Die Schande vom Rütli

Blick

«Die Polizei hätte eingreifen können»

Strafrechtsprofessor Marcel Niggli

VON GEORGES WÜTHRICH

FREIBURG – Rütli-Schande: «Die Antirassismus-Strafnorm muss geändertwerden!» Das fordert der Freiburger Strafrechts-Professor Marcel Niggli (40)im BLICK-Interview. Niggli gilt als der beste Kenner der schweizerischenAntirassismus-Strafnorm.

Herr Niggli, die Polizei unternahm nichts gegen die Rechtsradikalen auf demRütli. War das richtig oder falsch?
Marcel Niggli: «Der Antirassismus-Artikel stellt drei Formen von rassistischer Betätigungunter Strafe: Aufhetzung zum Hass. Verbreitung von rassistischen Ideologien. Und dieOrganisation und Teilnahme an Propaganda-Aktionen.»

Genau das war der Rütli-Aufmarsch doch!
Niggli: «Ja, schon. Aber es gibt Schwierigkeiten bei der Auslegung. Selbst wenn eindeutigeGesten wie der Hitler-Gruss vorkommen oder der Auftritt in geschlossenen Formationenerfolgt, stellt sich immer die Frage: Ist es eine Propaganda-Aktion oder eine freieMeinungsäusserung?»

Die Polizei hätte also eingreifen können?
Niggli: «Richtig. Zumindest hätte sie eine Personenkontrolle durchführen können.»

Die Rechtsradikalen verwendeten den Kühnen-Gruss. Ist das in der Schweizverboten?
Niggli: «Ich zähle den Kühnen-Gruss zu den Propaganda-Gesten, die unter die Strafnormfallen können. Im Gegensatz zu Deutschland sind bei uns auch Gebärden eingeschlossen, dienicht aus dem Dritten Reich stammen.»

In diesem Jahr haben in der Schweiz schon 25 Neonazi-Treffen im «privatenRahmen» stattgefunden und niemand schreitet ein.
Niggli: «Der Artikel stellt nur unter Strafe, was öffentlich stattfindet. Das wollte derGesetzgeber ganz bewusst so. Entsprechend stehen rassistische Äusserungen im privatenBereich nicht unter Strafe, solange eine Türkontrolle stattfindet und nur geladene Gäste Zutritthaben. Auch wenn es sich um einen Grossanlass handelt.»

Müsste die Antirassismus-Strafnorm nicht dahingehend geändert werden, dassauch der private Bereich eingeschlossen ist?
Niggli: «Ja, im Prinzip müsste sie geändert werden. Die Frage ist, ob eine Mehrheit derSchweizer Bevölkerung das auch will. In Frankreich beispielsweise ist der private Bereicheingeschlossen.»

Wie reagieren Rechtsextreme auf Repression?
Niggli: «Wie alle Überzeugungstäter relativ schlecht. Tatsache ist: Wenn man ihrePropaganda-Aktionen und Treffen unterbinden könnte, hätten sie wesentlich grössereSchwierigkeiten, ihr Gedankengut an den Mann zu bringen.»

Das Departement Metzler will den Staatsschutz eher abspecken und dieStrafverfolgung der neuen Bundeskriminalpolizei und den Kantonenüberlassen. Ist das sinnvoll?
Niggli: «Neonazitum und Rassismus sollten verstärkt Bundesangelegenheit werden, weil esnicht nur interkantonale, sondern auch internationale Verstrickungen gibt. So wie dieZentralstelle für das organisierte Verbrechen geschaffen wurde, sollte es auch eine Stelle fürdiese Delikte geben. Alles andere erscheint mir heikel.»