Luzerner Zeitung.
Schwierige Zielgruppen sind das Spezialgebiet des Neuenhofer Jugendarbeiters Franz Kohler. Damit ist bald Schluss. Der 62-Jährige geht in Pension.
Wo sich in anderen Büros die Akten stapeln, steht im Büro der Neuenhofer Jugendarbeit ein Leiterwagen mit Spielsachen. Mit diesem zieht Franz Kohler gerne durch die Quartiere und wird sofort von Kindern belagert. «Das dauert nicht lange, dann ist der Wagen leer», sagt der 62-Jährige. Die schulterlangen Haare hat er zu einem Rossschwanz gebunden. Die hellen blauen Augen kommen einem Hundeblick nahe, doch dafür lacht Kohler zu viel. Wenn er einen Witz gerissen hat, dreht er sich zu seiner Kollegin Nathalie Jaworski, die während unseres Gesprächs an ihrem Schreibtisch arbeitet.
Seit zehn Jahren arbeitet Kohler in Neuenhof, lange Zeit in der Schulsozialarbeit, bis zu seiner Pensionierung im Sommer noch in der Jugendarbeit. Man kennt ihn, Jugendliche schätzen ihn und die Kinder, die mögen den Mann mit dem Leiterwagen sowieso. So unbeschwert wie die Kinder zwischen den Hochhäusern mit Kreiseln und Bällen spielen, war Kohlers eigene Jugend in Basel nicht immer. Sein Vater litt unter Schizophrenie, Franz als ältestes von vier Geschwistern musste bald Verantwortung in der Erziehung übernehmen. Für die Familie verdiente er Geld mit Nachhilfe. Man legte ihm eine Ausbildung als Sozialarbeiter oder Ingenieur nahe − tatsächlich bleibt er sein ganzes Leben handwerklich aktiv, hilft mal als Automechaniker eines Taxi-Betriebs oder beim Bau einer Seilbahn.
Brave Ministranten und gewaltbereite Skinheads
Neun Tage, bevor Kohler seine Ausbildung als Jugendarbeiter begann, beging sein Vater Suizid. Ein Schicksalsschlag − doch Kohler kann deshalb noch heute die Probleme vieler Jugendlichen nachvollziehen. Zunächst arbeitete er als Jugendseelsorger der Katholischen Kirche mit «den lieben Braven», wie er sagt. Bei seiner nächsten Station sind die Schützlinge alles andere als lieb und brav: das Aufnahmeheim für kriminelle, männliche Jugendliche. Drogen, Verwahrlosung, Mord − ein Setting mit «unglaublich destruktiver Dynamik». Kohler wird einmal von einem Eishockeyprofi mit einem Billardqueue bedroht, erlebt den Erstickungstod eines drogensüchtigen Jugendlichen.
Nach zweieinhalb Jahren («Länger hält man das nicht aus») wird er Abteilungsleiter eines Jugendtreffpunkts in Basel. Eine Zusatzausbildung in Gemeindewesen gibt ihm das Rüstzeug, um die Dynamiken in urbanen Vierteln mit hohem Ausländeranteil zu verstehen. Ein «unglaublich spannendes Umfeld»: Kohler nahm die Kulturkonflikte wahr; versuchte, Brücken zu schlagen. In jener Zeit beschäftigte er sich auch intensiv mit Rechtsextremismus als Jugendphänomen, den «Skinnies», wie er die jungen Skinheads nennt. Für beide Basel verfasst er zu dieser Thematik ein Grundlagenpapier.
Dass Kohler besonders erfolgreich im Umgang mit schwierigen Zielgruppen ist, sprach sich bald rum. Als Praktiker wurde er Mitglied der eidgenössischen Kommission in Kinder- und Jugendfragen und Delegierter der Schweiz in einer Arbeitsgruppe zur Gewaltprävention im Europarat. Sogar als «Don Juan» sei er schon tätig gewesen, erzählt er und schmunzelt: Für die Schweizer Aids-Hilfe erschloss er die Zielgruppe Freier − «ich habe mich einfach mit Kondomen in der Tasche auf den Strich gestellt und Männer angesprochen: «Und, bist du auch auf der Suche?» Dann habe ich mich mit ihnen über Prävention unterhalten.»
Schüler setzten sich mit Petition für ihn ein
Als Jugend- und später Schulsozialarbeiter zog es ihn in den 2000er-Jahren nach Olten. Dort kam es allerdings 2011 zum Zerwürfnis zwischen ihm und dem damaligen Gesamtschulleiter: Die beiden waren sich uneinig bezüglich der integrativen Ausrichtung der Schule für Menschen mit Behinderung. Kohler sah keinen anderen Ausweg als den Streit öffentlich zu machen, wandte sich an die Lokalpresse. Das handelte ihm die fristlose Kündigung ein. Die Schüler und das Lehrerkollegium waren damit nicht zufrieden. Bei einem Schulfest startete eine Schülerin eine Unterschriftenaktion gegen die Entlassung, in zweieinhalb Stunden kamen 350 Unterschriften zusammen. Doch Kohler zog weiter − nach Neuenhof.
«Nach diesem Vorfall war mir klar, dass ich keinen männlichen Chef mehr über mir haben möchte», sagt Kohler. Zu viele schlechte Erfahrungen habe er gemacht. Die Wahl fiel auf Neuenhof. Dort hatte er eine Frau als Chefin und wurde schon bald zum geschätzten Schulsozialarbeiter. Neuenhof mit seinem hohen Ausländeranteil ist wiederum ein weiteres spannendes Pflaster für den Sozialarbeiter. «Schwierige Konstellationen bin ich gewohnt − und ich sehe grosse Chancen darin. Wo die Scheisse ordentlich am dampfen ist, gibt es einen Haufen Möglichkeiten, aus Scheisse Gold zu machen», sagt er, abermals lachend.
Für sein letztes Berufsjahr wechselte er noch einmal zurück in die Jugendarbeit. «Da habe ich mehr Gestaltungsfreiheit, um bei der Jugend direkt anzupacken.» Denn die Stimmung in der Schule sei momentan «schwierig», wie sich auch durch die jüngst steigenden Vandalismus-Vorfälle zeige. Doch Kohler hat Hoffnung. Auf politischer Ebene habe sich in den vergangenen Jahren viel getan, Jugendthematiken werden ernst genommen. Er verweist darauf, dass der Gemeinderat diskussionslos die Pläne für den neuen Jugendraum gutgeheissen hätte (siehe Kasten am Ende).
Seinen Nachfolgern steht er mit Rat und Tat zur Verfügung
Diese neue Wertschätzung habe auch damit zu tun, dass die Jugendarbeit sich sichtbarer gemacht habe. So koordiniert Kohler beispielsweise das viel beachtete soziale Projekt «Jugendliche helfen Senioren», der Titel ist Programm. «Jugendarbeit ist nicht nur Ferienfreizeit», sagt er.
Seine langjährige Erfahrung als Sozialarbeiter will er auch über seine Pensionierung hinaus zum Einsatz bringen: projektbezogen, analytisch, beratend für Gemeinden und als Mentor an Seminaren. Langweilig wird ihm nicht: Er streift leidenschaftlich gern stundenlang durch die Natur und schiesst Bilder.
Als Beweis packt er das Handy aus, zeigt verschneite Fotos vom Rhein bei seinem Wohnort Möhlin und das Diagramm eines Schrittzählers. Zumindest seinen Nachfolgern will er mit Rat und Tat in Neuenhof noch zur Verfügung stehen: «Wenn ich abrupt mit der Spielanimation im Quartier aufhören würde, wäre man bestimmt nicht glücklich.»