SonntagsZeitung. Charles Lewinsky über sein neues Buch, seine Angst vor den Rechtspopulisten, eine Kindheit in Armut und warum Jeremias Gotthelf für ihn aktueller denn je ist.
Es gibt kaum ein Genre, das Charles Lewinsky nicht schon erprobt hat. Jetzt hat der 71-jährige Bestsellerautor seinen ersten Krimi geschrieben. «Der Wille des Volkes» spielt in einer Schweiz, die es «hoffentlich nie geben wird», wie Lewinsky auf seiner Website schreibt. Eine Schweiz, in der die Rechtspopulisten die alleinige Macht haben, freiwillige Hilfspolizisten für Ordnung sorgen und ein pensionierter Journalist auf der Spur eines politischen Komplotts Gefahr läuft, beseitigt zu werden. Das Buch erscheint am 21. August.
Herr Lewinsky, was haben Sie gegen junge Leute?
Sie fangen jetzt aber nicht mit der Verwechslung zwischen Figur und Autor an?
Das haben wir nicht vor.
Ich hatte mal eine Podiumsdiskussion, das war, nachdem mein Roman «Johannistag» erschienen war. Der Moderator fragte mich: «Die Hauptfigur Ihres Romans ist pädophil. Sind Sie das?» Darum: Was haben Sie gegen junge Leute? Ich nichts. Er schon.
Er heisst Weilemann und ist die Hauptfigur in Ihrem neuen Buch. Ein Journalist in Rente, der sich über die jungen Schnösel auf den Redaktionen nervt und nur noch angerufen wird, um Nachrufe zu schreiben.
Er ist die Figur des «Stänkeri». Weil er nicht mehr gefragt ist, hat er das Gefühl, alle Jungen seien dumm.
Passiert Ihnen das auch, dass Sie denken: Früher war einiges besser?
Nein. Das Einzige, was sich mit dem Alter verändert, ist die Ungeduld gegenüber Blödheit. Sie wird grösser.
Mit «Der Wille des Volkes» haben Sie einen Krimi geschrieben. Was hat Sie an diesem Genre gereizt?
Ich bemühe mich, aber aus reinem Egoismus, nie zweimal das gleiche Buch zu schreiben. Ich musste im Fernsehen genug Serien texten, wo man eigentlich immer das Gleiche nochmals schreibt. Ich probiere gerne neue Formen aus. Einen Krimi hatte ich noch nie geschrieben. Und ich hatte einfach eine Geschichte im Kopf. Der Ansatz war diese Vision, was mit der Schweiz passieren würde, wenn sie nur noch von einer Partei regiert würde.
Im Buch sind das die Eidgenössischen Demokraten. Sie manipulieren und überwachen die Gesellschaft nach Belieben. Sehen Sie in der Schweiz Tendenzen, die in diese Richtung gehen?
Sie können schon heute die Leute so überwachen, wie es im Buch steht. Unser Land funktioniert, weil es eine Hemmung gibt, das zu machen. Aber möglich wäre es. Mir wird immer etwas unheimlich, wenn jemand den Absolutheitsanspruch hat. Es gibt so Formulierungen, die bei mir alle roten Lämpchen aufleuchten lassen. Die «ist… zu»-Konstruktion. «Dieses Gesetz ist abzuschaffen», zum Beispiel. Das findet man häufig in der «Weltwoche». Ich frage mich dann immer: Woher weiss der das?
Sie beschreiben im Buch ein Wahlplakat, auf dem Aasgeier die Schweiz bedrohen. Eine klare Anspielung auf die SVP.
Wie kommen Sie darauf? Nein. SVP? In meinem Buch sind es die Eidgenössischen Demokraten.
Wie viel SVP steckt in diesem Buch?
Ähnlichkeiten mit lebenden Figuren sind wohlverdient.
Die SVP ist die grösste Partei der Schweiz. Hat sie die besseren Themen als die SP, bei der Sie Mitglied sind?
