Barbara Spycher
Das umstrittene alternative Kultur- und Begegnungszentrum Reithalle hat sich trotz ständiger Kritik in Bern etabliert. Zum heutigen 20. Geburtstag des Zentrums fordert aber ein interner Kritiker «den Sprung ins 21. Jahrhundert».
BERN ? Das Tor öffnet sich, heraus tritt ein eleganter Mann mit zwei Müllsäcken. Er sieht die leere Terrasse und sagt: «Schön, heute sind noch keine Junkies hier.» Das ist keine Szene aus einem Theaterstück, sondern der Alltag des 48-jährigen Michael Röhrenbach, der im Theater in der Berner Reithalle arbeitet. Seit über einem Jahr ist der Vorplatz des alternativen Kulturzentrums von Junkies und Dealern besetzt. «An guten Tagen sind 150 Leute hier», sagt Röhrenbach sarkastisch. «Das ist unser Hauptproblem, nicht die Randale vom 6. Oktober.»
Und schon wird das Gespräch politisch. Kein Wunder: Die Reithalle ist seit der Besetzung und der Öffnung durch die Stadt vor zwanzig Jahren ein Politikum, zuletzt nach dem 6. Oktober. Ein bürgerliches Komitee mit namhaften Berner Unternehmern lancierte die Petition «Itze längts!». Diese fordert: Schluss mit offener Drogenszene und rechtsfreien Räumen. Denn immer wieder verziehen sich gewalttätige Demonstranten in die Reithalle, wohin die Polizei sie zwar verfolgen könnte, es aber selten tut. Auch in und um die Reithalle sind die Betreiber mit Gewalt konfrontiert, weil das autonome Haus alle möglichen Gruppen anzieht.
Trotzdem: Grundsätzlich in Frage stellt die Reithalle heute niemand mehr. Die vier gewonnenen Abstimmungen haben die Reithalle etabliert, die kulturellen Leistungen werden durch einen Leistungsvertrag mit der Stadt anerkannt.
Ärger über Sprayereien
Diese Zeitung lud den 38-jährigen Wirtschaftsanwalt Beat Brechbühl, Präsidenten des «Itze längts»-Komitees, zu einem Gespräch vor Ort: Dort, wo rund ein Dutzend Leute wohnen und sich über hundert Leute zwischen 15 und 50 Jahren in verschiedenen Arbeitsgruppen engagieren, sei es im Kino, im Dachstock, im Frauenraum, in der Beiz oder in autonomen Politgruppen wie Antifa , Bündnis gegen Rechts oder der Gassenküche. Doch Brechbühl lehnte ab ? keine Lust. Einmal hatte Brechbühl seinen Fuss in die Reithalle gesetzt ? für eine Theatervorführung. Diesmal verpasst Brechbühl mit Michael Röhrenbach einen Gesprächspartner, dessen Ansichten gar nicht so weit von seinen entfernt sind ? auch wenn Röhrenbach die Forderungen des Komitees «naiv» findet. Der 48-jährige Familienvater kam vor 17 Jahren zum ersten Mal als Schauspieler in die Reithalle. Seit fünf Jahren arbeitet Röhrenbach administrativ im Theaterkollektiv.
Brechbühl kritisiert: «Ich sehe keinen Grund, wieso man die Fassade der Reithalle nicht anständig anmalen kann.» Röhrenbach: «Ich fände es auch schön, wenn man statt Sprayereien das Gebäude sehen könnte ? aber das ist nicht durchsetzbar.» Röhrenbach hat ein Zeichen gesetzt und im Innenhof Reben gepflanzt, der die Sprayereien überwuchert.
Brechbühl fordert: «Die Stadtregierung darf den rechtsfreien Raum nicht tolerieren und muss die Polizei hineinschicken, wenn gewalttätige Demonstranten dort Zuflucht suchen.» Für Röhrenbach ist dies «100 Prozent eine Angelegenheit der Stadt, nicht der Mieter». In ihrem Unmut über die Stadtbehörden sind sich die beiden einig. Dass die Stadt die Drogenszene auf dem Vorplatz toleriert, ist auch für Röhrenbach unverständlich. Er räumt allerdings ein, dass es im Reithalle-Kollektiv andere Meinungen gibt. «Alle finden, die Junkies müssen weg, aber die meisten wollen es ohne Repression erreichen.»
Ideologien überdenken
Es sind solche Diskussionen, bei denen Röhrenbach die Strukturen der Reithalle verwünscht. Es ist einzig die Vollversammlung, die massgebende Entscheide treffen kann. Und dort bestimmt nicht die Mehrheit, sondern es wird debattiert, bis Konsens herrscht. «Entscheide, die man sonst in zehn Minuten fällt, brauchen hier mehrere Monate.» Röhrenbach wünscht sich eine gewählte Leitung und dass einige Ideologien überprüft werden. Mit dieser Meinung ist er nicht in der Mehrheit, aber auch nicht allein. «Es gibt ein breites Meinungsspektrum, insbesondere zwischen Politaktivisten und Kultur-Veranstaltern. Wir Veranstalter sind auf Publikum angewiesen.»
Trotzdem hängt Röhrenbach sehr an der Arbeit im Theaterkollektiv, das gesellschaftspolitische Stücke und junge Theaterschaffende fördert, und auch am selbstbestimmten Ort. Doch er wünscht sich, «dass die Reithalle im 21. Jahrhundert ankommt». Im Grunde sei sie sehr konservativ, in den zwanzig Jahren habe sich an den Angeboten, Debatten und Strukturen kaum etwas verändert. «Die Jungen überhöhen die Traditionen, statt sie umzustossen.»