Die Wochenzeitung.
Warum sollten wir nicht erstaunt sein, wenn auf Demos gegen die Pandemiemassnahmen plötzlich Regenbogenfahnen neben Reichsflaggen wehen? Der Journalist und Autor Andreas Speit über falsche Querfronten, die Mittelschichts-Bio-Bohème und die befreiende Wirkung einer Impfpflicht.
Interview: Sarah Schmalz
WOZ: Herr Speit, in Ihrem Buch «Verqueres Denken» taucht der schöne Begriff «Lustbürger» auf. Was ist ein Lustbürger für Sie?
Andreas Speit: Bei den ersten Recherchen für mein Buch ist mir aufgefallen, dass zu den Protesten gegen die Anticoronamassnahmen viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft kamen. Natürlich ist es legitim, auch in einer Pandemie den Staat zu hinterfragen. Aber mir scheint, dass viele, die gegen die Massnahmen demonstrieren, nur ihre eigenen Interessen und Vorrechte schützen und ausleben möchten. Diese Leute machen sich für «Grund- und Freiheitsrechte» stark und proklamieren für sich das Recht auf den Schutz des eigenen Körpers. Sie wollen sich nicht bevormunden lassen – ignorieren aber komplett, dass sie, wenn sie Masken und Impfung verweigern, den Schutz anderer gefährden. Der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, der die Langzeitstudie zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Deutschland mitverfasste, sprach schon früher von «roher Bürgerlichkeit». Der Begriff «Lustbürger» hingegen ist eine Selbstbezeichnung.
Er entstammt einem Demonstrationsaufruf einer anthroposophischen Vereinigung – die darin zur Revolution der «Lustbürger» auffordert. Eine Selbstentlarvung?
Ja. Ich betone, dass die Menschen, die radikal gegen die Coronamassnahmen sind, nicht quer denken, sondern egoman. Beide Zuschreibungen erfassen gut, dass es nur um das Eigene geht – von der eigenen Wahrheit über das eigene Rechtsverständnis bis zur eigenen Lust.
Neben Rechten gehen in allen deutschsprachigen Ländern aber tatsächlich auch Leute auf die Strasse, die sich selbst links verorten.
Klar, aber wer mit Rechtsextremen auf die Strasse geht und sich daran längst nicht mehr stört, muss sich die Frage gefallen lassen, ob die Selbstwahrnehmung nicht etwas getrübt ist. Ein Teil der Demonstrant:innen mag zwar einem alternativen Milieu entstammen, einer Mittelschichts-Bio-Bohème, die offen ist für Homöopathie, Waldorf-Pädagogik, Esoterik und Anthroposophie. Man kauft vielleicht ökologisch ein, betreibt Yoga oder Carsharing. Diese Lebenshaltung und -führung ist aber noch lange nicht links. Wer sich unsolidarisch in einer Gesellschaft bewegt, hat auf seinem Weg vielmehr zentrale linke Werte aufgegeben. Einzelne in dem Netzwerk kommen zwar aus dem linken Milieu, sie stehen jedoch nicht für grössere Projekte. Der Begriff «Querfront» erscheint mir deswegen als unpassende Phänomenbeschreibung.
Wenn jemand Rastalocken und Batikshirt trägt, erkennen wir ihn nicht als Rechten?
Eine Studie um den Soziologen Oliver Nachtwey zu den Coronaprotesten zeigt, dass von den befragten Protestierenden bei der Bundestagswahl 2017 21 Prozent die Grünen und 17 Prozent die Linke gewählt haben. 14 Prozent stimmten für die AfD. Bei der letzten Bundestagswahl wollten aber 27 Prozent der AfD ihre Stimme geben. Und im November vergangenen Jahres offenbarte eine Forsa-Studie, dass 50 Prozent der Ungeimpften AfD gewählt haben. Ich glaube tatsächlich, dass wir uns davor gedrückt haben, das alternative Milieu kritisch zu hinterfragen. Wenn wir über Rechtspopulismus oder Rechtsextremismus reden, schauen wir uns das konservative Milieu an, wir blicken auf das neoliberale Milieu, auch auf das sozialdemokratische. Aber das linksalternative Milieu wird ein bisschen ausgeblendet. Wenn ich zum Beispiel in der «taz» schreibe, dass bei linken Ökoprojekten rechte Akteure mitwirken, ist die erste Reaktion oft: «Macht doch nicht so ein gutes Projekt mit so einem guten Anliegen kaputt.» Aber darum gehts nicht. Es geht darum, Ambivalenzen aufzuzeigen. Das Verbindende zwischen den Phänomenen liegt meiner Meinung nach im antimodernen Reflex.
