Beobachter. Wenn sie einen Ausländer heirateten, verloren Schweizerinnen bis 1952 ihr Bürgerrecht. Das bedeutete im Zweiten Weltkrieg für viele Frauen und ihre Kinder den Tod.
Walter Strauss lehnt sich in seinem Sessel nach vorn und blickt mit wachen Augen zu seiner Frau Margit. „Ich habe mit meiner Mutter in Deutschland immer schweizerdeutsch gesprochen. Aber als ich in der Schweiz ankam, war ich ein staatenloser Bub. Ein jüdischer Flüchtling. Ein Emigrant. Ich war froh, wenn ich am nächsten Tag noch am Leben war“, sagt Strauss über die Zeit, als er als 17-Jähriger während des Zweiten Weltkriegs im aargauischen Baden lebte.
Aus den Ferien kannte Strauss Baden, die Heimatstadt seiner Mutter. Sie hatte einen deutschen Arzt aus Heilbronn geheiratet. Walter Strauss war deshalb in der Schweiz nur befristet geduldet. „Hätten sie mich ausgewiesen, wäre es aus gewesen. Ich war keinen Moment sicher, dass ich überlebe.“ Im Sommer 1940 sei er jeden Morgen ans Fenster gestürzt und habe geschaut, ob die Flugzeuge der Nazis schon am Himmel seien.
Frauen waren bloss Anhängsel
Viele betrachteten damals Frauen wie Strauss‘ Mutter als Landesverräterinnen. Schweizerinnen, die einen Ausländer zum Mann nahmen, verloren mit der Trauung das Bürgerrecht und wurden zu Fremden im eigenen Land. Ausnahmen gab es nur wenige. Erst 1952 fiel die diskriminierende Bestimmung, die über 85 000 Schweizerinnen den Pass gekostet hatte.
Die harte Haltung bei der „Ausheirat“ von Frauen bestimmte zu jener Zeit weitgehend ein einziger Beamter. Max Ruth verschärfte im eidgenössischen Polizeidepartement 1941 die entsprechende Regelung und überzeugte den Bundesrat, sie in Kraft zu setzen. Ein Bürgerrecht für Frauen mit fremdländischem Mann bezeichnete er als „staatsgefährdend“. Im umgekehrten Fall hatte er nichts dagegen, denn die ausländische Frau eines Schweizers sei bloss die „Mitbürgerin des Mannes“.
Ab 1939 landeten zahlreiche Gesuche von ehemals Schweizer Jüdinnen auf Ruths Pult. Darin baten die Frauen um Schutz vor Verfolgung und Enteignung und ersuchten ihn um Wiedereinbürgerung. Eine Härteklausel hätte dies ermöglicht. Doch Ruth lehnte alle Anträge ab. Der Spitzenbeamte warnte 1942 gar mit antisemitischem Unterton davor, dass die erleichterte Wiedereinbürgerung ehemaliger Bürgerinnen der Schweiz „vorwiegend Jüdinnen und Judenabkömmlinge“ bescheren würde. Das schreibt die Historikerin Silke Margherita Redolfi in ihrer noch unveröffentlichten Dissertation „Die verlorenen Töchter“, die im Rahmen eines Nationalfonds-Projekts an der Universität Basel entstand.
Auch Walter Strauss‘ jüdische Familie erhielt kein Asyl in der Schweiz. Die Eltern fanden schliesslich in Liechtenstein Zuflucht. Bis Januar 1939 blieb Walter Strauss in Berlin bei Verwandten und machte eine Schneiderlehre. „Ich habe dort extrem viel Judenhass und Gewalt gesehen“, erzählt der Geschäftsmann. In der sogenannten Kristallnacht 1938 habe er „ungläubig das grässliche Treiben beobachtet, das sich vor meinem Fenster abspielte“. Die Nazis plünderten in jener Nacht jüdische Geschäfte, zündeten über 1000 Synagogen an und ermordeten Hunderte Juden. Strauss wusste, er musste weg.