Die SP hat ein Problem, mit dem nie jemand gerechnet hat: Sie hat alles erreicht, für das sie einmal angetreten ist. Wo ist das Elend aus der «Internationalen», aus dem wir uns befreien sollen? Wir haben keines. Wir haben Probleme, wir haben Leute, denen es nicht gut geht. Aber Elend? Das, wofür die Linken mal gekämpft haben, ist erreicht. Und sie haben das neue Ziel noch nicht gefunden.
Macht Ihnen der Rechtspopulismus Angst?
Ja, weil er so gut funktioniert. Der Aufbau eines Gegners, ob es ihn gibt oder nicht, war schon immer eine wirksame politische Waffe. Der Antisemitismus ist immer dort am stärksten verbreitet, wo es keine Juden gibt. Der Aufbau eines Gegners hilft, die Leute zusammenzuhalten. Das hat in der Geschichte schon immer funktioniert. Das macht mir Angst. Wobei es in der Schweiz noch heilig ist.
Aber auch in Zürich müssen Synagogen beschützt werden.
Ich finde es eine Riesensauerei, dass der Bundesrat gesagt hat, die Juden müssten für ihre Sicherheit selber sorgen und dazu einen Fonds einrichten. Damit insinuiert er, alle Juden seien reich. Es ist Aufgabe des Staates, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen, egal, welcher Religion sie angehören. Nach einem Vorstoss im Parlament will er jetzt wenigstens über das Problem nachdenken.
Wie stark beschäftigt Sie der islamistische Terror?
Ich versuche, ein einigermassen logischer Mensch zu sein. Ich weiss, dass meine Chance, vom Blitz getroffen zu werden, statistisch grösser ist als Opfer eines Attentats zu werden. Aber es gibt ganz praktische Auswirkungen. Ich bin jedes Jahr Mitveranstalter beim Tag des jüdischen Buches. Er findet im Kulturhaus Helferei des Grossmünsters statt und nicht im jüdischen Gemeindehaus. Dort würde man die Leute gar nicht in nützlicher Zeit durch die Sicherheitskontrollen bringen.
Sie haben einen zweiten Wohnsitz in Frankreich. Wie nehmen Sie dort die politische Stimmung wahr?
Ich lebe leider in einem Dorf, in dem der Front National extrem stark ist. Ich kann das auch verstehen. Dieses Dorf ist vom Staat völlig abgehängt. Da gibt es praktisch keinen öffentlichen Verkehr, keine öffentlichen Einrichtungen, die funktionieren. Das hat teilweise absurde Züge: Einmal funktionierte weder Telefon noch Internet. Jemand kam mit einem grossen Lastwagen und zog die Kupferkabel aus dem Boden, um das Kupfer zu verkaufen. Niemand schritt ein. Die Leute sagen sich: «Von uns will niemand mehr etwas wissen. Wieso sollen wir da politisch korrekt wählen?»
Haben Sie in Ihrem Bekanntenkreis Le-Pen-Wähler?
Klar, sonst könnte ich ja im Dorf mit niemandem reden.
Warum haben Sie Frankreich als zweite Heimat gewählt?
Wenn ich mir das Haus, das ich in Frankreich habe, am Thunsersee leisten könnte, würde ich sofort umziehen. Aber dafür müsste ich Millionär sein.
Gab es in Ihrem Leben Armut?
Ich bin arm aufgewachsen. Meine Mutter war alleinerziehend, was in den 50er-Jahren noch sehr aussergewöhnlich war. Sie versuchte verzweifelt, genug zu verdienen, um ihre Kinder zu ernähren. Erst später habe ich verstanden, was die arme Frau für einen Krampf hatte. Ich hatte aber nie das Gefühl, dass mir etwas gefehlt hätte. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit.
Aber Sie mussten auf gewisse Dinge verzichten?
