Die Neonazis haben die freiheitliche Ordnung der Schweiz ausgereizt. Mit ihren Pöbeleien gegen Bundespräsident Samuel Schmid am 1. August haben sie den Behörden Anlass gegeben, braune Aufmärsche auf dem Rütli zu verbieten. Von Georg Farago
Nein, ein Fehler war es nicht, die Rechtsextremen bisher an der 1.-August-Feier auf dem Rütli zu dulden. Zwar war es schmerzhaft, ansehen zu müssen, wie die Zahl der Neonazis von Jahr zu Jahr stieg und sich jener der demokratisch Gesinnten stetig annäherte. Aber eine freiheitliche Ordnung verpflichtet. Und das bedeutet Versammlungsfreiheit auch für jene, die diese Ordnung verhöhnen. Zudem gibt es keine problemlose Alternative: Setzte man die Feier aus, würde man sich von den Neonazis in die Knie zwingen lassen oder ihnen gar das Feld für eine eigene 1.-August-Feier auf dem Rütli überlassen. Verböte man ihren Aufmarsch, wäre mit Ausschreitungen, Zerstörungen und einem hohen Sicherheitsaufwand zu rechnen.
Bisher nur geduldet
Solange sich die Rechtsextremen an die Hausordnung der Rütlikommission hielten und sich korrekt benahmen, war es daher wohl angebracht, in den sauren Apfel zu beissen und das unwürdige Spektakel über sich ergehen zu lassen. Doch mit dieser widerwilligen Duldung haben die Neonazis den Anspruch auf guten Willen bereits ausgereizt. Mehr darf nicht drinliegen. Denn an und für sich ist es schon eine kaum erträgliche Zumutung, dass die Wiedergänger des Nationalsozialismus am 1. August just an jenem Ort aufmarschieren dürfen, den die Schweiz als symbolische Wiege ihrer demokratischen Werte betrachtet.
Man soll die rechtsextreme Szene nicht überbewerten: Eine Gefahr für ein funktionierendes Staatswesen ist sie nicht. Extremisten bekamen immer dann ihre Chance, wenn eine Gesellschaft politisch, wirtschaftlich und moralisch am Ende war. Das ist die Stunde des Geiers. Die Schweiz aber ist stabil und kann es verkraften, wenn einzelne Rechtsextreme in die eine oder andere Gemeindelegislative oder -exekutive gewählt werden. Doch aufs Rütli gehören grundsätzlich nicht jene, die die Demokratie am liebsten ausschalten und die demokratische Willensnation in eine völkische Schicksalsgemeinschaft umwandeln würden.
Waren die Rechtsextremen bisher geduldet, haben sie mit ihrem Verhalten am 1. August den Behörden und der Rütlikommission nun Anlass gegeben, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Denn das Niederschreien und Anpöbeln des referierenden Bundespräsidenten verstösst eindeutig gegen die Hausordnung. Wenn die Schweiz sich entscheiden muss zwischen einer in Würde durchgeführten Feier auf der einen Seite und einem peinlichen Spektakel, bei dem die Rechtsextremen Regie führen, auf der andern, dann steht die Antwort fest: Die Neonazis müssen weg vom Rütli; ihr Aufmarsch am 1. August ist künftig zu verbieten.
Behörden sind nicht hilflos
Dass das Fernhalten der Extremisten nicht gratis zu haben ist, muss hingenommen werden. Natürlich riskiert man Zusammenstösse und Krawalle andernorts. Darauf muss das Polizeikonkordat eben mit entsprechenden Mitteln antworten. Die Behörden sind in dieser Beziehung auch nicht so hilflos, wie man es angesichts der nachgiebigen Rhetorik der Urner und Schwyzer Sicherheitsorgane und des obersten Staatsschützers der Schweiz, Urs von Daeniken, meinen könnte. Die jährliche Sicherheitsübung WEF und die Hooliganbekämpfung in den Stadien zeigen, dass die Polizei solche Herausforderungen meistern kann.
Das Rütli künftig ohne Rechtsextreme? Damit sollten auch die Neonazis eigentlich fertig werden. Ihnen bleibt ja noch Führers Geburtstag oder Rudolf Hess? Todestag. Auf solche Ereignisse mögen sie weiterhin anstossen. Aber bitte in der Waldhütte.
«Der Umgangston in der Politik ist inakzeptabel»
Bern. Leuenberger macht gewisse SVP-Exponenten mitverantwortlich für das Schaffen einer «hasserfüllten Stimmung». Merz konstatiert, es fehle die Kultur des Dialogs.
«Wer reisst denn die Hemmschwellen nieder», fragte Bundesrat Moritz Leuenberger gestern in einem Interview des «Tages-Anzeigers» – «woher kommen denn Ausdrücke gegenüber dem Bundespräsidenten wie ?charakterlos? oder ?Halbbundesrat?? Aus den Federn und Mündern einer Bundesratspartei.» So werde eine «hasserfüllte Stimmung geschaffen». Klar ist, wen Leuenberger damit in die Pflicht nimmt: SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli und SVP-Bundesrat Christoph Blocher. Denn ihnen haben die Rechtsextremen die erwähnten Ausdrücke bekanntlich entlehnt, als sie Samuel Schmid im Rahmen der 1.-August-Feier auf dem Rütli als «charakterlosen Halbbundesrat» bezeichneten.
Leuenberger stellte gestern indes klar, dass er seine Aussagen nicht derart personenfokussiert verstanden haben wollte und er Blocher auch nicht «mitverantwortlich an Pöbeleien» auf dem Rütli macht, wie der «Tages-Anzeiger» im Titel schrieb. Zum «inakzeptablen Umgangston in der Politik» trügen denn auch nicht nur SVP-Exponenten bei, sondern etwa auch Journalisten.
Auch Bundesrat Hans-Rudolf Merz äusserte sich gestern im «Blick» zu den Ereignissen auf dem Rütli und konstatierte, dass in der Schweiz die Kultur des Dialogs fehle. Bereits in seiner 1.-August-Rede hatte er erklärt: «Das Säen von Staatsverdrossenheit, das Spiel mit Halbwahrheiten, die obsessive Suche nach der öffentlichen Kritik und die Diffamierung bringen das Land nicht vom Fleck.» An wen er dabei gedacht hat, sagte Merz aber nicht.
Derweil erwarten im Nachgang zum Eklat auf dem Rütli der Historiker Georg Kreis und selbst SVP-Politiker wie Hans Lauri (BE) oder Ulrich Siegrist (AG) gerade auch von der SVP eine klare Antwort auf das Phänomen Rechtsextremismus. Gerade sie als national-konservative Partei sei in der Pflicht, sich klar abzugrenzen. Während Blocher aber nach wie vor schweigt, erklärte Mörgeli auf Anfrage, weder er noch Blocher hätten je Ausdrücke wie «charakterlos» oder «Halbbundesrat» gebraucht – um später doch noch einzuräumen, dass es wohl keinen Unterschied gibt zwischen dem Ausdruck «charakterlos» und der Aussage, jemand habe «keinen Charakter». Mörgeli distanzierte sich auch von der Pnos, die den Aufmarsch auf dem Rütli anführte: «Was sie vertritt, ist schrecklich.»