Und dieser hat eine lange Tradition: Sie beschreiben die Coronaleugner:innen-Szene als eine neue Lebensreformbewegung und ziehen Vergleiche zu den Lebensreformer:innen im frühen 19. Jahrhundert. War die damalige Kritik an Industrialisierung und Kapitalismus aber nicht inhärent links?
Schon damals hatten wir eine Such- und Gegenbewegung von Menschen, die sich berechtigte Sorgen machten. Die Lebensreformer:innen beklagten die «Entzauberung» der Welt. Sie befürchteten, wie es auch Karl Marx formuliert hat, dass Ratio und Logik zu einer Entfremdung von uns selbst, unseren Mitmenschen und der Natur führen würden und letztlich zur Zerstörung des Mitmenschlichen und der Natur. Der Fortschritt führte damals zu desaströsen gesellschaftlichen Entwicklungen, vom Raubbau an Mensch und Natur bis zu Börseneinbrüchen und Umweltzerstörung. Auch heute erleben wir massive Erschütterungen. Vor wenigen Jahren hatten wir massive Wirtschaftskrisen und die Debatte um den Euro. Wir spüren die fortschreitende Digitalisierung von Arbeit und Alltag und die Auswirkungen der forcierten Neoliberalisierung. Auch der Klimawandel, der unserer Lebens- und Arbeitsweise klare Grenzen setzt, rückt immer mehr ins Bewusstsein. Viele Menschen finden berechtigterweise, dass wir so nicht leben sollten. Die Forderung nach einem «Zurück zur Natur» ist heute viel weiter verbreitet als noch vor ein paar Jahren. Wie bei der Lebensreformbewegung des 19. Jahrhunderts sind aber auch in der aktuellen Suchbewegung sowohl emanzipatorische Hoffnungen als auch reaktionäre Vorstellungen virulent.
Können Sie das etwas ausführen?
Die «Entzauberung der Welt» ist mehr als zu hinterfragen. Der Soziologe Max Weber warnte aber, dass mit der «Verzauberung der Welt» wiederum eine gefährliche Idealisierung der Natur und Remythologisierung des Denkens einhergehe, die uns Menschen die Möglichkeit nimmt, die Welt zu erkennen und zu gestalten – das zentrale Glücksversprechen der Aufklärung. Diese Kritik an der Moderne kritisiert nicht die Machtverhältnisse. Sie setzt stattdessen die Versprechen der Aufklärung mit der kapitalistischen Wirklichkeit gleich. Auf dieser Gleichsetzung fussen Irrationalismus und Romantik und deren Sehnsucht nach einer «natürlichen», «göttlichen» Ordnung. Der ungarische Philosoph Georg Lukács hat schon früh betont, dass im Irrationalismus die Gefahr einer faschistischen Reaktion immanent ist. Ich finde es ernüchternd, dass wir das offenbar nicht reflektiert haben. Deshalb waren dann auch viele so überrascht, dass bei den grossen Demonstrationen Regenbogenfahnen neben Reichsflaggen im Wind standen.
In Ihrem Buch schälen Sie reaktionäre und antihumanistische Tendenzen in der antikapitalistischen Linken, bei Esoteriker:innen oder in der ökologischen Siedlungsbewegung heraus. Wie lassen sich diese zusammenfassen?
Ein antimoderner Reflex kann zu esoterischen Konzepten führen. Und zur Esoterik gehört ein gewisses Elitedenken: Nur bestimmte Menschen können die Welt spirituell erkennen. Eine Parallele zum rechten Elitedenken.
Eine weitere betrifft die Festschreibung von Geschlechterrollen – auch in der Esoterik gibt es diese Bilder des kämpferischen Mannes und der naturverbundenen Frau. In diesem Milieu wirkt sich auch ein romantisiertes Bild der Mütterlichkeit aus. Frauen sind bei den Protesten stark präsent. Eine wissenschaftliche These dazu ist, dass sie das Mutterbild aus der Romantik so verinnerlicht haben, dass sie sich in ihrer Identität angegriffen fühlen, wenn der Staat plötzlich über den Schulbesuch ihrer Kinder oder den Altersheimbesuch bei den Eltern entscheidet. Diese Form von Mütterlichkeit findet sich sowohl im rechtsextremistischen oder konservativen Milieu als auch in der Bio-Bohème – natürlich mit individuellen Nuancen, aber entscheidende Gemeinsamkeit ist die feste Zuschreibung von Mütterlichkeit auf Frauen.
