«Fühlt ihr euch nicht schuldig?»
Skinheads Che-Guevara-Poster und lange Haare nehmen Eltern mit einem Lächeln hin. Was aber, wenn der Sohn plötzlich Stiefel und Glatze trägt. Ein Elternpaar erzählt.
Nicolas Gattlen
Um sechs Uhr früh klingelt es an der Tür von Familie D.* Fünf Polizisten stehen vor dem Haus, mit Hausdurchsuchungs- und Haftbefehl. Die Beamten treten in die Wohnung ein, wühlen in Schubladen, packen Gegenstände ein, beschlagnahmen Dokumente und Festplatten. Über ihre Gründe schweigen sie sich aus. Als Familienvater Armin D. nachfragt, wird ihm entgegnet: «Wir stellen hier die Fragen!» Nach einer Stunde wird der 18-jährige Sohn Lars in Handschellen abgeführt.
«wie ein Orkan kam das über uns», erzählt Armin D. «Wir blieben wie benommen zurück, mit vielen unbeantworteten Fragen, unfähig, in die Normalität des Alltags zurückzukehren.» Später zeigt Armin D. Verständnis für das Vorgehen der Polizei: «Die Absicht, die hinter solch einem Einsatz steht, ist nachvollziehbar. Der Jugendliche soll so abgeschreckt werden, dass er künftig weitere Delikte unterlässt und sich vielleicht sogar von der rechten Szene distanziert.» Leider trat bei Lars die gegenteilige Entwicklung ein. Seine Ansichten wurden noch radikaler, die Einbindung in die Skinhead-Gruppe noch stärker.
Mit 14 erzählt Lars zu Hause von einer Schlägerei auf dem Pausenhof, ein Schulkollege wird von Ausländern verprügelt. Lars sehnt sich nach einer «starken Hand», weiss von «Skins, die sich wehren und nicht bloss zuschauen». Durch die erste grosse Liebe findet er vorübergehend Anschluss in einer christlichen Jugendgruppe. Als diese Freundschaft auseinander bricht, reisst gleichzeitig die Beziehung zu Gott und den damaligen Freunden ab. «Heute redet er nur noch abschätzig über Kirchen. Er nennt sie heuchlerische Vereine», erzählt Mutter Maja, die sich in der Reformierten Kirche einer kleinen Gemeinde in der Nordwestschweiz engagiert. Die andere Backe hinhalten, nachdem die eine geschlagen worden ist, das komme für ihn nicht mehr infrage. Nie mehr.
Als sich Lars bald darauf die Arbeitsschuhe schwarz wichst und eine Bomberjacke zulegen will, kommt es zum Streit mit den Eltern. Doch hindert ihn das nicht, sich bald darauf eine solche Jacke zu erwerben. Und die entsprechenden Stiefel. Auch beginnt er mit Nazi-Phrasen um sich zu dreschen, schimpft zu Hause über Juden und die «Auschwitz-Lüge».
Die Eltern versuchen die neuen Ideen ihres «Juniors» mit Gelassenheit zu nehmen. Sie sagen sich: «Jetzt verkleidet er sich wieder.» Auch die ersten Hausbesuche von Kollegen in voller Montur versetzen sie nicht in helle Aufregung: «Wir hatten an unserem Küchentisch viele gute Gespräche. Diese Buben haben wahnsinnig sensible Seiten. Einer freundete sich im Nu mit unserer Katze an und streichelte sie oft minutenlang. Dass dieselben Hände so brutal zuschlagen können, kann man sich kaum vorstellen.»
Doch das tun sie. Immer wieder und immer dreister. An Dorf- und Sommernachtsfesten, in Bahnhöfen und in Zügen. Ein falscher Blick, ein falsches Wort genügt. «Als uns Lars von Schlägereien zu erzählen begann, blockten wir ab», sagt Maja D. «Wir wollten es nicht mal wissen, hätten uns nur mitschuldig gefühlt.» Bis es zu einer ersten Einvernahme bei der Polizei kam. Und die Eltern nicht mehr wussten, wie es weitergehen soll. Den Sohn aus dem Haus werfen? Ihn fremdplatzieren? Das stand nie zur Debatte. Lars sollte zu Hause bleiben, bis er seine Lehre abgeschlossen hat und auf eigenen Beinen stehen kann.
Diesen Entschluss teilen die Experten: «Jugendliche Rechtsextreme sollten nicht aus der Familie oder der Gesellschaft ausgeschlossen werden», rät Samuel Althof, Leiter der Aktion Kinder des Holocaust. Damit würde man sie in ihrer Grundhaltung, die meistens auf Ausgrenzung basiere, bestätigen.» Auch Soziologieprofessor Ueli Mäder, Verfasser einer Nationalfondstudie über die «Ausstiegsmotivation unter Berücksichtigung der familiären Sozialisation und der Gleichaltrigenbeziehung» (Publikation Herbst 2006), empfiehlt den besorgten Eltern eine «ernsthafte Gelassenheit». «Wer sich mit den Kindern auseinander setzt, kann etwas erreichen. Wichtig ist auch die Hilfe von Fachleuten.»
