Die Neonazis von Winterthur

Tages-Anzeiger.

In Winterthur und Umgebung ist der Rechtsextremismus erstarkt. Eine Gruppierung verübt kleinere Straftaten, eine zweite verbreitet Terrorpropaganda.

Juden sind für ihn «Saupack», und er ist gegen gleiche Rechte für Schwarze und Weisse. Roland K.*, genannt Roli, wünscht sich «eine Welt ohne Juden und Neger». Und er möchte den Holocaust leugnen oder relativieren können, ohne deshalb belangt zu werden. Auf Instagram hat er ein Foto hochgeladen, darauf sind eine Stielhandgranate, eine Sturmhaube, ein Exemplar von Adolf Hitlers «Mein Kampf» und ein Eisernes Kreuz zu sehen.

Diese und andere Nazidevotionalien bewahrt der 25-Jährige in einem Einfamilienhaus in der Nähe von Winterthur auf. In dem Haus, in dem auch seine Mutter wohnt, hat er sich ein Zimmer im Dachstock eingerichtet, inklusive Hanteln und eines Sandsacks fürs Boxtraining. Zu den Hauptbeschäftigungen eines Neonazis gehören auch körperliche Ertüchtigung, Kampfsport und viel Zeit in der Natur.

Heikles Doppelleben

Neben Sport und Aktivismus, wie er den Kampf für seine Rassenideologie nennt, und der Arbeit als Kanalreiniger hat Roli K. kaum Zeit für anderes. In sozialen Medien, in denen er sich herumtreibt, kommt gelegentlich aber auch seine weiche Seite zur Sprache, seine Sehnsüchte. Manchmal wünsche er sich eine Frau und etwas Liebe und Zuneigung. Auch Neonazis führen nicht selten ein Doppelleben: Eines bei ihren Gesinnungsgenossen und das andere bei nichts ahnenden Arbeitskollegen, Freunden oder Familienmitgliedern.

Roli K. ist eine der treibenden Kräfte in der Nationalistischen Jugend Schweiz (NJS). Diese lose, etwa ein Dutzend Mann starke Gruppe tritt erst seit wenigen Monaten auf, vor allem auf Instagram mit martialisch wirkenden Bildern und Videos, in denen sich die NJS-Mitglieder in rot-weiss-roten Sturmhauben präsentieren. Die jungen Männer – Frauen gibt es keine in dieser Neonazigruppe – treffen sich zum Kampfsport im Wald oder zum Wandern in der Umgebung des Rütlis.

Unter dem Hashtag «Stärke durch Disziplin» lud die Gruppe ein Foto hoch, auf dem die Losung der SS gut zu erkennen ist: «Meine Ehre heisst Treue». Oder ein anderes Bild, auf dem neben einer NJS-Sturmhaube und der Zahl 88 für «Heil Hitler» eine Pistole abgebildet ist. Darunter steht auf Arabisch «Bleibt zu Hause!», in Anlehnung an die Corona-Massnahmen. Die Pistole lässt sich in Verbindung mit den arabischen Schriftzeichen als Warnung an Migranten und Flüchtlinge aus dem Nahen Osten interpretieren. Roli K. verbreitet auch mal ein Foto Adolf Hitlers, das er mit der zynischen Frage «Rieche ich Gas?» versehen hat.

In Winterthur liefert sich die NJS einen Kleinkrieg mit der Antifa. Drei Vermummte stehlen am 1. Mai ein Transparent, das am sogenannten Schwarzen Haus im Töss-Quartier hängt, eine Liegenschaft, die schon seit Jahren von Linksextremisten besetzt ist. Ein vierter Mann filmt die nächtliche Aktion. Später stellt die NJS ein Foto von erbeuteten 1.-Mai-Transparenten auf Instagram, die Köpfe der jungen Täter mit SS-Totenköpfen verdeckt.

Das erinnert an Bilder aus Schwyz, wo Rechtsradikale 2019 Demonstranten einer Kundgebung gegen Rassismus ebenfalls ein Transparent entwendet hatten. Sie verbrannten ihre «Beute» und zeigten dabei in einem Video den Hitlergruss. Tatsächlich haben die Winterthurer Neonazis Kontakte in Schwyz bei der Nationalen Aktionsfront (NAF), einer Sammelbewegung rechtsextremer Kameradschaften. Zwei Führungspersonen der NAF gelten laut Angaben aus Sicherheitskreisen als Kontakte und möglicherweise Mentoren der Winterthurer Neonazis.

«Letzte Warnung!»

Die Antifa ist den Neonazis zahlenmässig überlegen, und sie ist auch für mehr Gewalttaten verantwortlich. Die gestohlenen Transparente rächt sie, indem sie auf eine Betonmauer vor dem Haus von Roli K. eine Drohung sprayt: «Letzte Warnung Roli, Nazi sein heisst Ärger kriegen!» Auf ihrer Website barrikade.info droht die Antifa ausserdem, den Klarnamen des Neonazis zu veröffentlichen und seinen Arbeitgeber zu informieren, falls die Übergriffe der NJS nicht aufhörten und sich die Gruppe nicht auflöse.

