Baden, lebt jetzt in Zürich und ist Tochter zweier Holocaust-Flüchtlinge. Ihre Mutter sprang als Kind aus einem Deportationszug und musste ihr Leben lang den Blick abwenden, wenn am Bahnhof Baden Güterzüge vorbeifuhren. Ihr Vater versteckte sich während der Reichskristallnacht in Berlin hinter einem Schrank, bevor er nach Baden fliehen konnte. Wie Winter erzählt, habe er sogar kurz vor seinem Tod noch die Angst gehabt, dass gewaltsamer Antisemitismus wieder aufleben könnte. «Solche Erlebnisse hinterlassen Spuren», sagt sie. «Und diese Spuren haben wiederum mich geprägt.»
Pandemie erschwert die wichtige Aufklärungsarbeit
Weil sie die Erzählungen der Opfer derart berührt haben, hat Winter 2014 die Stiftung Gamaraal mit Sitz in Zürich ins Leben gerufen, die sich für Holocaustüberlebende einsetzt – denn viele von ihnen leben heute in schwierigen Verhältnissen. So bietet die Stiftung bedürftigen Holocaustopfern unter anderem finanzielle Unterstützung an, finanziert durch Spenden und weitere Hilfsleistungen, und leistet wichtige Aufklärungsarbeit, etwa an Schulen oder an Universitäten. Doch gerade diese Aufklärungsarbeit ist in Zeiten der Pandemie schwieriger geworden.
Viele Vorträge, Ausstellungen und Diskussionen mussten wegen der strengen Massnahmen abgesagt werden. So auch die geplante Ausstellung anlässlich des 77. Jahrestags der Auschwitz-Befreiung an grossen Schweizer Bahnhöfen – unter anderem auch in Baden. Gestartet wäre die Ausstellung in Bern am 27. Januar, am internationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust.
Dass die Aufklärungsarbeit unter der Pandemie leidet, bereitet Winter Sorgen. Spricht man nicht mehr über den Horror des Genozids, gerät er in Vergessenheit – so die Angst der Überlebenden. Dabei seien wir gerade jetzt an einem sensiblen Punkt angelangt. Denn die Zeitzeugen werden immer weniger. In der Schweiz leben schätzungsweise noch knapp 400 Überlebende. Diejenigen, welche die Grausamkeit der Nationalsozialisten erlebt und überlebt haben, haben mittlerweile ein hohes Alter erreicht. Viele, die am eigenen Leib erfahren haben, zu was Rassismus und Antisemitismus führen kann, sind bereits verstorben. Ihre Geschichten wird niemals jemand anderes erzählen können.
Ausstellung im virtuellen Raum als Alternative
«Deshalb ist jedes Jahr, in dem wir die Geschichten der Überlebenden nicht weitertragen können, ein verpasstes Jahr», sagt Winter. Um das Erlebte trotz der Einschränkungen durch die Pandemie für die Nachwelt festzuhalten, hat sich die Stiftung der Badenerin etwas Besonderes überlegt: Sie hat eine Online-Ausstellung geschaffen.
Die Ausstellung ist auf der Website der Stiftung aufgeschaltet. Wer sie öffnet, findet sich in einem virtuellen Raum wieder, in dem man sich mit Hilfe der Pfeiltasten orientieren kann. An den Wänden hängen Schwarz-Weiss-Porträts der Überlebenden mit Kurzinformationen in Englisch. Klickt man auf die entsprechenden Bilder, öffnen sich weiterführende Links zu Videos der Zeugenaussagen. So etwa dasjenige von Ladislaus Löb. Er hat seine Geschichte im Buch «Geschäfte mit dem Teufel» niedergeschrieben. Es handelt vom Juden Reszö Kaszter, der mit den Nazis ein Geschäft ausgehandelt und damit Hunderte vor dem Tod gerettet hatte – darunter auch den damals elfjährigen Löb.
Auch Bronislaw Erlich hat seine Geschichte in einem Buch festgehalten. Er überlebte den Holocaust dank einer gefälschten Geburtsurkunde, die ihn vor der Deportation in ein Konzentrationslager bewahrt hatte. Erlich, gezeichnet vom Alter, gesteht im Video, dass ihn noch immer schlaflose Nächte plagen, und sagt: «Oberflächliche Wunden kann man heilen, seelische Wunden nicht.» Er wie auch jeder andere Holocaustüberlebende müsse mit diesen Wunden leben.
Es sind solche Videos und solche Geschichten, die Anita Winter erhalten will – selbst dann noch, wenn diejenigen, die sie erzählen, nicht mehr unter uns weilen werden. Und dafür habe die Online-Ausstellung ganz neue Möglichkeiten eröffnet. «Es ist unsere Pflicht, die nächsten Generationen aufzuklären», sagt sie. Denn das Gedenken an den Holocaust sei gleichzeitig eine Warnung. «Was passiert ist, darf niemals wieder passieren», sagt Winter. Ein Wort wiederholt sie mit Nachdruck: «Niemals.»