«Ein äusserst effektiver Knüppel»

NZZ am Sonntag.  Ich war einst eine chassidische* Hausfrau in New York, die, 19-jährig mit einem Baby auf dem Arm, zum Telefon griff und die
Polizei anrief, um mich über einen Nachbarn zu beschweren.
Dieser war panisch in die Bremsen getreten, als er in einer
schwer einsehbaren Kurve meinen Kinderwagen stehen sah, und
er hatte mich hysterisch angeschrien: «Was ist nur mit euch allen
los? Warum müsst ihr immer eure Sachen auf der Strasse stehen
lassen?» Er hatte «euch allen» gesagt, erklärte ich dem Polizisten,
also eindeutig ein Fall von Antisemitismus.

Ich war gut darin geschult, Antisemitismus zu erkennen und zu
brandmarken, war ich doch gezeichnet von einer Kindheit voller
Indoktrination, die mir eine schwarz-weisse Weltsicht eingeimpft
hat. Für uns galt unverbrüchlich: Alle Nichtjuden –
ausgenommen von diesem Absolutismus war nur, wer uns
bedingungslos zur Seite stand – sind Antisemiten. Denn
schliesslich waren «sie» es, die an uns die schlimmste Verfolgung
aller Zeiten verübt hatten, und damit waren sie die ewig
Schuldigen . Hätte man mir damals gesagt, dass die Welt auch
anders sein könnte, ich hätte dies nicht gern in Betracht gezogen.

Seit acht Jahren bin ich keine chassidische Hausfrau mehr. Ich
hatte Zeit, zu lernen, die Welt mit anderen Augen zu betrachten.
Aber ich erinnere mich sehr genau daran, was es hiess, auf der
anderen Seite dieser unsichtbaren Grenze zu stehen. An die Art
und Weise, wie ich die Aussenwelt betrachtete, wie für uns die in
ihr lebenden Menschen nur existierten, wenn sie eine uns
dienliche Rolle erfüllten, aber schlagartig zu Feinden wurden,
sobald sie uns im Wege standen. Denn wir hatten einen
«Glücksfall» erlebt – Hitler, der Erzfeind, war zum universellen
Verbrecher erklärt worden. Und so mussten wir nur seinen
Namen ausrufen und mit ihm den Namen der Ideologie, für die
er stand, und schon war uns ein äusserst effektiver Knüppel zur
Hand, eine neuartige und berauschende Macht, mit der wir
einfach alles aus dem Weg räumen konnten, ohne
Konsequenzen befürchten zu müssen. Im Übrigen, so
schlussfolgerten wir, wenn uns schien, dass die Logik nicht ganz
stichhaltig klang: Sie waren es uns schuldig.

Meine erste Reaktion auf das Schild aus dem Aroser Hotel, das
jüdische Gäste explizit zum Duschen vor dem Schwimmen
aufforderte, war Empörung. Wut. Entrüstung. Denn dieses Schild
ist in seiner Formulierung, kennt man den genauen
Zusammenhang nicht, widerwärtig – das will und kann ich nicht
abstreiten. Meine Freundin jedoch, die mir die Foto des Schildes
geschickt hatte – selbst eine säkulare Jüdin –, war weniger gewillt,
die Foto entsprechend den ersten Schlagzeilen zu interpretieren.
Sie forschte nach, regte mich an, es auch zu tun. Nach wenigen
Stunden, als wir mehr über die Entstehungsgeschichte erfahren
hatten, veränderte sich auch unsere Wahrnehmung des Bildes.

In einer Schweizer Zeitung war zu lesen, ein aus Israel
kommender, ehemaliger Stammgast des Hotels habe versichert,
die Verantwortliche des Hotels sei keineswegs antisemitisch. Da
musste ich aufhorchen. Und als ich begriff, worum es sich
wirklich handelte, bekam ich einen flauen Magen. Denn zu
diesem Zeitpunkt war der Knüppel bereits hervorgeholt worden.
Ich las in den Zeitungen, was die üblichen Verdächtigen
forderten: Simon Wiesenthal die Schliessung des Hotels, sein
Direktor für Internationale Beziehungen Untersuchungen und
juristische Schritte, Israels Aussenministerin Ermittlungen gegen
die Verfasserin des Schildes wegen Hasskriminalität.