Das Doppelleben des Neonazis droht nun also aufzufliegen. Roli K. reagiert mit der Deaktivierung diverser Profile in den sozialen Medien. Auf Fragen der SonntagsZeitung gab der Neonazi keine Antwort. Früher fiel Roli K. in der Südkurve des Letzigrundstadions bei den Hooligans des FC Zürich unangenehm auf. Auch andere NJS-Mitglieder scheinen sich in der Szene der gewaltbereiten Fussballfans radikalisiert zu haben.

Besorgniserregend wirken neben dem virulenten Antisemitismus von Roli K. aber vor allem zwei Erkenntnisse: Einerseits trainieren mehrere NJS-Mitglieder im selben Kampfsportstudio in Winterthur, wo vor wenigen Jahren noch Jihadisten aus der inzwischen geschlossenen An’Nur-Moschee ein und aus gingen. Zum anderen macht mindestens ein NJS-Mitglied in einer weitaus gefährlicheren Neonazigruppe mit, die ebenfalls in Winterthur aktiv ist. Sie nennt sich Eisenjugend Schweiz und gibt sich als Ableger der amerikanischen Iron Youth aus.

Das Manifest von Christchurch

Mit ihrer auf dem Messenger-Dienst Telegram verbreiteten Propaganda wirbt Iron Youth klar für rechtsextremen Terror. Dies tut auch die Eisenjugend, die in Winterthur und Zürich erstmals im Februar durch Verbreiten antisemitischer Kleber in Erscheinung trat. Auf dem Telegram-Kanal der Eisenjugend Schweiz ist zum Beispiel das Manifest des rechtsextremen australischen Terroristen B. T. zu finden. Er hat 2019 im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen in zwei Moscheen ermordet.

Das Ziel des Rechtsterrorismus ist laut dem Manifest das Schüren von Gewalt und Gegengewalt zwischen Europäern und Einwanderern. Durch die Verbreitung von Angst solle eine rechtsextreme Revolution begünstigt werden.

Die Eisenjugend besteht nur aus einer Handvoll junger Männer. Einer von ihnen wurde an der Demonstration der Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) 2018 in Basel gesichtet, er macht aber angeblich nicht bei der Pnos mit. Bei einem anderen Mitglied scheint eine Verbindung zu «Stallhaus Schweiz» (SS) zu bestehen, eine kleine Neonazigruppe, die gern unter sich bleibt und deren Mitglieder sich zum «Deutschen Reich» zugehörig fühlen. Während die NJS gut vernetzt ist mit Neonazis in Deutschland, pflegt die Eisenjugend vor allem Kontakte in die USA.

*Name geändert

KASTEN:

Führende Personen im Sicherheitskomplex des Bundes warnen hinter vorgehaltener Hand vor der Gefahr, dass Rechtsextremisten einen Anschlag verüben könnten. Am ehesten sei eine solche Tat von einer Einzelperson am Rand oder ausserhalb etablierter rechtsextremer Strukturen zu erwarten. Auch wenn die Gefahr zunehme, sei die Situation bezüglich Neonazis in der Schweiz besser als zum Beispiel in Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien. Allerdings scheint es nicht so einfach zu sein, die Politik von einer Änderung der Risikoeinschätzung zu überzeugen. In seiner Beurteilung der Bedrohungslage von Ende April sieht der Bundesrat immer noch den Islamischen Staat als grösste terroristische Gefahr. Zu den Neonazis schreibt er: «Das grösste Risiko für einen rechtsextrem motivierten Anschlag geht in der Schweiz analog zu diversen Anschlägen 2019 weltweit von allein handelnden Personen mit rechtsextremer Gesinnung, aber ohne Kontakt zu etablierten gewalttätig-extremistischen Gruppierungen aus.» Bisher habe es aber nur schwache Hinweise auf eine solche Entwicklung gegeben. Dass die Eisenjugend Schweiz in Anlehnung an amerikanische Anhänger der «weissen Überlegenheit» im Internet offen Terroristen wie den Attentäter im neuseeländischen Christchurch verherrlicht, lässt allerdings aufhorchen. Damit steigt die Gefahr, dass sich Neonazis zu einem Attentat motivieren lassen, auch wenn sie ihre rassistischen Theorien vielleicht nur in den sozialen Medien kommunizieren. Hinweise, dass der eine oder andere junge Mann auch in der Schweiz derartige Pläne schmieden könnte, gibt es durchaus. Ermittler des Bundes und einzelner Kantonspolizeien halten deshalb auch verstärkt in der rechtsextremen Szene Ausschau.