Neue Zürcher Zeitung.
Stephan Guttmann hat das Grauen in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald hautnah erfahren.
Als die Amerikaner die Gefangenen des Konzentrationslagers Buchenwald befreiten, war Stephan Guttmann nur noch Haut und Knochen. «Wir wussten nicht, was Freude ist. Wir hatten keine Gefühle mehr», sagt der heute 95-jährige Mann mit dem dichten braunen Haar. Er trägt ein Jackett aus gutem Tuch, einen Stock braucht er nicht.
Früher hat er oft vor Schulklassen von seiner Odyssee des Grauens erzählt. Dann ist er lange nicht mehr an die Öffentlichkeit getreten. «Man muss es auch ruhen lassen», sagt er. Für die NZZ spricht er aber noch einmal über «eine Zeit, die keine Zeit war». Wir treffen uns im jüdisch-orthodoxen Altersheim der Stiftung Hugo Mendel am Zürichberg.
Das unauffällige, in den 1950er Jahren erbaute Gebäude war das erste jüdische Altersheim auf dem Platz Zürich. Vor kurzem ist Stephan Guttmann hierhergezogen. In seiner angestammten Wohnung ist es ihm nach dem Tod seiner Frau zu einsam geworden. Seine älteste Tochter hat ihm den Heimplatz vermittelt. Er selber ist nicht gläubig. Aber er hat sich gut eingelebt. «Hier herrscht ein offener, ein zutiefst menschlicher Geist», sagt der studierte Chemiker. Manchmal bitten ihn seine Mitbewohner, zum Gottesdienst zu kommen. Denn im Judentum braucht es mindestens zehn Männer, damit ein solcher zustande kommt. Dann springe er in die Bresche, erzählt er – und lächelt verschmitzt.
Wie Pilze aufgewachsen
Auf dem Nachttisch steht das Foto seiner Ehegattin Elsa, einer schönen Frau mit dunklem Haar. Sie stammte wie er aus Siebenbürgen im heutigen Rumänien. Er hat sie nach dem Krieg kennengelernt, in einem Sanatorium in Davos. War es Liebe auf den ersten Blick? «Nein, wir mussten zuerst genesen, um uns langsam lieben zu lernen.»
Er und seine spätere Frau gehörten zu einem Kontingent von jüdischen Holocaustüberlebenden, das die Schweiz 1945 aufnahm. Sechs Millionen Juden waren während des Zweiten Weltkriegs ermordet worden. Vergast, erschossen, erschlagen. Viele starben an Erschöpfung. Stephan Guttmann hat mit Ausnahme eines Cousins seine ganze Familie verloren.
Mit dem Judenhass war er bereits in der Schule konfrontiert worden. Seine Kindheit bezeichnet er trotzdem als «problemlos». Er und seine fünf Geschwister seien «ein wenig wie Pilze im Wald aufgewachsen». Sein Vater betrieb in einer kleinen Stadt im damals rumänischen und später ungarischen Teil Siebenbürgens ein Ledergeschäft und hatte kaum Zeit, sich um seine Kinder zu kümmern. Stephan Guttmann, der Jüngste, war ein guter Schüler. «Ich war aber nicht intelligenter als andere Kinder», hält er fest. Den Satz unterstreicht er mit energischer Geste. Er habe bloss einen Vorsprung gehabt, weil er bereits im Kindergartenalter an einer jüdischen Schule schreiben und lesen gelernt habe.
Mit 18 Jahren machte er an einem katholischen Gymnasium die Matura. Kurz darauf, im März 1944, besetzten die Deutschen Ungarn. Die Hälfte der 20 000 Bewohnerinnen und Bewohner von Guttmanns Heimatstadt erhielt den Judenstern. Ghettos wurden gebildet.
Den Tag der Deportation wird er nie mehr vergessen: «Es war Pfingsten, die Entmenschlichung begann.» Alle Juden, auch Kinder und alte Menschen, werden in Viehwaggons zusammengepfercht, ohne Toiletten, ohne Essen, ohne Wasser. Am fünften Tag erhascht Guttmann aus dem kleinen Fenster des Viehwaggons einen Blick auf Krakau, kurz danach auf spärlich besiedeltes Niemandsland. «Das war Auschwitz. Aber wir wussten nicht, was das war.»
