Neue Luzerner Zeitung; 16.09.2013
Hochschule · Mit einer Arbeit über Rechts- extremismus schliessen Natascia D’Anna und Jessica Häny ihr Studium ab. Beide haben krasse Erfahrungen gesammelt. Rechtsextreme Gruppierungen üben auf junge Leute noch immer eine Faszination aus. Gemäss Schätzungen aus dem Jahr 2006 ordnet man rund 1200 Personen organisierten Gruppen zu. Dazu gesellen sich bis zu 800 Mitläufer. Die Dunkelziffer dürfte grösser sein.
Diese Zahlen und die Frage, weshalb Jugendliche einer Bewegung folgen, die anders denkende Menschen nicht akzeptiert und Gewalt gegen diese ausübt, veranlassten Natascia D’Anna (23) aus Winterthur und Jessica Häny (26) aus Pfäffikon SZ, ihre Bachelorarbeit an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit der Gewaltprävention von Rechtsextremismus bei Jugendlichen zu widmen.
Szene hat sich gewandelt
Direkten Kontakt mit Leuten aus der rechtsextremen Szene hatten die Frauen während ihrer Arbeit nicht. Und privat nur am Rande. Natascia D’Anna hat von einem ehemaligen Arbeitskollegen erfahren, dass er früher in einer Gruppierung aktiv war und dort eine hohe Gewaltbereitschaft an den Tag legte. «Ich war völlig überrascht, dass dieser nette und hilfsbereite Typ, den ich niemals aggressiv erlebt habe, ein Rechtsextremer ist. Er sagte mir, dass er früher oft Lust hatte, sich zu ‹spüren›. Heute ist er nicht mehr in einer Gruppierung, aber seine fremdenfeindliche Ideologie hat er nicht abgelegt», sagt sie.
Dies sei ein typisches Beispiel für die Rechtsextremen-Szene in der Schweiz, die sich in den letzten Jahren verändert habe. «Die Leute treten nicht mehr häufig öffentlich in Gruppen auf, und durch ihr Outfit, ihr Verhalten und ihre Äusserungen sind sie nicht mehr eindeutig identifizierbar. Heute verhalten sie sich oft politisch korrekt und verstossen nicht permanent gegen das Antirassismusgesetz. Dafür versuchen sie, Einfluss zu gewinnen», sagt Häny.
15- bis 20-Jährige sind gefährdet
«Dass solche Gruppen immer wieder Zulauf finden, ist interessant», sagt Jessica Häny, die ihr Praktikum im offenen Justizvollzug Realta in Cazis (GR) machte. Die Frauen haben das Vorgehen von rechtsextremen Gruppen unter die Lupe genommen, weil diese eine für sie unbekannte Welt darstellten. «Die ganz andere und auch bedrohliche Welt wirkte auf uns auch auf eine Weise faszinierend, insbesondere weil sie dem Menschenbild der Sozialen Arbeit widerspricht», erklärt Häny. Warum es dennoch Leute gibt, die von dieser Welt angezogen werden, und wie dagegen präventiv vorzugehen ist, ist deshalb Inhalt ihrer Bachelorarbeit.
Bei den Recherchen zu ihrer Literaturarbeit haben Häny und D’Anna herausgefunden, dass vorwiegend Burschen zwischen 15 und 20 Jahren mit wenig ausgebildetem Selbstwertgefühl in einer rechtsextremen Gruppe Anerkennung suchen. «Wer in der Schule eine Aussenseiterrolle hatte, kann sich hier wahrscheinlich beweisen», so Häny. Auch Jugendliche aus schwachen sozialen Schichten in ländlichen Gegenden, wo kaum Kontakt mit anderen Kulturen möglich ist, würden eher unter Gleichgesinnten ihre Defizite auszugleichen versuchen. Missstände innerhalb der Familie, selber erlebte Gewalt und Alkohol seien ebenfalls Triebfedern für die Flucht in eine solche Gruppe.
Die Gewaltbereitschaft sei der essenzielle Teil solcher Vereinigungen. Die Prävention müsse daher sehr früh ansetzen, damit erst gar keine Jugendlichen eintreten, betont D’Anna, die ihr Praktikum bei der Caritas Luzern auf dem Sozialdienst für Asylsuchende absolvierte. «Aus der Sicht der Sozialen Arbeit ist es nicht legitim, wenn man sich einer Gruppierung anschliesst, die gegen Personen Gewalt anwendet, die aus deren Sicht weniger wert sind als sie selbst.»
Schulen haben wichtige Aufgabe
Bei der Prävention sind nach Ansicht von D’Anna und Häny die Professionellen der Sozialen Arbeit, Schulen, die Jugendarbeit, die Polizei, Hausärzte als Vertrauenspersonen oder auch Vereine gefordert. «Die Schulen haben die Aufgabe, das Selbstwertgefühl der Kinder zu fördern, indem sie Gleichheit innerhalb der Klassen schaffen. Egal, ob auf kultureller oder sozialer Ebene. Auch im Elternhaus und in der Jugendarbeit muss dies vorgelebt und die Andersartigkeit thematisiert werden.»
Ein wichtiger Teil der Prävention sei die Früherkennung. Der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen der Familienhilfe, der Jugendarbeit und der Polizei müssten permanent da sein. Beobachtungen müssten weitergegeben werden. «In der Praxis heisst dies, dass man einen Jungen, der sich einer rechtsextremen Gruppierung anschliesst, mit dem Thema konfrontiert.» Keinesfalls aber dürfe man ihm die Freiheit geben, im Jugendtreff oder anderswo mit seinen Ideologien zu hausieren.
Bei den Gesprächen ist der Datenschutz ein heikler Punkt. «Aus Sicht der Sozialen Arbeit stellt sich oft die Frage, was legitim ist – aus polizeilicher Sicht ist aber entscheidend, dass etwas legal ist. Das kann Schnittstellen geben und Konflikte hervorrufen. Die Umsetzung in die Praxis wird eine Herausforderung», sagt D’Anna. Die Bachelorarbeit diene als Grundlage für Interventionsfelder der Gewaltprävention.
Häufig: Einstieg über die Musik
Wie sehr sich Jugendliche von der Ideologie der Rechtsradikalen anziehen lassen, sei nicht messbar. Der Einstieg funktioniere oft über Konzerte und Festivals. «Vielfach gefällt den Jungen die Musik. Der Text ist wahrscheinlich vorerst sekundär. Wenn aber unter seinesgleichen über die Inhalte philosophiert wird, ist der Schritt zum endgültigen Einstieg nur noch ein kleiner. Dann ist es zu spät für die Prävention», sagt Häny.
Seit Februar durchforsten die Frauen Literatur und recherchieren im Internet. Dabei wurden sie oft vor den Kopf gestossen. Jessica Häny entdeckte auf Facebook eine Kameradschaft in ihrer Nachbarschaft. «Als ich sah, dass diese völlig normale Leute als Sympathisanten hat – darunter auch viele Frauen, fragte ich mich: Was ist los?» Das habe sie als beängstigend empfunden. Der Aufruf zur Gewalt halle auf der Internetseite zwar nur durch die Blume, aber er sei da.