Landbote vom 01.07.2009
Erstmals in der Schweiz sind Rassismusvorfälle, die im Alltag passierten, erfasst und ausgewertet worden. Der gestern präsentierte Bericht umfasst aber vorerst nur 87 Fälle, die von Deutschschweizer Stellen analysiert wurden.
Thomas Münzel
Es gebe noch «viele weisse Flecken auf der Landkarte der Rassismusbekämpfung in der Schweiz», hält Georg Kreis, Präsident der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), im Vorwort des Berichts «Rassismusvorfälle in der Beratungspraxis 2008» fest. Für viele Betroffene sei es wohl sehr schwierig, zu einer kompetenten Beratung zu kommen. Es mangle anBeratungsstellen. In diesem Bereich erfülle die Schweiz die Erfordernisse des internationalen Übereinkommens gegen Rassismus nicht und ebenso wenig komme sie den Empfehlungen des Uno-Überwachungskomitees sowie des Europarats nach.
Oft verbale Diskriminierung
In dem Bericht werden erstmals regionenübergreifend Rassimusberatungsfälle dargestellt, wobei Daten der EKR und weiterer vier Beratungsstellen aus der Deutschschweiz erfasst wurden. Ziel sei es, nächstes Jahr auch das Tessin und die Romandie miteinzubeziehen, sagte Tarek Naguib von Humanrights.ch/MERS vor den Medien in Bern. Laut EKR-Geschäftsführerin Doris Angst zeigte sich, dass rassistische Diskriminierung in allen Lebensbereichen und in unterschiedlichsten Formen vorkomme. Von den Betroffenen beschuldigt worden seien Verwaltungsstellen und Polizeibeamte, Private, Unternehmen, rechtsextreme Gruppierungen sowie anonyme Personen im Internet.
Die rassistische Diskriminierung erfolgt den Untersuchungen zufolge oft verbal, ist unter Umständen verbunden mit Gewalt, kann aber auch durch Ungleichbehandlungen oder die Verweigerung von Dienstleistungen geschehen.
Am meisten von rassistischer Gewalt betroffen sind laut dem Bericht Menschen anderer Hautfarbe. Junge Männer aus Balkanstaaten würden zudem häufig in der Freizeit und im Gastgewerbe benachteiligt. Annette Lüthi vom Beratungsbüro «gggfon» wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Einlassverweigerungen in Ausgehlokalen weiterhin ein grosses Problem seien. Aber auch Personen aus Ländern wie Deutschland, Dänemark oder Italien fühlen sich in der Schweiz aufgrund ihrer Nationalität diskriminiert – insbesondere im Umfeld von Arbeit und Schule.
Spitze des Eisberges
Ziel der Anstrengungen der EKR und ihrer Partner ist es denn auch, die sichtbare Spitze des Eisberges grösser zu machen, wie Georg Kreis sagte. Wichtig sei aber auch ein breiteres Angebot von Beratungsstellen. So zeigte sich auch EKR-Geschäftsführerin Angst überzeugt: «Hätten wir mehr Beratungsstellen, kämen mehr Fälle an die Oberfläche.»
Gehässigkeiten gegen Deutsche
Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) stellt seit einiger Zeit mit Besorgnis fest, dass im schweizerisch-deutschen Verhältnis die Gehässigkeiten zunehmen. Laut EKR nähren gewisse Printmedien mit Titeln wie «Die Deutschen kommen» oder «Wie viele Deutsche verträgt die Schweiz?» sowie mit entsprechenden Karikaturen die Meinung, dass es in der Schweiz eine «Deutschenfrage» gibt. In Leserbriefspalten und im halböffentlichen Raum der elektronischen Plattformen würden ungehemmt stereotype Negativbilder des «hässlichen Deutschen» verbreitet, meint die EKR. Die in der Krise sich verschärfenden Verteilkämpfe fördern offenbar die Bereitschaft, in den Deutschen unerwünschte Konkurrenten zu sehen. Das bleibt, wie die EKR festgestellt hat, nicht ohne negative Konsequenzen auf das Alltagsverhalten (am Arbeitsplatz, am Wohnort, in Verkehrsmitteln). Kollektive Ablehnungen verletzen die hier lebenden Menschen und belasten den gesellschaftlichen Frieden, sagt EKR-Präsident Georg Kreis.
