Die Wochenzeitung.
Auf dem Messengerdienst Telegram kursiert ungehindert rechtsextreme Propaganda. Die deutsche Regierung hat jüngst eine Sperre der Plattform ins Spiel gebracht. Wäre das sinnvoll?
Anlässlich des Holocaustgedenktags Ende Januar sprach der Zentralrat der Juden in Deutschland von einem «erschreckenden Ausmass an Antisemitismus», das gegenwärtig zu verzeichnen sei. Tatsächlich ist Holocaustrelativierung bei Coronaprotesten fast Alltag: Auf Demos sind selbstgebastelte Davidsterne zu sehen. In Köln tauchte 2021 sogar ein Flugblatt auf mit der Frage: «Haben wir wirklich ein Coronaproblem? Oder haben wir nicht vor allem ein Judenproblem?»
Entfesselt äussert sich der Antisemitismus auch online. Der vor ein paar Tagen auf Arte ausgestrahlte Dokumentarfilm «lud Süss 2.0. Vom NS- zum Online-Antisemitismus» kommt gar zum Schluss, dass derzeit «ein nie gesehenes Ausmass an antisemitischen Hassreden» im Umlauf sei – und dies vornehmlich im Netz. Der Film widmet sich vor allem der antisemitischen Bildsprache, deren Codes sich kaum verändert haben: Hetzten die Nazis einst gegen «kosmopolitische Juden», die nirgends verwurzelt seien, geht es heute gegen eine «globalistische Elite», der die Pandemie zur Neuordnung der Welt diene. Beides läuft auf dieselbe rassistische Projektion hinaus.
Hetze vor Massenpublikum
Besonders weitverbreitet ist solche Propaganda auf Telegram, einem Hybriden aus Messengerdienst und sozialem Netzwerk. Kanäle wie «Die Juden sind unser Unglück» sind dort leicht zu finden. Auch der deutsche Rechtsextreme Attila Hildmann, als Kochbuchautor bekannt geworden, betreibt auf Telegram mehrere Kanäle. Er schwadroniert dort vor Zehntausenden Abonnent:innen etwa über die geheimen Symbole vermeintlich jüdischer Politiker:innen oder darüber, dass Deutschland unter jüdischer Besatzung stehe.
Telegram zeigt derweil kein Interesse, etwas dagegen zu tun. Schon im Herbst gab es in London Proteste gegen die Plattform, weil Antirassist:innen ihr vorwarfen, «eine Jauchegrube voller Antisemitismus» zu sein. Der vom russischen Unternehmer Pawel Durow gegründete Dienst ist bekannt dafür, Inhalte nur selten zu löschen und nicht mit Behörden zu kooperieren. Und wo doch, bedarf es schon historischer Umstände: So sperrte Telegram 2015 nach den Terrorangriffen in Paris mehrere islamistische Kanäle, Anfang 2021 blockierte die Plattform nach der Attacke auf das Kapitol in Washington rechtsextreme US-Kanäle. Dies waren aber Ausnahmefälle. In Deutschland hat nun die Politik den Dienst ins Visier genommen. In einem Interview mit der «Zeit» schloss die SPD-Innenministerin Nancy Faeser nicht aus, Telegram sogar komplett zu sperren, sollte die Plattform trotz der sich dort häufenden Mordaufrufe nicht mit den Ermittler: innen kooperieren – eine Drohung, die Wellen schlug, auch wenn Faeser sie später relativierte.
Denn Telegram wird auch von Oppositionellen unter autoritären Regimen genutzt. Und Durow selbst mag zwar ein dubioser Libertärer sein, er kuschte aber nicht vor dem russischen Staat, als dieser von ihm Daten von Kremlkritiker:innen wollte. Zudem ist Telegram enorm gewachsen, mehr als 5oo Millionen Menschen nutzen den Dienst laut Firmenangaben – die allermeisten zum privaten Austausch.
Zentrale in Dubai
Fraglich ist überdies, ob der deutsche Staat überhaupt die Mittel hätte, Telegram an die Kandare zu nehmen. Die Firmenzentrale liegt weit weg in Dubai. Theoretisch denkbar wäre eine Sperrung der IP-Adressen, die Telegram nutzt. Allerdings versuchte Russland 2018 genau das – ehe man zurückruderte, da von der Sperre auch unbeteiligte Internetseiten betroffen waren. Grundrechtlich ist eine solche ohnehin sehr fragwürdig. Gleichzeitig ist Telegram ein milliardenschweres Unternehmen, das eine quasiöffentliche Infrastruktur zur Verfügung stellt. Dass eine solche Plattform sich demokratischer Regulierung nicht entziehe, ist eine legitime Forderung.
Im Film «lud Süss 2.0» bezweifelt Julia Ebner, die zum Onlineextremismus forscht, die Effektivität von Sperren: Hetzkanäle würden in der Regel einfach auf andere Anbieter ausweichen. Stattdessen plädiert die Wissenschaftlerin dafür, in Bildung zu investieren, um über rechtsextreme Codes aufzuklären. Das wäre gewiss langwieriger, würde aber im Idealfall demokratisch-widerständige Bürger:innen schaffen. Aktuelles Anschauungsmaterial für den Unterricht gäbe es genug.