Seit Wochen wird über die 1.-August-Feier auf der Rütli-wiese gestritten. Der Historiker Georg Kreis findet diesen Streit zwar aussergewöhnlich, der Bedeutung dieser Wiese aber durchaus angemessen.
WINTERTHUR ? Herr Kreis, worum geht es eigentlich in diesem Streit?
Es wird über vieles gleichzeitig gestritten. Eigentlich wird sogar darüber gestritten, worüber gestritten werden soll. Das ist ungewöhnlich, aber einem so bedeutungsvollen Thema wie dem Rütli durchaus angemessen. Über Einigungsprojekte, die für alle da sein sollen, wie etwa auch Denkmäler, Hymnen und Fahnen, wird oft am heftigsten debattiert. Man wünschte sich fast, dass über anderes ähnlich intensiv gestritten würde, Steuerordnungen beispielsweise oder Tagesschulen und Anti-Rassismus-Massnahmen.
Welche Bedeutung hat das Rütli denn heute für die Schweiz?
Schwierige Frage. Wahrscheinlich sieht jede Gruppe eine eigene Bedeutung darin. Weil man, was historisch todsicher falsch ist, dieses als Gründungsort unseres Landes betrachtet, geht es dabei schlicht um «die Schweiz» an sich. Wer das Rütli beanspruchen kann, tritt im Namen der Schweiz auf und kann seine eigene Position aufwerten.
Wer hat es in der Vergangenheit denn geschafft, diese Wiese, und somit die Schweiz, für sich zu vereinnahmen?
Das Rütli ist ein Ort der besonderen Umstände. Immer war es dem herrschenden Zeitgeist, aber auch der Opposition gegen diesen ausgesetzt. Jede auffallende Nutzung machte den Ort noch um einen Zacken wichtiger. Im Laufe der Jahre legte sich so Schicht über Schicht, es gab eine Akkumulation von Wichtigkeit. Bis zum 18. Jahrhundert war es ein Treffpunkt des politischen Katholizismus. Das hinderte die Anhänger der linken helvetischen Revolution aber nicht daran, 1798 ebenfalls aufs Rütli zu pilgern. Noch bedeutsamer wurde es im 19. und 20. Jahrhundert, wobei vor allem General Guisans Widerstandsrapport vom Juli 1940 zu erwähnen ist.
Wie konnte es passieren, dass das Rütli im Wahlkampfjahr plötzlich zum grossen Thema wurde? Mit einem solchen Symbol konnten sich Politiker in den letzten Jahren doch kaum profilieren.
Ich glaube nicht, dass es dabei um Wahlkampf geht. Ich hoffe doch sehr, dass andere, realere Fragen den Wahlkampf dominieren. Um mich nicht zu wiederholen: Da wären etwa auch die AHV, das Bildungssystem oder die Klimaproblematik.
Aber weshalb bezeichnet Ueli Maurer das Rütli als «Wiese mit Kuhfladen»? Bisher hat die SVP doch viel Wert auf solche Symbole gelegt.
Das war wohl in erster Linie eine Provokation und hat dem Provokateur dann auch prompt ein privilegiertes Mikrofon in der TV-Arena eingebracht. Hat also funktioniert. Die gleiche Partei würde wohl aufschreien, wenn andere die Schweizerfahne analog als einen simplen Fetzen Stoff bezeichnen würden. Den patriotischen Symbolen ist die SVP garantiert nicht untreu geworden. Sie hat zum Beispiel auf der Älggialp, dem geografischen Zentrum der Schweiz im Obwaldner Steuerparadies, auch schon ein mediengerechtes Treffen durchgeführt. Aber auf dem Rütli dürfen sie eben keine Parteiversammlung abhalten.
Und weshalb wollen SP-Vertreter unbedingt aufs Rütli? Mit Patriotismus konnte die SP doch nie viel anfangen.
Die Linke hat gemerkt, dass es falsch ist, wenn die Rechte den Patriotismus alleine für sich beanspruchen kann. Dieser neue linke Patriotismus ist allerdings auch historisch gerechtfertigt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein Teil der Linken ausgesprochen patriotisch eingestellt. Auch um die Jahrhundertwende war ein Teil der Linken noch sehr patriotisch. Im Falle des Rütlis wäre es aber zu stark verkürzt, wenn man sagen würde, die Linke laufe jetzt einfach der Rechten nach. Seit die Rechtsextremen seit Ende der 90er-Jahre das Rütli in Beschlag nehmen, versuchen Linke und Bürgerliche gemeinsam, auf dem Rütli ein Gegengewicht zu diesen Kräften zu bilden. Der nationalen Rechten bereiten diese Kräfte aus naheliegenden Gründen weniger Sorge. Eigentlich müsste sich der Bund pragmatisch, aber eindeutig stärker auf dem Rütli engagieren.
Die SP ist in einer Zwickmühle: Wenn Micheline Calmy-Rey dort wirklich sprechen wird, sind Konflikte mit Neo-nazis vorprogrammiert. Allerdings kann sie jetzt auch keinen Rückzieher mehr machen, weil das einem Gesichtsverlust gleichkommen würde. Wie würden Sie die Situation retten?