Gibt es weitere Gemeinsamkeiten?
Das Erahnen von irgendwelchen Kräften im Hintergrund. Antisemitische Verschwörungsmythen sind auch in links-antikapitalistischen Kreisen verbreitet. Aus den «Mächtigen im Hintergrund» werden in rechteren Kreisen dann «die Rockefellers, die Rothschilds …» Es wird suggeriert, dass jüdische Grossfamilien im Hintergrund wirkten. Eine weitere Gemeinsamkeit kann das Naturverständnis sein: Schon die erste Lebensreformbewegung trieb eine grosse Sehnsucht nach dem Ursprünglichen an. Diese Vorstellung, die Menschen hätten einst im Einklang mit allem gelebt: Das ist nicht weit weg von einer völkischen Gemeinschaft. Und diese Idee des Einklangs kann auch bedeuten: Man stirbt im Einklang mit der Natur.
Das Virus als notwendige Reinigung?
Genau. Ein solches Verständnis von Mensch-Erkrankung-Natur kann in einem Sozialdarwinismus enden: «Die Natur will es.»
Warum ist der antimoderne Reflex derzeit so stark?
Wie gesagt, wir sehen ja die Zerwürfnisse in den Gesellschaften, die Zerstörung der Natur und die entsprechenden Folgen. Ich möchte mich nicht in den Diskurs einreihen, wo alle alternativen Projekte als «Gutmenschentum» gebrandmarkt werden, als «68-versifft». Ich repetiere nicht die konservativen Feuilletons, die beklagen, dass keine Herrenwitze mehr erzählt werden könnten, dass der SUV einem madig gemacht und sogar das Schnitzel verboten werde. Im Gegenteil. Ich möchte aufzeigen, über welche Probleme wir reden müssen, damit wir unsere eigenen kritischen Positionen besser formulieren und eine emanzipatorisch-alternative Perspektive entwickeln können. Diese Pandemie ist so einschneidend, dass es nachvollziehbar ist, warum Menschen sich in Verschwörungsnarrativen verrennen. Das gibt Halt, die Welt wird vermeintlich erklärbar – und bei Männern ist es dann meistens so, dass sie gleich anderen die Welt erklären können.
Gerade in der Pandemie zeigt sich in fataler Weise, was passieren kann, wenn sich ein relevanter Teil der Bevölkerung nicht mehr von Fakten abholen lässt. Die Impfquote ist in allen deutschsprachigen Ländern viel zu niedrig. Wie gehen wir damit um?
Was wir jetzt gerade erleben, ist: Es reicht halt nicht. Es sind eigentlich gar nicht so viele, die sich nicht impfen lassen wollen. Aber dann eben doch so viele, dass daraus sowohl ein Gesundheitsproblem als auch ein politisches Problem wird. In den Telegram-Kanälen der Massnahmengegner:innen findet ja im Moment eine komplette Zerstörung der Wirklichkeit statt. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden permanent mit Fake-Infos infrage gestellt. Es ist völlig legitim, wissenschaftliche Erkenntnisse kritisch zu diskutieren; auch die Wissenschaft selbst revidiert ständig ihre Aussagen, wenn es neue Forschungserkenntnisse gibt. Aber aus Wissenschaftskritik ist längst eine Wissenschaftsfeindlichkeit geworden, und im schlimmsten Fall werden daraus eben Verschwörungserzählungen. Ich glaube, wir müssen härter in die Auseinandersetzung gehen.
Wollen Sie den Konflikt noch weiter schüren?
Die Gesprächsangebote an die Querdenker:innen haben sie nicht moderater werden lassen. Vielmehr fühlen sie sich ermutigt und treten immer noch ein Stück aggressiver auf. Diese Diskussion führen wir ja auch im Kontext des Rechtsextremismus und der intellektuellen Rechten immer wieder. Wir müssen den Mut haben, zu sagen: «Halt, stopp, bis hier und nicht weiter.» Ganz banal müsste man zum Beispiel Kundgebungsverbote oder die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr auch durchsetzen. Und wir müssen über eine Impfpflicht streiten.
Sie plädieren für eine Impfpflicht? Viele Ethiker:innen halten eine solche für falsch. Sie betonen, dass damit das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt würde.
Die Schwierigkeit ist, dass sich beim Impfen einzelne Personen das Recht herausnehmen zu sagen: Ich möchte das individuell für mich nicht. Aber die individuelle Entscheidung hat kollektive Auswirkungen – von der Verbreitung des Virus bis zur Inbeschlagnahme der medizinischen Ressourcen. Ich finde es deswegen legitim zu sagen: In einer solchen Pandemie müssen solche individuellen Rechte vielleicht weniger gewichtet werden, damit die Rechte des Schutzes aller zum Tragen kommen können.
