Schweiz am Sonntag: Kolumne von oswald sigg*
«Keine Geste hat mehr Unheil angerichtet. Nie zuvor oder danach wurde eine Grussformel zum Umbau einer Gesellschaft eingesetzt, wie es der Nationalsozialismus mit dem ‘deutschen Gruss’ getan hat.» So beurteilt der Frankfurter Soziologe Tilman Allert die historische Bedeutung einer menschlichen Gebärde, die heute überall geächtet, verboten und nur noch im rechtsextremen Untergrund im Gebrauch ist.
Gemäss dem Urteil des Bundesgerichts vom 28. April 2014 ist es den Nationalsozialisten in der Schweiz jedoch durchaus erlaubt, überall ihre Gesinnung mit dem Hitlergruss – dem Erheben des gestreckten rechten Armes – zu bekunden. Die Erlaubnis gilt für den Fall, «wenn damit lediglich die eigene nationalsozialistische Gesinnung bekundet werden soll» – so das Bundesgericht in einem Communiqué.
Auf dem Rütli hatte ein Mitläufer einer Neonazi-Partei – in der Urteilsbegründung wird er mit X bezeichnet – im Rahmen einer Versammlung Gleichgesinnter «beim gemeinsamen Aufsagen des Rütlischwurs aus Friedrich Schillers ‘Wilhelm Tell’ die Hand zum Hitlergruss erhoben» und damit unbeteiligte Wanderer zu einer Strafklage provoziert. In der Folge sprach ihn das Obergericht des Kantons Uri der Rassendiskriminierung schuldig, nach Artikel 261bis Absatz 2 des Strafgesetzbuchs. Dieser lautet: «(…) wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung der Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion gerichtet sind, (…) wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Gefängnis bestraft.»
Doch die Bundesrichter befanden, das «Verbreiten» sei nicht mit dem «Bekunden» gleichzusetzen. Es gehe darum, ob X mit einer solchen Geste bei Dritten Werbung für den Nationalsozialismus habe betreiben wollen oder nicht. Und Werbung oder Rassen diskriminierende Propaganda sei objektiv zwar bei blossen Gebärden gegeben. Jedoch müsse subjektiv die Absicht vorhanden sein, mit solchen Handlungen auf andere Personen einzuwirken und sie auch gewinnen zu wollen. Obschon die juristische Lehre annehme, der Hitlergruss sei an und für sich bereits ein werbendes Verbreiten der Nazi-Ideologie, gelte dies nur dann, wenn die so begrüsste Person diese Ideologie nicht teile. Diese Relativierung einer gängigen Lehrmeinung wird durch den vorliegenden Fall illustriert: «Unter den gegebenen Umständen war die Gebärde (…) nicht dazu bestimmt, über das dadurch allenfalls bekundete eigene Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie hinaus werbend unbeteiligte Dritte für diese Ideologie zu gewinnen.» Die Veranstaltung auf dem Rütli sei ein privater Anlass gewesen. Woraus folge: «Wird der Hitlergruss nicht in der Öffentlichkeit, sondern im privaten Rahmen verwendet, ist Art. 261bis StGB nicht anwendbar.»
Dem Urteil des Bundesgerichts fehlt nicht nur die simple Logik, sondern auch eine umfassendere, nämlich historische Sicht des Sachverhalts.
Was mochten sich die Bundesrichter – die Besetzung des Gerichts wies auch eine Bundesrichterin auf – dabei denken, was man mit dem Hitlergruss auf dem Rütli heute zum Ausdruck bringen will? Die Geste ist ein überaus klares und öffentliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Und was dies wirklich zu bedeuten hat, ist im Historischen Lexikon der Schweiz in zwei Sätzen nachzulesen: «Der N. huldigte dem Rassismus, das heisst dem in Hitlers ‘Mein Kampf’ entfalteten Mythos einer Stufenleiter von der ‘minderwertigen Rasse’ der Juden bis zur ‘Herrenrasse’ der ‘Arier’. Die Rassenideologie führte letztlich zu den Euthanasieprogrammen, zur Vernichtung der Juden (‘Endlösung’) und zur terroristischen Unterjochung und Ausbeutung vor allem der slawischen Bevölkerung Osteuropas, die als ‘minderrassige’ Sklavenvölker betrachtet wurde.» Wenn nun ein solch öffentliches Bekenntnis in der Schweiz keine strafrechtlich relevante Rassendiskriminierung darstellt, dann hätten die Lausanner Richter wenigstens auf diesen Mangel aufmerksam machen müssen. Im Urteil, das nur gerade vier locker beschriebene Seiten ausmacht, steht davon kein Wort. Der Hitlergruss könne zwar «unter Umständen, je nach den örtlichen Gegebenheiten und/oder dem Adressatenkreis» bestraft werden. Doch, so schliesst das Gericht: «Solche Umstände liegen hier nicht vor.» Also werden denn diese örtlichen Gegebenheiten – das Rütli – dank dem Urteil des Bundesgerichts künftig definitiv zum politischen Exerzierplatz der schweizerischen Nationalsozialisten.