Im Jahre 2000 führte ich an der Universität Freiburg im Breisgau ein Seminar zum Thema «Die Literatur und die Erinnerung an den Holocaust» durch. Die Studentinnen und Studenten bearbeiteten dieses Thema mit grossem Ernst und grosser Intensität. Wir besuchten gemeinsam das ehemalige Konzentrationslager Struthof im Elsass. Die Grosseltern einer Studentin waren nach Auschwitz deportiert worden, hatten aber überlebt und waren nach Israel ausgewandert. Als sie im KZ Struthof den Galgen sah, an dem man Häftlinge langsam verenden liess und die Mithäftlinge zwang, am Galgen vorbeizumarschieren, da erlitt sie einen Zusammenbruch.
Wir fuhren dann nach Strassburg und begegneten dort Jean Samuel, der Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte. Er sprach während zwei Stunden – bewegt, aber mit grosser Gelassenheit – von seiner furchtbaren Erfahrung als KZ-Häftling. Eine Studentin fragte ihn, warum er all das nicht aufschreibe. Jean Samuel antwortete, seine Erinnerung könnte ihn in Einzelheiten täuschen und dann stosse ein Negationist – ein Holocaust-Leugner – auf ein Detail, um die Judenvernichtung als solche zu leugnen. Jean Samuel zählte in Auschwitz zur Gruppe des berühmten italienischen Intellektuellen Primo Levi, der darüber in seinem Buch «Ist das ein Mensch?» berichtete. Primo Levi, mit dem er in Kontakt blieb, war in grosser Sorge, dass nach dem Tod der Zeugen niemand mehr die Erinnerung an diesen Völkermord aufrechterhalten werde. Die Zielsetzung der Nationalsozialisten ging in der Tat noch über die physische Vernichtung der Juden hinaus. Ihre Absicht war es, alle Spuren zu vernichten, die Erinnerung an eine jüdische Gemeinschaft völlig auszulöschen. Selbst wenn einige überlebten, würde man deren Zeugnis nicht glauben, weil die Vorgänge der systematischen Vernichtung zu ungeheuerlich erscheinen würden.
Es gab in der Tat immer wieder Einzelne, die die systematische Judenvernichtung leugneten, so in Frankreich der Dozent Robert Faurisson. Auch der Gründer des rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, banalisierte den Holocaust mit seiner Behauptung, die Gaskammern seien «nur ein Detail» der Geschichte. Der jetzige Vize-Präsident des Front National, Jean-François Jalkh, hatte seinerseits die Gaskammern infrage gestellt. In England zählte David Irving zu den bekanntesten Leugnern des Holocaust. Die amerikanische Historikerin Deborah E. Lipstadt hatte 1993 in ihrem Buch, das ein Jahr später im Zürcher Rio-Verlag unter dem Titel «Betrifft: Leugnen des Holocaust» erschien, Irvings Lügen und Halbwahrheiten systematisch gesammelt und wissenschaftlich widerlegt. Irving strengte gegen sie einen Prozess wegen übler Nachrede an und gemäss englischem Recht musste sie sich als Beklagte verteidigen. Deborah E. Lipstadt tat das mit grosser Entschiedenheit und der Antisemit und Hitleranhänger wurde in die Schranken gewiesen. Der Fall wurde nun verfilmt und wird unter dem Titel «Verleugnung» demnächst in den Kinos gezeigt.
Die Verleugnung von Fakten ist keineswegs von der Leinwand verschwunden. «Es gibt Fakten, Meinungen und Lügen», so erklärte Frau Lipstadt unlängst in einem Gespräch in Zürich. «Wer den Holocaust leugnet, verbreitet eine Lüge, die er als Meinung verkleidet.» Darin sieht sie eine gefährliche Strategie, die darin besteht, sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen, wenn man Lügen verbreitet. Meinungsfreiheit besteht nicht darin, alles Mögliche und Unmögliche sagen zu dürfen. Zuerst muss man die Fakten ermitteln und erst dann kann man seine Meinung oder seine Interpretation der Fakten äussern. Die Historikerin stellt fest, dass der Sinn für die Fakten immer mehr aufgeweicht wird. So etwa wurden die falschen Zahlen der Teilnehmer der Inaugurationsfeier von Trump einfach als «alternative Fakten» verkauft. Ende Januar veröffentlichte die Trump-Regierung eine Botschaft zum Holocaust-Gedenktag, ohne darin die Juden zu erwähnen, weil man andere Opfer nicht ausschliessen wollte. «Das ist bereits eine Form des Verleugnens», so die Historikerin. «Man dehnt die Definition des Holocaust so aus, dass das Ausmass weit über den Versuch einer Vernichtung eines ganzen Volkes hinausgeht. Als Historikerin muss man aber unterscheiden zwischen dem Holocaust und den Tragödien, die andere Gruppen erlitten haben.»
Trump behauptet ohne jede Faktenbasis, Barack Obama habe ihn abhören lassen und insistiert dann, dass die Behauptung als Meinung gelten soll, womit diese zu einem Teil der Debatte wird. In analoger Weise wird der vom Mensch verursachte Klimawandel verneint, weil er nicht ins politische Kalkül passt, obwohl er von zahllosen Forschungen bewiesen wurde. Marine Le Pen erklärt, die Preise seien seit der Einführung des Euro explodiert. Als man ihr auf der Basis von Statistikreihen seit 1990 entgegnet, die Behauptung stimme nicht, erklärt sie: «Die Zahlen lügen.» Nach der Fernsehdebatte von Frau Le Pen mit Macron listete die Tageszeitung «Le Monde» neunzehn Unwahrheiten in ihren Ausführungen auf und sprach von einer «Strategie der Lüge». Zum Glück ging diese Strategie nicht auf. In noch brutalerer Weise leugnet Putin Assads Täterschaft bei den Chemiewaffenangriffen in Syrien. Bush hatte seinerseits die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak erfunden, um den Irakkrieg zu rechtfertigen.
Fakten müssen immer erhärtet werden. Man kann sich hier nicht auf Vermutungen oder Ahnungen stützen. Sie müssen durch Untersuchungen bewiesen werden. Das ist der Sinn jeder wissenschaftlichen Untersuchung. Die Resultate müssen veröffentlicht und die Methoden, mit denen man zu diesen Resultaten kam, offengelegt werden, sodass andere die Untersuchungen überprüfen können. Erst nach diesem Prozess kann man von eindeutigen Fakten sprechen. Bei der Einschätzung der Fakten oder bei den Konsequenzen, die man aus der Faktenlage ziehen will, ist man frei. Oder, um noch einmal Deborah E. Lipstadt das Wort zu geben: «Es gibt Tatsachen: Die Erde ist rund. Es gibt Meinungen: Ansichten darüber, weshalb die Erde rund ist. Und es gibt Lügen: Die Erde ist flach.» Es gebe neuerdings Anhänger der Flachen-Erde-Theorie, die ihre Lüge als Meinung in die Diskussion einbringen wollten. «Das ist eine sehr gefährliche Strategie, denn genau so sind Holocaust-Leugner vorgegangen.»