Liegt das Hauptproblem nicht ohnehin in einem Kommunikationsversagen der Regierungen? Zumindest in der Schweiz war man zu Beginn der Impfkampagne äusserst zurückhaltend. Man betonte fortlaufend, das Impfen sei eine freie Entscheidung, sprach anfangs nur für ältere Menschen und Risikogruppen eine klare Empfehlung aus, erklärte eine Impfpflicht zum absoluten Tabu. Bestärkt dies Skeptiker:innen nicht in ihrer Haltung?
Man muss schon deutlich sagen: Wir haben so eine Pandemie noch nie erlebt. Es ist klar, dass dann auch mal Sätze fallen, bei denen man sich im Nachhinein denkt: Das war nicht so klug. Ich glaube, dass es ein sehr unglücklicher Moment war, rote Linien zu formulieren, obwohl man überhaupt nicht wusste, wie die Pandemie verlaufen würde. Man hat sich damit eine schlechte Ausgangslage geschaffen, um auf eine hohe Impfquote hinzuwirken. Heute stehen wir ausserdem vor dem Dilemma, dass sich schlechter auf eine Impfpflicht pochen lässt, weil das Versprechen «Einmal durchimpfen, dann haben wir unser altes Leben wieder» epidemiologisch nicht haltbar ist. Dennoch bleibt die Impfung einer der wesentlichen Faktoren im Kampf gegen das Virus. Mit Regeln wie 2G legt der Staat die Verantwortung ins Private. Mit der Impfpflicht würde die Politik die Verantwortung übernehmen. Die Menschen könnten dann auf den Staat schimpfen statt aufeinander.
Wäre eine Impfpflicht vielleicht sogar ein Ausweg für viele, die sich verrannt haben? Selbst wer die Meinung ändert, traut sich ja kaum, das in einem impfskeptischen Umfeld zuzugeben.
Ich muss da gerade an einen Radiobeitrag des Deutschlandfunks denken. Es ging um irgendein Tal in der Schweiz, wo kein Mensch geimpft ist. Der Bürgermeister sagte am Ende des Beitrags, dass es wohl das Beste wäre, das Impfen in der Gegend einfach zu verbieten. Weil die Leute immer gegen das seien, was von oben komme. Das fand ich auch einen sehr charmanten Gedanken. Aber ich möchte noch einmal auf das Argument der körperlichen Unversehrtheit zurückkommen.
Bitte.
Ich denke, dass viele so argumentieren, die es eben nicht gewohnt sind, hart reglementiert zu werden. Wenn man sich die Berufsfelder der Coronademonstrant:innen anschaut, sind das oft Personen, die eben nicht am Fliessband stehen, deren Leben nicht durch die Arbeit durchgetaktet ist. Sie sind eher ein bisschen flexibler, können ihr Leben individueller gestalten. Und auf einmal gibt es staatliche Reglementierungen, die sie direkt treffen: erst der Mundschutz, den sie als Maulkorb hochemotional politisiert haben; und jetzt das Impfen. Das, was sie individuell stört, nehmen sie als Verletzung von Grund- und Freiheitsrechten wahr. Aber man muss ganz deutlich sagen: Der Urlaub auf einem Biohof in der Toskana ist kein Grundrecht.
Ich denke, dass sich viele nicht deshalb radikalisieren, weil sie mit Reichsbürger:innen auf der Strasse sind, sondern einfach aus einer inneren Logik heraus. Sie sagen sich, das Impfen sei jetzt ein direkter Angriff auf ihren Körper, und in dieser Logik befinden sie sich im Widerstandsmodus. So betrachtet, ist es auch völlig logisch, wenn jemand im Selbstverteidigungsmodus zur Waffe greift.
Wohin steuern wir, was diese Selbstradikalisierung betrifft?
Man dachte sich am Anfang der Proteste ja so ein bisschen: Das wird sich totlaufen. Wenn die Pandemie im Griff ist, die Grossmehrheit geimpft, dann wird diese Szene verschwinden. Jetzt sehen wir, dass die Pandemie kein Ende nimmt. Und – etwas provokant gesagt – die Irrationalen werden immer irrer.
Wenn damit antidemokratisches, antihumanistisches Gedankengut bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein salonfähig wird: Was hat das für Auswirkungen auf Gesellschaft und Demokratie?