Nicht einmal Schweizerdeutsch half
„Tags darauf ging ich zur Schweizer Botschaft in Berlin und sagte, ich hätte gern ein Visum für die Schweiz. ‹Wir wollen keine Juden›, antwortete mir der Botschaftsangestellte. Dass ich schweizerdeutsch sprach und meine Mutter gebürtige Schweizerin war, hat ihn nicht interessiert“, sagt Walter Strauss. Es wird still im Wohnzimmer. Frau Strauss reicht Pralinés.
Schliesslich konnte er zu seinen Eltern nach Liechtenstein reisen. Doch nur für zwei Wochen. Sein Onkel aus Baden habe ihm eine befristete Bewilligung für den Besuch einer Genfer Handelsschule beschafft. Also fuhr Strauss 1939 nach Genf.
„Am 10. Mai 1940 bestellten mich meine beiden Onkel per sofort von Genf nach Baden. Es war der Tag des Überfalls auf Frankreich. Sie mussten einrücken, und ich sollte sie in ihrer Firma vertreten“, erinnert er sich. Als der 17-Jährige wenige Stunden später in Baden aus dem Zug stieg, war die Stadt fast menschenleer. „Alle Männer waren im Militär.“ Er ging zur Wohnung seines Onkels und begann in dessen Kleiderfabrik auszuhelfen. „Doch für Baden hatte ich keine Aufenthaltsbewilligung.“ Anfänglich erhielt der Minderjährige für jeweils zwei Wochen eine Bewilligung. Später war die Arbeitserlaubnis auf sechs Monate befristet. Sie verpflichtete den Jugendlichen, nach Ablauf der Gültigkeit das Land sofort zu verlassen.
„Ich bin der Schweiz sehr dankbar“
Doch als Walter Strauss Büroarbeiten erledigte, die ihm verboten waren, entzogen ihm die Behörden die Arbeitsbewilligung. „Die Fremdenpolizei schickte mir zweimal einen Brief: ‹Sie haben die Schweiz innert 48 Stunden zu verlassen.› Hätte mein Onkel in Bern nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt, hätten sie mich ausgewiesen. Ich wäre heute nicht mehr da.“ Walter Strauss sagt lange nichts. Draussen geht die Sonne unter.
Es sei ihm sehr wichtig gewesen, dass er nach dem Krieg Schweizer werde, betont er dann. „Meine Mutter war ja Schweizerin, aber das hat mir bei der Einbürgerung nichts genützt.“ Und der mehrfache Grossvater fügt an: „Ich bin der Schweiz sehr dankbar, dass ich hier sein darf. Ich bin dankbar, dass mir nichts passiert ist bis jetzt. Und ich bin dankbar, dass ich arbeiten kann.“ Noch heute fährt der ältere Geschäftsmann viermal pro Woche zur Arbeit in seine Kleiderfabrik. Er leitet sie zusammen mit seinem Sohn.
Walter Strauss sei der Abschiebung nur dank dem Einfluss seines Onkels entkommen, sagt seine Tochter Anita Winter. Sie hat die Dokumente zur Geschichte ihres Vaters zusammengetragen. „Sein Onkel Alfred Wolf mobilisierte als Fabrikdirektor sein Netzwerk gegen die drohende Ausweisung seines Neffen.“ Der damalige Gewerbeverbandspräsident und Nationalrat August Schirmer habe ihm einen Termin bei Bundesrat Johannes Baumann vermittelt. „Hätte Bundesrat Baumann damals nicht so menschlich gehandelt gegen die offiziellen Instruktionen, wäre auch ich heute nicht hier“, sagt die Tochter zweier Holocaust- Überlebender.
„Schon als wir noch Kinder waren, hat uns mein Vater von seiner Vergangenheit erzählt. Er wollte, dass wir nie vergessen, wozu Menschen fähig sind.“ Anita Winter hat diesen Wunsch als Präsidentin der Holocaust-Überlebenden-Stiftung Gamaraal zum Programm gemacht. An Vorträgen und Konferenzen thematisiert sie auch die Erfahrungen ihrer Eltern.
