Die Wochenzeitung. Die WOZ hat letzte Woche dem Historischen Lexikon der Schweiz einen Eintrag zum Thema Rassismus geschenkt. Dessen Direktor will den Entwurf im Rahmen einer postkolonialen Offensive weiter bearbeiten.
Interview: Kaspar Surber
WOZ: Christian Sonderegger, unsere Zeitung hat dem «Historischen Lexikon der Schweiz» («HLS») letzte Woche einen Vorschlag für einen Eintrag zum Thema Rassismus gemacht. Werden Sie diesen übernehmen?
Christian Sonderegger: Erst mal herzlichen Dank für den Beitrag! Es freut uns, dass auch Ihnen die Weiterentwicklung des «HLS» ein Anliegen ist. Mit Ihrer Initiative rennen Sie offene Türen ein. Das Lexikon ist das Produkt der historischen Forschungsgemeinschaft in der Schweiz, da das «HLS» selbst keine eigene Forschung betreibt, sondern deren Ergebnisse verarbeitet. Wir werden den Entwurf von Bernhard C. Schär – einem ausgewiesenen Experten zu diesem Thema – gerne diskutieren.
Wie beurteilen Sie dessen Stossrichtung?
Der Entwurf ist eine tolle Basis. Über einzelne Punkte lässt sich sicherlich noch streiten: Etwa ob man den Beginn des Rassismus tatsächlich erst um 1500 ansetzen soll oder ob die Frühe Neuzeit nicht etwas stiefmütterlich behandelt wird, Stichwort «Biologisierung ständischer Unterschiede». Auch frage ich mich, ob alle im Entwurf aufgezählten Beispiele von Diskriminierung, Ausgrenzung und Ausbeutung unter die aufgeführte Definition von Rassismus zu subsumieren sind. Aber wie gesagt, wir stehen am Anfang der Diskussion, auf die wir uns freuen.
Ein Eintrag zum Rassismus fehlte bisher im «HLS». Warum?
Die Konzeption des Lexikons stammt aus einer Zeit, als die Erforschung der kolonialen Vergangenheit der Schweiz noch in den Anfängen steckte. Um das zu korrigieren, haben wir das Projekt «Koloniale Schweiz» lanciert. In einem ersten Schritt definieren wir, welche Stichwörter neu ins Lexikon kommen und welche bestehenden Beiträge neu geschrieben werden müssen. Im Eintrag zu «Fremden Diensten» etwa wird nicht erwähnt, dass Schweizer Söldner Sklavenaufstände bekämpft haben. Bei der Baumwolle oder der Schokolade fehlt der Verweis auf Sklavenarbeit. Die ersten neuen Einträge wollen wir gegen Ende des Jahres publizieren, über das ganze Projekt in der ersten Hälfte von 2021 informieren.
Wie gehen Sie bei einer Überarbeitung vor?
Nehmen wir John A. Sutter: Der Baselbieter wurde in Kalifornien zu einem berühmten Goldgräber, in der Schweiz zum Vorzeigepionier, gar zum Protagonisten literarischer Werke. Dem bisherigen Beitrag im «HLS», durchaus kritisch im Ansatz, mangelt es an entscheidenden Fakten, wie die Historikerin Rachel Huber aufgezeigt hat: etwa Sutters Beteiligung am Sklavenhandel oder an der Vertreibung und der Dezimierung der indigenen Bevölkerung in den USA. Rachel Huber hat zugesagt, eine neue, vollständigere Biografie zu schreiben.
Mit ein paar kritischen Anmerkungen ist es also nicht getan?
Nein, in vielen Fällen nicht. Meist entscheiden wir uns für eine Neufassung, weil sonst schnell der Eindruck eines Gebastels entsteht. Zudem sind aber auch die Interessen der bisherigen Autorinnen und Autoren zu berücksichtigen.
Gibt es auch Widerstände gegen Überarbeitungen oder die Wahl der Schreibenden?
Bisher gab es noch keine grundsätzlich negativen Reaktionen auf Überarbeitungen, was Qualität oder Stossrichtung der Inhalte angeht. In der Regel versuchen wir ja, Autorinnen und Autoren zu verpflichten, die wissenschaftlich zum Thema publiziert haben. Die gelieferten Inhalte werden durch unsere Redaktion, aber auch durch externe Fachpersonen begutachtet, korrigiert und redigiert. Die Wahl der Autorinnen und Autoren kann natürlich durchaus zu einem Politikum werden: Wer soll etwa den Artikel über Exbundesrat Christoph Blocher schreiben?
Die Geschichtsforschung muss oft mit knappen Mitteln auskommen. Wie steht es um die Finanzierung des «HLS»?
Für die nächsten Jahre scheint die Finanzierung gesichert. Allerdings sind die Mittel sehr knapp. Der Bundesbeitrag wurde gegenüber den Zeiten der Druckversion praktisch halbiert. Das bedeutet, dass wir längst nicht alles umsetzen können. Sparpotenzial besteht wenig, schon gar nicht bei den externen Kosten: Es ist uns wichtig, unseren Autoren und Autorinnen einigermassen anständige Honorare zu zahlen.
Auch Lexika haben eine Geschichte. Wie beliebt sind sie im digitalen Zeitalter?
Seit wir vor einem Jahr unseren neuen Onlineauftritt realisiert haben, ist die Zahl der täglichen Besucher um die Hälfte gestiegen. Gerade im Lockdown erreichte die Nachfrage ein Rekordniveau. Allgemein kann festgestellt werden, dass die Informationsvermittlung im Internet häufig in Form von Lexika erfolgt, selbst wenn sie nicht unter diesem Titel laufen: Lexika liegen im Trend.
Christian Sonderegger (60) ist Direktor des «Historischen Lexikons der Schweiz». Vom Bund finanziert, erschien das «HLS» zwischen 2002 und 2014 in gedruckter Form. Seither wird es online laufend erweitert. Für das Lexikon arbeiten dreizehn fest angestellte RedaktorInnen. Die Einträge stammen von über tausend AutorInnen. www.hls.ch.