Ein Europa ohne Juden? Das Unmögliche scheint wieder möglich

Nebelspalter.

Der Antisemitismus hat Hochkonjunktur. Juden befürchten das Schlimmste. Und auch ein renommierter Experte ist besorgt.

Die Worte des bekannten Schriftstellers Leon de Winter sind nur schwer erträglich. In einem Interview mit der «Sonntagszeitung» sagt er: «Ich glaube, 2050 wird es nicht mehr viele Menschen in Europa übrig haben, die sich wie ich öffentlich dazu bekennen, Juden zu sein. Der Nazi-Traum wird wahr werden: Europa wird judenrein.»Seit letzter Woche tobt im Nahen Osten ein Krieg gegen Israel. Das führt in Europa zu zahlreichen Protestaktionen – aber nicht, wie man sich vielleicht denken könnte, um Solidarität für das unter Beschuss stehende Israel zu bekunden, nein, in Deutschland, England und auch in der Schweiz gehen Menschen für die Palästinenser auf die Strasse. Ganz offen (und konsequenzenlos) wird Antisemitismus und Judenhass zelebriert.

Die Vorfälle, die sich am Samstag etwa in Basel vorgetragen haben, sind alarmierend: An einer Demonstration für die Palästinenser wurde eine Frau, die eine Israel-Flagge bei sich hatte, durch die Strassen gejagt. Ein Demonstrant sagte der «Basler Zeitung»: «Die Frau hätte es verdient, verprügelt zu werden.»Später am Abend konnten rund 40 Gottesdienstbesucher in der Grossen Synagoge das Areal der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB) erst verspätet verlassen. Der Grund: Die Security ging von einer Bedrohung durch zwei Männer aus. Sie wurden von der Polizei kontrolliert, aber nicht in Gewahrsam genommen.

«Apartheidsregime»

Auch in Genf und Zürich wurde demonstriert, Israel als «Apartheidsregime», als «Besatzungsmacht» bezeichnet. In Gelsenkirchen skandierte ein Mob (mit vornehmlich arabisch-stämmigen Personen) vor einer Synagoge «Scheiss Jude! Scheiss Jude! Scheiss Jude!». Israelische Flaggen brannten in mehreren deutschen Städten.Bang stellt sich die Frage, ob de Winters Horrorszenario tatsächlich möglich ist: Vertreibt der grassierende Antisemitismus die Juden aus Europa?

Erik Petry, Professor für Jüdische Studien an der Universität Basel und ein renommierter Experte auf diesem Gebiet, sagt, dass brutale Vorurteile gegen Juden wieder Hochkonjunktur hätten. Das geht nun schon einige Jahre so. Petry hat das schon oft betont – aber er muss es immer wieder sagen: «Wenn man online mal Kommentare liest, gruselt es einem. Da nimmt auch die Gewaltbereitschaft enorm zu. Und sie wird akzeptiert.»Noch sei es aber so, dass der «offenkundige Antisemitismus», der sich etwa in Gelsenkirchen gezeigt habe, in dieser Schärfe noch nicht in der Schweiz angekommen sei. Die Warnungen der Israelitischen Gemeinde Basel zeigten aber die Angst vor einer weiteren Steigerung, und das hiesse dann: physische Gewalt gegen vermeintlich jüdische Personen.

Antisemitismus: rechts, links, muslimisch

Die Angst davor ist berechtigt. Nicht nur Hass und Gewalt gegen Juden in Europa nehmen zu. Auch denkt die jüdische Bevölkerung laut einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) aus dem Jahr 2018 immer stärker über Emigration nach. Die Gründe überraschen nicht: Zunahme der gewaltsamen Übergriffe, Terroranschläge, vehementer Alltags-Antisemitismus von rechts, links und vor allem auch von muslimischer Seite.

Diese Ablehnung von Juden, die nicht selten in purem Hass mündet, ist kaum nachvollziehbar: Juden machen sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland rund 0,2 Prozent der Bevölkerung aus. Aber verantwortlich gemacht werden sie für die grossen Dinge; zuvorderst im perversen Rennen um die widerwärtigste Verschwörungstheorie wird eine jüdische Weltherrschaft proklamiert. Dabei wird zurechtgebogen, vermischt. Petry sagt: «Das Schlimme ist das grosse Unwissen, dabei wird alles durcheinandergebracht: das jüdische Leben hier, die Politik von Israel, der Nahostkonflikt.»

Das grosse Unwissen

Das sehe man auch jetzt wieder. Die Zitate von Demonstranten an der Kundgebung in Basel zeigten dieses Unwissen, das sich in jeder Diskussion Bahn breche. Kaum ein Konflikt führe zu einer solche starken Meinungspolarisierung in Europa. Und das Verrückte daran: «Der Nahostkonflikt ist, verglichen mit anderen Kriegen und Anschlägen, ein kleiner. Doch seit Jahren wird er hochstilisiert, als passierten dort die zahlenmässig grössten Verbrechen.»Die Folgen sind allgegenwärtig: Antisemitische Attacken in der ganzen Schweiz häufen sich, wie viele Medienberichte zeigen – zum Glück, muss man sagen, bisher noch selten gegen Menschen. Woher kommt dieser Hass? Petry sagt: «Das Toxische am Antisemitismus ist: Er kann keiner Gruppe allein zugeordnet werden. Der rechte ist etwa enorm rassistisch. Die Linken dagegen haben das Gefühl, sie seien davor gefeit – dabei gibt es auch unter ihnen viel Antisemitismus. Das ist ihr blinder Fleck.» Und nun sehen wir auch den muslimischen Antisemitismus auf Schweizer und deutschen Stassen.

Der Hass beginnt bereits bei den Kindern, unwissentlich vielleicht, aber wirksam. Petry sagt: «Dass an der Schule ‹Du Jude› wieder als Schimpfwort ein­gesetzt wird, zeigt, dass Dinge wieder sagbar sind, die vor Jahren noch unsagbar waren. Und es nicht erwartet wurde, dass es je wieder so weit kommt. Ich muss aber sagen: Nach 35 Jahren Forschung auf diesem Gebiet habe ich dieses Gefühl leider nie gehabt.»

Reicht das?

In der Schweiz möge es besser sein als in Deutschland oder in Frankreich, «weil die physische Gewalt nicht ausgeprägt ist», wie Petry sagt – aber er sei sich gar nicht sicher, ob das so bleiben werde: «Die aktuelle Situation ist beängstigend.»Ob das reicht, dass sich die Juden in Europa wieder sicher fühlen? Wohl kaum: Petry fordert dringend, dass an den Schulen aufgeklärt und erzogen werde – und dass bei Diskriminierung das Strafgesetz zur Anwendung kommt. Auch hier fragt sich, ob das mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung genug sein wird.