Rassismusvorfall: Wo erhalte ich Hilfe?
Folgende Beratungsstellen stellen Ressourcen für Opfer von Rassismus zur Verfügung:
• Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR), Inselgasse 1, 3003 Bern, Tel. 031 324 12 93, E-Mail: ekr-cfr@gs-edi.admin.ch. Die EKR hat als einzige der im Menschenrechtsbereich tätigen ausserparlamentarischen Kommissionen in ihrem Mandat auch einen Beratungsauftrag für Private.
• Gemeinsam gegen Gewalt und Rassismus (gggfon), Postfach 324, 3000 Bern 22, Tel. 031 333 33 40, E-Mail: melde@gggfon.ch. Das gggfon berät Einzelpersonen wie auch Gruppen zu Gewalt und Rassismus.
• TikK, Kompetenzzentrum für interkulturelle Konflikte, Strassburgstrasse 15, 8004 Zürich, 044 291 65 75/82, E-Mail: info@tikk.ch. TikK bietet betroffenen Privat- und Fachpersonen professionelle Beratung und leistet bei Bedarf unmittelbare Hilfe vor Ort. • SOS Rassismus Deutschschweiz, Rosengartenstrasse 1, 8037 Zürich, Tel. 043 366 98 16, E-Mail: info@sos-rassismus.ch. Als eine Informations- und Triagestelle erbringt der Verein Sozial- und Rechtsberatung für Opfer rassistischer Diskriminierungen.
Rassismus im Alltag: Fälle aus dem letzten Jahr
Beispiel für eine diskriminierende verbale Äusserung:
Bei einer Personenkontrolle kommt es im vergangenen Jahr zu einem Wortwechsel mit einem Polizeibeamten. Der Klient fühlt sich von dem Beamten unkorrekt behandelt und bittet diesen deshalb um dessen Namen. Als Antwort sagt ihm der Beamte: «Du kannst nicht schreiben oder lesen, Urwaldmenschen können nicht schreiben oder lesen.»
Beispiel eines ideologischen Hintergrunds des Konflikts:
Trotz Verbot und Auflösung der Naziband «Landser» ist dieser bei einem Internetradio ein eigener Kanal gewidmet. Darauf werden Artikel und Lieder von verschiedenen Bands mit rechtsextrem-ideologischem Hintergrund verbreitet und angeboten.
Beispiel eines Vorfalls, bei dem die Nationalität eine Rolle spielt:
Eine Schülerin deutscher Herkunft wird von der Lehrerin nach einem Schweizer Brauch befragt. Sie kann die Frage nicht beantworten, ein anderes Mädchen türkischer Herkunft schon. Die Lehrerin hält der Schülerin deutscher Herkunft danach vor, wenn sogar ein Türkenmädchen diese Frage beantworten könne, solle sie doch nach Deutschland zurückgehen.
Beispiel aus dem Unterhaltungsgewerbe:
Zwei Frauen treffen sich vor einem Ausgehlokal mit Bekannten, unter ihnen zwei dunkelhäutige Schweizer. Die beiden Frauen werden von den Türstehern aufgefordert, die dunkelhäutigen Männer zu küssen, um zu beweisen, dass diese zu ihnen gehören. Als die beiden Frauen dieser Aufforderung nicht nachkommen, wird ihnen der Eintritt in das Lokal verweigert. Auf die Nachfrage, ob die Eintrittsverweigerung etwas mit der Hautfarbe der beiden Männer zu tun habe, lachen die Türsteher spöttisch und antworten: «Ja, das auch!».