Die Ermordung in Kauf genommen
Heute verlören weder Walter Strauss noch seine Mutter den Schweizer Pass – trotz ausländischem Vater beziehungsweise Ehemann. Doch damals haben die Behörden ausgebürgerte Schweizerinnen an der Grenze zurückgewiesen. Selbst im Wissen um die Todesgefahr, in der die Jüdinnen unter ihnen schwebten, wie die Studie von Historikerin Redolfi zeigt. Die Bündnerin zeichnet darin das tragische Schicksal zweier ehemaliger Schweizerinnen nach, die trotz verzweifelten Behördenschreiben der Schweizer Familienangehörigen keine Einreiseerlaubnis erhielten und im Konzentrationslager vergast wurden. Erst im Juli 1944 lockerte die Schweiz die Aufnahmepraxis in Bezug auf jüdische Flüchtlinge. Für viele zu spät.
„Die Beamten überliessen die Frauen ihrem Schicksal“, sagt Redolfi. „Die Schweizer Behörden haben ihre Verfolgung oder gar ihre Ermordung in den Konzentrationslagern der Nazis in Kauf genommen“, lautet das Fazit der Historikerin. Silke Margherita Redolfi schätzt, dass mindestens 350 Schweizer Jüdinnen ihr Bürgerrecht verloren. Wie viele von ihnen umkamen, weiss man nicht. Allein dem Beobachter sind namentlich sechs ausgebürgerte Jüdinnen bekannt, die mitsamt ihren Kindern im Konzentrationslager umgebracht worden sind.
„Hätte Bundesrat Baumann damals nicht so menschlich gehandelt gegen die offiziellen Instruktionen, wäre auch ich heute nicht hier.“ Anita Winter, Tochter von Walter Strauss
Walter Strauss‘ reichsdeutscher Pass, ausgestellt am 2. Januar 1940
„Die damalige Heiratsregel war eine gewaltige Diskriminierung“
In letzter Minute konnte sich ihre Familie in die Schweiz retten – ohne Aussicht auf Bleiberecht. Doch Vera Rottenberg Liatowitsch blieb. Und wurde die erste jüdische Bundesrichterin.
Das Klingelschild am schmiedeeisernen Gartentor verrät nur ihre Initialen. Vera Rottenberg Liatowitsch, ehemalige Bundesrichterin, wohnt mit ihrem Mann in einem unauffälligen Mehrfamilienhaus mit Blick auf den Zürichsee. Die 72-Jährige ist voller Energie. „Meine Mutter erzählte immer, wie gleich nach meiner Geburt in Ungarn eine Bombe ins Nachbarhaus einschlug und ein Stück Decke in meinen Babykorb fiel“, sagt sie und bietet Kaffee an. „Dass ich noch lebe, war nicht vorgesehen. Jüdische Kinder, die 1944 in Budapest geboren wurden, sollten eigentlich sterben.“
An Vera Rottenbergs Handgelenk baumelt ein eingefasstes Geldstück aus Ungarn. Es erinnert an ihre spektakuläre Flucht. „Das Armband trage ich immer. Die Münze ist mit mir in die Schweiz geflüchtet“, erklärt die Juristin. Sie erzählt nüchtern, wie sie als Säugling zusammen mit Mutter und Schwester in letzter Minute den Nazis entkommen konnte. Und wie sie in einer Schweiz aufwuchs, die ihre Familie wieder loswerden wollte.
Noch in den ersten Nachkriegsjahren verlangten die Behörden von der ungarischen Familie Rottenberg, dass sie weiterreiste – obwohl Mutter Berta bis zur Heirat Schweizerin gewesen war. „Wir wollten hierbleiben. Meine Mutter hat St. Gallen geliebt. Sie ist hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat alle schweizerdeutschen Liedli gekannt und mit uns oft gesungen.“ Damals schrieb die Mutter in einem Brief, sie habe nach ihrer Verheiratung nach Budapest stets an Heimweh gelitten. Nur die Ferien in der Schweiz hätten es jeweils gemildert.