Ich bezweifle, dass die SP und «ihre» Bundesrätin in dem Masse eine Einheit bilden, wie man das annimmt. Frau Calmy-Rey macht, was sie persönlich für richtig hält. Man darf auch die beteiligten Frauenorganisationen nicht übersehen, diese bestehen ja auch nicht nur aus Linken. Ich würde den Dingen weitgehend ihren Lauf lassen und nicht mit gigantischen Präventionsmassnahmen dafür sorgen, dass das gerade eintritt, was man vermeiden wollte. Eine Möglichkeit wäre, dass die Medien aufhören, über das Rütli zu berichten. Vielleicht würden dann nur noch jene hingehen, die ausschliesslich wegen des Rütlis hingehen wollen.
Und was machen Sie am 1. August? Werden Sie Micheline Calmy-Reys Aufruf folgen und aufs Rütli gehen?
Momentan weiss ich das noch nicht, ich möchte mich auch nicht festlegen. In den letzten Jahren war ich vielleicht etwas zu oft dort. Auch wenn mir sehr wichtig ist, was auf dieser Wiese passiert. Aber in der Schweiz gibt es ja viele «Rütli», dieses Land ist voll von solchen Orten. Eigentlich ist die Schweiz ein einziges grosses «Rütli».
Der Streit um die Rütliwiese: Was bisher geschah
WINTERTHUR ? Fast täglich schalten sich im Streit um das Rütli neue Akteure ein. Eine kurze Chronologie: Nachdem Rechtsextreme die Rütliwiese in den vergangenen Jahren in Beschlag genommen haben, fordern die Innerschweizer Kantone vom Bund 200 000 Franken, um ihre Sicherheitskosten zu decken und eine erneute «Schande vom Rütli» zu verhindern. Doch der Bundesrat lehnt die Unterstützung ab, weil 1.-August-Feiern eine lokale Angelegenheit seien. Er will nur die Kosten eines subsidiären Militäreinsatzes übernehmen. Das ist den Kantonen allerdings zu wenig, worauf die Zentralschweizer Justiz- und Polizeidirektoren erklären, dass am 1. August keine Einschiffungsorte für die Fahrt aufs Rütli zur Verfügung stehen würden. Die geplante Rede der beiden höchsten Schweizerinnen, Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi und Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey, steht damit vor dem Aus. Egerszegi zieht sich zurück, Calmy-Rey ist nach wie vor wild entschlossen, auf der Rütliwiese zu reden. SVP-Präsident Ueli Maurer bezeichnet das Rütli als «Wiese mit Kuhdreck». Ein privater Sponsor bietet Bundesrat Samuel Schmid die nötigen 200 000 Franken für die Sicherheitskosten an, was der Bundesrat jedoch ablehnt. Die Rütlikommission bläst die Feier offiziell ab, zum ersten Mal seit 1949. Weil sowohl Links- als auch Rechtsradikale angekündigt haben, auf die Wiese zu kommen, muss sie wahrscheinlich gesperrt werden. Im «Sonntags-Blick» kündigen zahlreiche Prominente an, trotz allem aufs Rütli zu gehen, darunter Jean Ziegler und Chris von Rohr. (mfr)
Geschichtsunterricht für Politiker
BRUNNEN ? Die Rütlidebatte hat die Tourismuspartner der Region Urnersee zu einem besonderen Pauschalangebot animiert: Bis Ende September bieten sie Hotelübernachtungen kombiniert mit Museumseintritten an. Parteipräsidenten der vier Bundesratsparteien sowie Bundesräte und Bundesrätinnen erhalten dabei grosszügige 50 Prozent Rabatt. «Schweizer Geschichte für Anfänger» heisst dieser mehrtägige Ausflug. «Die gegenwärtige Rütlidebatte beweist es: Vielen Bürgerinnen und Bürgern ist die Entstehungsgeschichte und -mythologie der Schweiz nicht mehr geläufig», schreiben die Touristiker in ihrer Pressemeldung. Wenn sogar der Parteipräsident einer grossen Schweizer Partei das Rütli despektierlich als «Wiese mit Kuhfladen» bezeichne, sei es höchste Zeit etwas gegen das mangelnde Geschichtsbewusstsein der Schweizer Bevölkerung zu unternehmen. Das Angebot richte sich aber nicht nur an jene, die das Rütli für eine Kuhfladenwiese halten, sondern auch an versierte Geschichtskenner, die so ihr Wissen vertiefen könnten. Zum patriotischen Wochenendtrip gehören Besuche im Bundesbriefmuseum, im Forum der Schweizer Geschichte, im Ital-Reding-Haus und natürlich auf dem Rütli, inklusive Mittagessen im gleichnamigen Restaurant.
Bei erfolgreichem Abschluss dieses Geschichtsunterrichts wird den Gästen ein Zertifikat ausgehändigt, «um damit am Stammtisch angeben zu können».