In der öffentlichen Wahrnehmung war die arme, naive Frau
bereits zum Nazi abgestempelt worden – ja im Grunde waren es
alle Schweizer. Diese Foto hatte es endgültig und umfassend
bestätigt. Als meine Freundin auf Facebook eine etwas
differenziertere Sicht vorschlug, wurde sie prompt als Person
denunziert, die den Antisemiten Nahrung bietet. Der Knüppel,
das sei nebenbei erwähnt, ist keineswegs nur für Nichtjuden
bestimmt.

Ich hatte den Knüppel schon zuvor in Aktion gesehen. Und ich
hatte gelernt, dass meine chassidische Gemeinde keineswegs
das Monopol auf ihn hat – selbst säkulare Juden holen ihn
dankbar hervor, auch wenn sie damit ein Segment ihrer
Gesellschaft decken, mit dem sie nicht nur nicht
übereinstimmen, sondern für das sie häufig persönlich Scham
empfinden. Und doch wollen sie, übrigens oft dieselben, die
muslimische Mitbürger aufgrund ihrer Behandlung von Frauen
kritisieren, nicht sehen, was im Namen ihrer eigenen ethnischen
Identität an Unrecht geschieht. Lieber holen sie den Knüppel
hervor.

Wir hatten in Erfahrung gebracht, dass in Arosa offenbar
Mitglieder der chassidischen Gemeinde einen Pool nutzten, ohne
die geltende Regel, zuvor zu duschen, befolgen zu wollen.
Warum? Die Erklärung ist einfach: Chassidische Männer nutzen
ausschliesslich das rituelle Bad als spirituelle Reinigung. Man
taucht in das heilige Wasser ein und ist mit diesem Vorgang
gereinigt. So ging mein Grossvater, wie alle anderen Männer
meiner Familie auch, täglich ein- oder sogar zweimal zur Mikwe,
zum rituellen Bad, da sie glaubten, diese Form der Hygiene habe
uns Juden im Mittelalter selbst vor der Pest geschützt. So habe
ich niemals einen Mann aus meiner Familie zum Duschen gehen
sehen. Warum also sollten diese Männer nun der Aufforderung
einer Nichtjüdin Genüge tun, wo ihnen das Duschen doch
wesentlich fremd war?

Allgemein wird in einem Hotel wie an fast allen mehr oder
weniger öffentlichen Orten von allen Gästen eine gewisse
Anpassung erwartet. So funktioniert gesellschaftliches
Zusammensein. Niemand ist gezwungen, sich in einem Hotel
aufzuhalten, dessen Regeln ihm zuwiderlaufen. Betreten aber
Chassidim einen hoteleigenen Pool, so tun sie dies mit dem
Selbstverständnis, dass keine einzige Regel der Aussenwelt für
sie Gültigkeit besitzt: Von Relevanz sind für sie allein die von
Rabbinern erlassenen Regelwerke. Um dieser Tatsache Rechnung
zu tragen, war es notwendig, die Chassidim explizit
anzusprechen, was die Frau zuvor mehrmals und auf
verschiedene Weise getan hatte. Das Problem war dabei nie, den
chassidischen Juden erklärt zu haben, dass sich alle an das dort
geltende Regelwerk anzupassen hätten – das Problem war die
Verwendung der Worte «Juden» und «duschen».

Das Schild war in seiner Form dumm, naiv und beleidigend. Und
doch kann ich mich in diese Frau hineinversetzen. Ich erinnere
mich an den panischen Blick einer Stewardess, als sie sich mit
wütenden chassidischen Männern konfrontiert sah, die ihre
Plätze wechseln wollten, um nicht neben Frauen sitzen zu
müssen. Es ist der Blick eines in die Falle gelaufenen Tieres. Und
gefangene Tiere beissen.

Ich habe von diesem Schild an dem Tag erfahren, als ich von den
Ereignissen in Charlottesville hörte. Dort lag eine Frau tot auf der
Strasse, dort wurde gegen Juden gehetzt: «Juden werden uns
nicht verdrängen.» Es waren Hakenkreuze, Hitlergrüsse, echte
Knüppel in beispiellosem Ausmass zu sehen, während man hier
auf eine Frau losging, die achtlos gehandelt hatte. Für jüdische
Institutionen aber würde eine Auseinandersetzung mit den
neusten Entwicklungen in den USA bedeuten, moralische über
egoistische Interessen zu stellen. Öffentlich einzugestehen, dass
Trump der Verantwortliche des derzeitigen Aufstiegs von
Antisemitismus in den USA ist, hiesse, den Mythos einer
Freundschaft zwischen Trump und Israels Regierungschef
Netanjahu zu entwerten – und so bleibt der Knüppel stecken.
Eine hilflose Frau anzugreifen, ist leichter und fühlt sich besser
an. Es ging bei all der Aufregung nie darum, sie aufzuklären oder
zu belehren. Eine kleine, zufällig gefundene Schuldige wollte man
zugrunde richten, statt sich gegen eine reale Bedrohung deutlich
zu wehren. Das ist unverhältnismässig, verantwortungslos und
unübersehbar kurzsichtig.

