«Es gibt keine gezielte Prävention»

St. Galler Tagblatt. Anders als in den USA tritt
Rechtsextremismus hierzulande kaum offen zutage. In
St.Gallen sind die Behörden seit dem
Rechtsrockkonzert in Unterwasser wachsamer. Ein
Experte fordert eine bessere Prävention.

Es waren Tausende. Rassisten, Neonazis, weisse Nationalisten
und Mitglieder des Ku-Klux-Klans. Sie trugen Fackeln und
Schusswaffen, brüllten «Heil Trump!», verprügelten
Gegendemonstranten. Einer von ihnen tötete eine Frau, als er
mit seinem Auto absichtlich in die Menschenmenge fuhr.
Derartige offen gewalttätige Manifestationen von Rassenhass
und Antisemitismus wie vor kurzem in der US-Stadt
Charlottesville gab es in der Schweiz bisher keine.
Veranstaltungen von Neonazis finden hier meist unter
Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wie in Unterwasser im
Oktober letzten Jahres, als sich 5000 bis 6000 Neonazis zu einem
Konzertabend trafen. Sie hatten mit falschen Angaben die
Tennishalle mieten können.

«Überraschungen, wie wir sie in Unterwasser 2016 erlebt haben,
können nie ausgeschlossen werden», sagt Judith Widmer,
stellvertretende Generalsekretärin im St.Galler Justiz- und
Sicherheitsdepartement. Die Organisatoren würden sich
geschickt verhalten und die Hintergründe einer Veranstaltung
verdecken. «Zudem dringen Informationen nur selten nach
aussen.»

Fall Unterwasser hat Behörden sensibilisiert

Nach geltendem Recht sind Organisationen und auch Treffen
rechts- und auch linksextremer Kreise per se nicht verboten. Das
mache es den Behörden auch so schwer, im Vorfeld etwas
dagegen zu unternehmen, sagt Judith Widmer. Erst wenn
Teilnehmer oder andere Personen gefährdet werden könnten,
strafbare Handlungen geschehen oder verabredet würden,
müsse und werde der Kanton einschreiten. Darauf sei die
Kantonspolizei im Rahmen des Möglichen vorbereitet.

Bisher ist einzig die Bewilligungspflicht für Veranstaltungen mit
gesteigertem Gemeingebrauch eine Handhabe. Die
Kantonspolizei habe nach dem Neonazitreffen im Toggenburg
alle St.Galler Gemeinden nochmals darauf aufmerksam gemacht
und aufgefordert, auffällige oder zweifelhafte Vermietungen von
Lokalitäten an die Kantonspolizei zu melden. Dies könne
polizeiliche Auflagen im Sicherheitsbereich oder gar ein Verbot
zur Durchführung nach sich ziehen.

Der Vorfall in Unterwasser habe die Behörden sensibilisiert, sagt
Judith Widmer. «Dennoch muss auch der Staat sich an die
geltenden Vorschriften halten, die sich aber seit Oktober 2016
nicht verändert haben.»

Keine Auskunft zur Zahl der Neonazis im Kanton

Insbesondere die Polizei hat somit keine neuen Instrumente. Sie
stützt sich bei ihrem Handeln in erster Linie auf die «polizeiliche
Generalklausel». Auch deswegen hiess der Kantonsrat im März
dieses Jahres eine Motion der CVP-GLP-Fraktion gut, die einen
Gesetzesentwurf verlangt, um Veranstaltungen mit
extremistischem Hintergrund verbieten zu können. Die
Regierung unterstützte das Ansinnen. Ob die Polizei ein Auge auf
die Kommunikation von Neonazis auf dem Netz und in den
sozialen Medien hat, wie es beispielsweise der Luzerner
Journalist und Rechtsextremismus-Experte Hans Stutz seit
Jahrzehnten tut, kann Judith Widmer nicht bekanntgeben – aus
polizeitaktischen Gründen. Dazu gehört auch die Information,
was man über die Zahl der Neonazis im Kanton wisse.

Für die Prävention von Gewalt – und Extremismus gehört dazu –
zuständig ist auch das Amt für Gesundheitsvorsorge, das auch
alle beteiligten Ämter beim Thema koordiniert. Wie Jürg Engler
von der Fachstelle Gewaltprävention sagt, ist das Thema
Radikalisierung sehr aktuell. «Unter diesem Überbegriff hat der
Schulpsychologische Dienst des Kantons kürzlich einen Leitfaden
erstellt, um früh intervenieren zu können, wenn Kinder und
Jugendliche in religiösen oder politischen Extremismus
abzudriften scheinen.» Im Oktober findet eine Tagung zu
Radikalisierung und Extremismus statt. «Bei Jugendlichen
müssen wir immer auch in Erwägung ziehen, dass es einfach
Provokation oder Rebellion sein kann. Und erkennen, wann sie
sich wirklich zu den radikalen Ideen hingezogen fühlen», sagt
Engler. Daher werden die Schulen bei Bedarf durch die
Kriseninterventionsgruppe unterstützt. Deren Expertinnen und
Experten helfen bei der Einschätzung der Situation, bei
Massnahmen und Gesprächen.

«Ideologische Hintergründe zu wenig beachtet»

Damir Skenderovic ist Professor für Zeitgeschichte an der
Universität Fribourg und hat mehrere Studien zu
Rechtsextremismus verfasst. «In der Schweiz gibt es nicht
wirklich eine Sensibilisierung oder gezielte Prävention zum
Thema», sagt er. Man sei sehr zurückhaltend mit konkreten
Projekten. Ganz im Gegensatz zu Skandinavien, wo es
Anlaufstellen für Ausstiegswillige, deren Freunde und Familien
gibt, wo Polizistinnen und Lehrpersonen genau dazu
sensibilisiert werden. «Dass man mit allgemeinen Programmen
gegen Radikalisierung und Gewalt operiert, ist eher
problematisch», sagt Skenderovic. Diese zielten nämlich nur auf
eine Ebene, jene der Deeskalation der Gewalt. «Die Ideologien
dahinter sind beim Jihadismus, dem Links- oder
Rechtsextremismus ganz unterschiedlich, genauso wie die
Gründe für die Radikalisierung und Politisierung.» Die fehlende Ausdifferenzierung der Hintergründe sei bei der Prävention
hinderlich.