„Ich konnte nie einschlafen“
Doch in den Augen der Schweizer Behörden waren die Rottenbergs Fremde, die nicht bleiben konnten. „Sie hätten halt keinen Ausländer heiraten sollen“, habe eine Beamtin der St. Galler Fremdenpolizei ihrer Mutter einmal gesagt. „Sie hatte zwei Brüder in Zürich, und meine Grossmutter lebte in St. Gallen. Trotzdem sollten wir die Schweiz verlassen. Obwohl wir keinen Knochen kannten in Amerika oder Israel.“ Die Auswanderung scheiterte. Die Unsicherheit aber blieb.
„Ich wuchs mit grossen Ängsten auf. Weil ich wusste: Juden will man hier nicht. Das war in mir drin. Ich konnte als Kind nie einschlafen und fragte mich immer, warum niemand Hitler hat erklären können, dass wir Juden keine bösen Menschen sind. Konzentrationslager. Verschleppt. Vergast. Emigrant. Das war der Wortschatz, mit dem ich aufgewachsen bin.“
Fremde im eigenen Land
Die Fluchtgeschichte begann 1944 nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Ungarn. Vater Willi Rottenberg wurde ins „Arbeitslager“ gezwungen, das er mit viel Glück überleben sollte. Die hochschwangere Mutter Berta lebte mit ihrer älteren Tochter Eva unter prekären Bedingungen in Budapest. Dem Schweizer Gesandtschaftssekretär Harald Feller gelang es jedoch, die Rottenbergs ins Schweizerheim umzuquartieren, das unter dem Schutz der Gesandtschaft stand.
Nach zähen Verhandlungen mit Bern erhielt der Botschaftsmitarbeiter eine Einreisebewilligung für die Rottenbergs und drei weitere ausgebürgerte Schweizer Jüdinnen mit ungarischem Ehemann. Gleichzeitig konnte er Ausreisepapiere beschaffen – nach Verhandlungen mit Adolf Eichmann, dem Leiter des Nazi-Sonderkommandos zur Ermordung der ungarischen Juden. Im Oktober 1944, nur wenige Wochen nach Veras Geburt, reisten die sechs Geretteten mit Schweizer Identitätspapieren in die Schweiz. Hier mussten sie die Schweizer Ausweise wieder abgeben und waren von da an Ausländerinnen im eigenen Land.
Vera und Eva Rottenberg wuchsen als staatenlose jüdische Mädchen in St. Gallen auf. 1958 wurden sie dort eingebürgert. Vera Rottenberg studierte Recht und wurde in Zürich als SP-Mitglied erst Bezirksrichterin und dann Oberrichterin. 1994 wählte sie das Parlament als erste jüdische Frau zur Bundesrichterin. „Stolz hat mich die Wahl nicht gemacht“, sagt sie bescheiden. Sie habe einfach Glück gehabt. Dass sie Jüdin sei, habe sie in den 18 Jahren am Bundesgericht nicht negativ zu spüren bekommen.
Den Retter getroffen
Ende der neunziger Jahre traf sie mit ihrer Schwester erstmals ihren Retter Harald Feller. „Mir stand der Mensch gegenüber, ohne den ich jetzt tot wäre.“ Sie habe erst nicht gewusst, wie sie sich verhalten solle. Auf das kurze Zögern folgte ein anregendes Gespräch. „Er stellte sein Verhalten als das Normalste der Welt dar. Doch das war es überhaupt nicht. Er hätte ja sagen können: ‹Tut mir leid, ihr habt kein Schweizer Bürgerrecht mehr, ich kann nichts mehr tun für euch.›“
Sie erzähle ihre Geschichte, weil man diesen Abschnitt der Zeitgeschichte nicht vergessen dürfe, sagt Vera Rottenberg Liatowitsch. „Die damalige Heiratsregel war eine gewaltige Diskriminierung der Frauen. Eine schreiende Ungerechtigkeit. Was das für die betroffenen Schweizerinnen bedeutete, muss in die etablierte Schweizer Geschichte eingehen.“