Die Frau aus dem Hotel in Arosa hat sich zu Recht entschuldigt
für ihren Fehler. Und ich möchte mich nun bei ihr entschuldigen
dafür, dass sie sich in einer Situation wiederfinden musste, in der
es überhaupt zu so einem Fehler kommen konnte, dessen Folgen
sie ein Leben lang begleiten können. Die Menschen, die ihr jetzt
Hassmails senden, möchten uns glauben machen, es gebe eine
grundlegende, spirituelle Unverträglichkeit zwischen orthodoxer
jüdischer Praxis und respektvoller Interaktion mit der
Gesellschaft. Sie fordern für ihre Gruppe eine absolute Toleranz,
die sie bei anderen Gruppen niemals akzeptieren würden. Die
hässliche Wahrheit lautet aber: Es handelt sich nicht um
Unverträglichkeit, sondern um Bequemlichkeit. Damit fördern sie
ein menschenfeindliches Weltbild für eine Gemeinschaft, die nur
überleben kann, indem sie um sich eine unüberwindbare Grenze
errichtet.

Es ist fatal, in einem Fall wie diesem den Knüppel hervorzuholen.
Das Schild war furchtbar, ja. Die Hintergrundfakten aber wurden
bei der Debatte vertuscht. Das ist gefährlich, vor allem, da es sich
bei Antisemitismus um eine wirkliche Gefahr handelt und es
zynisch wäre, dies zu vergessen. Man schreit «Wolf!», wo keiner
ist. Und wenn der Wolf dann kommt, will einem niemand mehr
glauben. Einige werden sagen, ich sei selbst eine Antisemitin,
aber auch sie benutzen den Knüppel nicht, um den legitimen
Feind zu besiegen, sondern um sich einen Weg zu bahnen,
selbstgerecht, für sich allein. Um ihre eigene Position in der
Gesellschaft zu untermauern, um ihre eigene Stimme gehört zu
wissen, um persönliche Macht auszuüben. Indem sie dies tun,
schwächen sie die Sache, für die sie das Wort zu erheben
vorgeben.

Ich habe einen jüdischen Sohn und denke über die
Unvermeidlichkeit nach, dass er eines Tages, wenn er grösser
sein wird, zum ersten Mal einem wirklichen Antisemiten
begegnet, in einer Situation, in der ich ihn nicht beschützen kann.
Wenn – nicht falls – dies geschieht, so ist das Geringste, was ich
mir erhoffe, dass ihn dann Menschen tatsächlich ernst nehmen,
ihm Glauben schenken: Wenn aber die üblichen Verdächtigen in
einem Fall wie jenem dieser Frau «Boykott» und «Nazi» schreien,
wie sollen die Menschen ihm später trauen? Mir wird schlecht bei
der Vorstellung, die Anklage «Antisemitismus» könnte bald schon
keine Bedeutung mehr haben.Durch den reflexhaften und unreflektierten Alarmruf «Antisemitismus» angesichts einer Hoteliersfrau, die auf
unbeholfene Weise versucht, die durchaus verständlichen
Interessen der Mehrzahl ihrer Gäste und ihre davon abgeleiteten
Regeln durchzusetzen, folgen wir Juden einer lächerlichen und
abträglichen Pflicht, das perfekte Eigenbild zu pflegen, und
verschleiern dabei zwanghaft eigene Makel in unserer Mitte. Und
indem wir auf der anderen Seite in diesem zweifellos
bestehenden Makel in einzelnen Segmenten der Gesellschaft ein
Argument für Intoleranz und Ablehnung gegenüber der
gesamtem nichtjüdischen Gesellschaft sehen, bestätigen wir nur
unsere schlimmsten Befürchtungen über uns selbst; am Ende ist
nichts so antisemitisch wie das Unvermögen, unsere eigene
Menschlichkeit und damit Fehlbarkeit anzuerkennen und uns
mutig mit ihr auseinanderzusetzen, anstatt sofort zum Knüppel
zu greifen.

*Der Chassidismus ist eine Variante des ultraorthodoxen
Judentums.