Ja. Ich war Mitglied der Jugendtheatergemeinde. Da konnte man, wenn man früh genug anstand, für einen Franken ins Schauspielhaus. Bei uns zu Hause hiess es: Wollen wir ins Schauspielhaus gehen, oder wollen wir etwas zu Abend essen? Ich dachte damals, es sei ein Scherz. Aber Geld für beides gab es bei uns nicht.
Wofür haben Sie sich entschieden?
Natürlich fürs Schauspielhaus. Ich bewunderte die deutsche Schauspielerin Therese Giehse. Ich sah Erstinszenierungen von Dürrenmatt und Frisch: Die «Physiker» oder «Andorra». Ich könnte Ihnen heute noch die komplette Besetzung auswendig aufzählen. Das war die grosse Zeit des Schauspielhauses.
Sie sind jetzt 71. Was haben Sie für ein Lebensziel?
Ich versuche, in einer arschlochfreien Zone zu leben.
Haben Sie es geschafft?
Überraschend früh sogar. Nach «Fascht e Familie» hat mir niemand mehr gesagt, was ich machen muss, und ich musste mich von niemandem anstellen lassen, wenn ich das nicht wollte. Ein guter Freund hat mir mal gesagt: Das Einzige, was du im Leben haben musst, ist dein Arschlochgeld auf der Bank. Die Summe ist egal, die ist bei jedem anders. Aber es muss so viel sein, dass man jedem sagen kann: Mit Ihnen arbeite ich nicht. Das ist ein wunderbares Gefühl.
Und ein Luxus.
Aber es ist der einzige Weg. Für blöde Leute ist mir die Zeit zu schade.
Haben Sie deshalb Ihre Festanstellung beim Schweizer Fernsehen Knall auf Fall verlassen?
Ich bekam damals einen neuen Chef, der mir in einem Gespräch seine Vorstellungen präsentierte. Nach diesem Gespräch bin ich in mein Büro gegangen, habe meine Kündigung getippt, legte sie dem Abteilungsleiter ins Postfach und ging nach Hause zum Mittagessen. Ich wusste einfach, dass ich zwei Möglichkeiten hatte: Entweder ich komme nach 15 Jahre wieder aus dem Gefängnis wegen Erwürgung eines Vorgesetzten. Oder ich gehe sofort.
Würden Sie nochmals zu SRF zurückgehen?
Nie! Um Himmels willen. Die einzige Verwaltung, die sich ein eigenes Fernsehen leistet? Ich hatte immer das Glück, dass ich in Sachen eingestiegen bin, wenn sie noch jung und lebendig waren. Das Schweizer Fernsehen ist nicht mehr jung. SRF ist zu einem überverwalteten, überorganisierten, überstrukturierten Betrieb geworden. Der Gedanke, dass man eine Sendung macht, weil man Lust darauf hat, und mal ausprobiert, ob sie funktioniert, das ist schon lange vorbei. Das gibt es nicht mehr. Wir konnten das noch machen.
Wie stehen Sie zur No-Billag-Initiative?
Ich bin dagegen. Das Schweizer Fernsehen hat ja nicht gerade weltmeisterliches Niveau. Aber was passiert, wenn man das Fernsehen nur am Markt ausrichtet, kann man sich im Ausland anschauen. Das Programm der Privaten ist grauenhaft. Und die Öffentlich-Rechtlichen passen sich dem an.
Schauen Sie das Schweizer Fernsehen?
Ab und zu mal eine Informationssendung, zum Beispiel die «Rundschau». Wer am besten tanzt, ist mir egal.
Unterhaltungssendungen sehen Sie sich keine mehr an?
Ich weiss ja, wie Unterhaltung funktioniert. Das interessiert mich einfach nicht mehr.
Sie haben einem Schweizer Schriftsteller ein Musical gewidmet: Jeremias Gotthelf. Was gefällt Ihnen am Emmentaler Pfarrer?