Genau hier hapert es in der Schweiz, während beispielsweise Deutschland über ein engmaschiges Beratungsnetz verfügt. Armin und Maja D. fanden erst nach langer Suche zu Dieter Bongers, Leiter der Anlaufstelle «Rechtsextremismus» beider Basel. Der riet ihnen, ihre Energie nicht in Kleider- oder Musikstreitereien zu verschwenden, sondern ihrem Sohn klar zu machen, wo die Grenze zur Illegalität beginnt.
Armin und Maja D. schlossen sich einer Selbsthilfegruppe an und fanden so allmählich aus dem «abgrundtiefen Loch», in das auch ihre 17-jährige Tochter gefallen ist. «Lea hatte psychosomatische Störungen. Sie konnte während Monaten nicht mehr richtig schlafen», erzählt Armin D. «Und wir konnten ihr kaum helfen, weil jeder nur noch mit sich selbst beschäftigt war.» Der Vater, Angestellter im öffentlichen Dienst, nahm sich eine mehrwöchige Auszeit.
«Schlimm war das Gerede im Dorf», sagt Maja D. Einige fragten: «Fühlt ihr euch denn nicht schuldig?» Andere wichen aus. Oder kamen der Mutter mit «Ratschlägen für eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung». Was für ein Hohn!
Die meisten Freunde haben sich von Lars abgewandt. Dafür kümmern sich jetzt andere um den kräftigen jungen Mann. Als er aus der einwöchigen U-Haft entlassen wird, blinkt sein Handy ununterbrochen. Die Kameraden gratulieren ihm, stilisieren ihn zum Märtyrer.
In diesem Frühjahr hat Lars seine Lehre abgeschlossen und ist eine neue Beziehung eingegangen, «mit einer patriotisch eingestellten jungen Frau ausserhalb der Szene», wie seine Mutter sagt. Sie hofft, dass ihr Sohn durch diese neue Freundschaft sein bisheriges Leben überdenkt und neue Perspektiven gewinnt. Vielleicht finde er auch in der RS zur Vernunft. Doch im Gespräch mit den Eltern will Lars davon nichts wissen. Den Eltern bleibt nur die Hoffnung. Und die Gewissheit, dass das Erwachsenwerden schon mancher Glatze zu neuem Haarwuchs verhalf.
*Name der Redaktion bekannt
Die Eltern geben sich gelassen. Sie scherzen: «Jetzt verkleidet er sich wieder»
«Wir funktionieren wie ein Beichtstuhl»
Herr Bongers, weshalb ist der Ausstieg aus der Neonazi-Szene so schwierig?
Dieter Bongers: Weil die Loyalität mit den anderen Gruppenmitgliedern ein riesiges Gewicht hat. Es ist wie bei frisch Verliebten. Sich zu entlieben, ist wahnsinnig schwierig und mit Entzugserscheinungen verbunden.
Müssen Eltern und Lehrer diese «braune Liebe» möglichst früh unterbinden?
Bongers: Ich plädiere dafür, den Jugendlichen klar zu machen, was legal und was nicht legal ist, aber nicht überzureagieren, also nicht gleich beim ersten Hakenkreuz eine Elternkonferenz einzuschalten. Das fördert nur den Trotz und schürt den Generationenkonflikt, auf dem die meisten mir bekannten Fälle gründen.
Zyniker meinen: Das Alter wirds schon richten.
Bongers: Tatsächlich hilft das Majoring-out, das Erwachsenwerden. Doch darf man Unrechtsmässiges nicht einfach geschehen lassen.
Sie betreuen die Familie D. auf Ihrer Anlaufstelle «Rechtsextremismus beider Basel», obschon sie nicht in Basel wohnt. Müsste dafür nicht der Wohnkanton aufkommen?
Bongers: Noch ist unsere Anlaufstelle die einzige dieser Art in der Schweiz und wir wollen nicht kleinlich sein. Doch es wäre sicher sinnvoll, wenn andere Kantone selber aktiv würden.
Was ist der Vorteil einer kantonalen Anlauf- und Beratungsstelle?
Bongers: Dass sie, obschon staatlich getragen, unabhängig ist. In anderen Kantonen wird man an den Staatsschutz weitergeleitet, der zugleich für die Repression zuständig ist. Kein guter Ort, um Geheimnisse auszuplaudern. Eine unabhängige Anlaufstelle hingegen funktioniert wie ein Beichtstuhl. (nig)
Dieter Bongers führt seit Juli 2003 die Anlauf- und Beratungsstelle für Rechtsextremismus beider Basel. Die Anlaufstelle hat zur Aufgabe, Jugendlichen, die die rechtsextreme Szene verlassen wollen, als Ausstiegshilfe zu dienen. Sie steht ebenfalls Eltern und Lehrpersonen zur Verfügung.