Das eine ist die angesprochene, enorme Radikalisierung. Wir hatten in Deutschland ja schon den Fall Idar-Oberstein: Ein Mann aus dem Umfeld der Querdenker:innen hat dort in einer Tankstelle einen Mitarbeiter erschossen, weil dieser ihn angewiesen hatte, eine Maske zu tragen. Ausserdem wird gerade genauer auf einen Fall in Brandenburg geschaut: Dort hat ein Mann, der mutmasslich Impfzertifikate gefälscht hatte, im Verfolgungswahn seine Familie ausgelöscht und sich selber getötet.
Ein weiterer Aspekt sind neue Akzeptanzen und neue Projekte, die aus den Affinitäten der Querdenker:innen mit der rechten Szene entstanden sind. Nehmen wir etwa Xavier Naidoo, einen der berühmtesten Popstars Deutschlands. Um die Jahrtausendwende hat er «Brothers Keepers» mitbegründet, eine Initiative gegen rassistische Übergriffe und Brandanschläge in Deutschland. Heute macht er ein Duett mit Hannes Ostendorf von Kategorie C, einer rechtsextremen Hooliganband, der einst wegen eines Brandanschlages verurteilt worden ist. Das ist nur ein Beispiel für neu gewachsene Allianzen.
Und dann gibt es vielerorts noch den Versuch, aus diesem Milieu heraus eigene Strukturen zu schaffen, auf die der Staat keinen Zugriff hat.
Was für Strukturen meinen Sie?
Schulgründungen sind ein ganz konkretes Beispiel. Anfänglich dachte auch ich noch: Na ja, auf ihren Telegram-Kanälen können die ja viel schreiben. Aber in Hamburg hatten die dann plötzlich ihren Verein, und bald lag bei der Schulbehörde ein Antrag zur Schulgründung auf dem Tisch. Nachdem ich das in der «taz» publik gemacht hatte, zogen sie ihn zurück. Durchaus möglich, dass die Schule sonst bewilligt worden wäre. Es stand im Antrag ja nicht drin: «Wir sind Coronaleugner, die Kinder werden keine Masken tragen müssen, und wir machen keine Tests.» Das war einfach ein bisschen Copy und Paste aus anderen freien Schulen, ziemlich unverdächtig.
Als weiteres Phänomen erleben wir, dass im Querdenkenspektrum auf einmal zusätzliche Themen auftauchen: unter anderem etwa die grosse Verschwörungstheorie des «Great Reset», die von der Alt-Right-Bewegung in den USA kommt. Sie besagt, dass Linke, Wirtschaft, Medien und Politik gezielt daran arbeiten würden, Bevölkerungen auszutauschen, Nationalstaaten kaputtzumachen, Bargeld abzuschaffen und Geschlechter verschwinden zu lassen, um eine Ökodiktatur errichten zu können.
Wenn solche Erzählungen immer wirkmächtiger werden: Wie lassen sich in der aktuellen Gemengelage denn die positiven Errungenschaften der Moderne noch verteidigen?
Indem wir reaktionäre Vorstellungen ganz offensiv benennen. Auch wenn sie esoterisch oder ökologisch begründet sind. Indem wir aufzeigen, warum vermeintliche Alternativen eben keine Alternativen sind, wenn Individualität und Emanzipation darin keinen Platz haben. Bei Demonstrationen höre ich immer: «Aber wir wollen doch eine Welt der Liebe, des Friedens.» Da müssen wir fragen: «Glaubt ihr wirklich, dass ihr mit hasserfüllten Rechtsextremen eine liebevolle Welt aufbaut?»
Andreas Speit
Der Sozialökonom, freie Journalist und Publizist Andreas Speit (55) arbeitet unter anderem für die «taz», den «Freitag» und die «Jungle World». Er hat diverse Bücher zum Thema Rechtsextremismus geschrieben und wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Speit hat unter anderem zu Reichsbürger:innen recherchiert, zur Identitären Bewegung und zu völkischen Siedlungsprojekten.
«Verqueres Denken»
Auf Coronademos marschieren Esoterikerinnen neben Hooligans, auf Fahnen flattern rechtsextreme Symbole neben dem Peace-Zeichen. In seinem neusten Buch schlüsselt Andreas Speit auf, dass dieses Miteinander nicht zufällig zustande kommt: Er vergleicht die coronaskeptische Bewegung mit der Lebensreformbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts und mit den 68er-Protesten. Speits zentrale These lautet, dass in alternativen Milieus damals wie heute auch Werte und Vorstellungen kursierten und kursieren, die alles andere als progressiv oder emanzipatorisch sind.
«Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus» ist 2021 im Verlag Ch. Links erschienen.