Die Menschen. «Anne Bäbi Jowäger» ist einer der tollsten psychologischen Romane überhaupt. Oder die «Käserei in der Vehfreude». Die Mentalität in der Schweizer Politik ist immer noch genau so, wie sie Gotthelf beschrieben hat. Leider ist heute keine Gotthelf-Gesamtausgabe mehr erhältlich. Das ist eine Schande für die Schweizer Verleger.
Sie haben die Schweizer Politik angesprochen. Im Bundesrat wird ein Sitz frei. Wen wünschen Sie sich als Nachfolger von Didier Burkhalter?
Das ist mir völlig egal. Ich kenne die alle nicht. Ich finde auch die Diskussion um seine Nachfolge unsinnig. Die einen wollen unbedingt eine Frau, die anderen einen Tessiner oder einen Welschen. Ich finde, wir brauchen einfach den, der für das Amt bestmöglich qualifiziert ist. Das wäre auch mal ein Argument. Zugegeben: ein ungewöhnliches in der Schweiz.
Sie finden es nicht gut, dass man eine gerechte Verteilung von Regionen und Geschlecht berücksichtigt?
Es dürfte eigentlich nicht entscheidend sein. In der Schweiz ist die wichtigste Voraussetzung für eine Wahl in den Bundesrat die Unauffälligkeit. Das ist wie beim Gartenzwerg: Wer die Zipfelmütze am meisten in die Höhe streckt, dem wird sie abrasiert. Deshalb ist auch einer wie Johann Schneider-Ammann im Bundesrat. In einem Briefmarkensammler-Verein würde er vielleicht als Kassenwart gewählt, aber nie als Präsident. Das ist das Besondere an der Schweizer Politik.
Welches Buch muss ein Bundesrat gelesen haben?
Ich würde eines wie «Der menschliche Makel» des amerikanischen Schriftstellers Philip Roth empfehlen. Er hat ein feines Gefühl für Machtstrukturen und politische Mechanismen.
Welches Buch liegt bei Ihnen auf dem Nachttisch?
Englischsprachige Literatur. Zuletzt «What Makes Sammy Run?» von Budd Shulberg, Philip Roth, Kurzgeschichten von T. C. Boyle. Wenn ich selber an einem Buch schreibe, also fast immer, lese ich keine deutschsprachigen Bücher.
Warum?
Ich habe Angst, dass es meine Sprache beeinflussen würde. Ich habe ja selber keinen Stil. Jedes meiner Bücher hat eine andere Sprache, die ich immer von der Geschichte abhängig mache. Wenn ich die passende Sprache einmal gefunden habe, habe ich panische Angst, sie wieder zu verlieren. Deshalb lese ich, während ich schreibe, nur auf Englisch.
Arbeiten Sie schon an Ihrem nächsten Buch?
Aber selbstverständlich. Ich arbeite immer abwechslungsweise an einem grossen und an einem kleineren Werk. «Melnitz» war ein grosses Buch, «Der Wille des Volkes» ein kleines. Jetzt ist wieder ein grosses an der Reihe.
Können Sie etwas dazu sagen?
Nein, ich sage nie etwas zu Büchern, die ich noch nicht geschrieben habe. Zuerst Eier legen, dann gackern. Das ist die Reihenfolge.
Durchbruch mit «Melnitz»
Charles Lewinsky ist 1946 in Zürich geboren. Der Schweizer Autor jüdischer Herkunft arbeitete als Bühnenregisseur und Ressortleiter für das Schweizer Fernsehen. Mitte der 90er-Jahre schrieb er die populäre Sitcom «Fascht e Familie», später folgte «Fertig lustig». Aus seiner Feder stammen auch Liedtexte, unter anderem «Das chunnt eus spanisch vor». Der literarische Durchbruch gelang ihm 2006 mit der jüdischen Familiensaga «Melnitz». Nach der Minarett-Abstimmung trat er der SP bei. Lewinsky ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Er lebt in Zürich und im französischen Vereux.