Plötzlich reissen SS-Offiziere mit Gewehren im Anschlag die Türen auf, sie stossen und treten die Ankömmlinge auf eine Rampe. Frauen, Männer und Arbeitsfähige müssen sich in separaten Kolonnen aufstellen, dann jagen sie die Schergen in die Baracken. Kurz darauf folgt das in den Konzentrationslagern übliche Prozedere: Alle Körperhaare rasieren, duschen und desinfizieren.
Es wird Nacht. Guttmann riecht verbranntes Fleisch. Aus den Schornsteinen sieht er Flammen flackern. Am nächsten Tag geht eine Frauengruppe vorbei. Guttmann erkennt seine Schwester, sie ist ebenfalls haarlos. Sie schreit: «Ich habe unsere Mutter gesehen, lass uns zusammenbleiben.» Es ist die letzte Begegnung. Eltern, Grosseltern und Geschwister wird Guttmann nie mehr sehen. Erst später werden ihm Mithäftlinge sagen, dass seine Angehörigen vergast worden seien. Zweifel hat er nicht: Die Leichenberge vor den Krematorien sind der Beweis für die Effizienz des Gases.
Er spricht ohne Hass
Guttmann erzählt in sachlichem Tonfall, ohne anklagend zu sein. Er spricht ohne Hass, langsam und mit einem starken ungarischen Akzent. Findet er das deutsche Wort nicht, sagt er es auf Französisch. Diese Sprache ist ihm am nächsten – während seiner Kindheit war Französisch als Fremdsprache sehr populär, Deutsch lernten die Schülerinnen und Schüler erst ab der vierten Klasse.
Wegen seiner guten körperlichen Verfassung wird Guttmann in Auschwitz für Zwangsarbeit eingeteilt. Im Lager Buna, einem Aussenposten (Auschwitz III), müssen sich die Häftlinge in alphabetischer Reihenfolge aufstellen. «Die SS-Offiziere sagten: ‹Jetzt seid ihr keine Menschen mehr, ihr seid Tiere, Sauhunde, Dreck.› Das waren die ersten deutschen Namen, die wir erhielten.» Guttmann wird die Nummer A8180 auf den Arm tätowiert. Auf einem Werkgelände schleppt er täglich gegen 50 Kilogramm schwere Säcke von den Bahnwaggons zu den Betonmaschinen. «Wer nicht schnell genug war, wurde umgebracht. Viele starben an Erschöpfung oder wurden zu Tode geprügelt», berichtet er.
«Was wollen Sie wissen? Fragen Sie!», sagt Guttmann immer wieder. Bevor er über sein schlimmstes Erlebnis spricht, zögert er einen Moment. Ein Schatten legt sich über seine dunklen Augen. «Ein etwa 14-jähriger, komplett abgemagerter Junge stahl etwas Brot und wurde erwischt», hebt er an. Wie bei solchen Übertretungen üblich, sei der Junge zum Tod am Strick verurteilt worden. Seine Hinrichtung auf dem Appellplatz mussten alle Häftlinge mitansehen. Auch das gehörte zum Lageralltag.
Mit einer Schlinge um den Hals musste sich der Jüngling auf einen Stuhl stellen. Als ein SS-Offizier den Stuhl wegzog, reichte das Körpergewicht des Knaben nicht, um ihm das Genick zu brechen. Er zappelte und ruderte mit den Händen. Erst nach einer Viertelstunde erstickte er unter Qualen. Guttmann wendet den Blick ab. «Das war grauenhaft.»
Am 18. Januar 1945 evakuierte die «Schutzstaffel» das KZ Auschwitz – russische Panzer waren näher gerückt. Weil die Bahnkapazitäten für einen Massentransport fehlten, schickte die SS über 50 000 Häftlinge zu Fuss los. In Reihen von acht Personen marschierten die dünn bekleideten und ausgemergelten Gefangenen gegen Westen. Es war eisig kalt. «Wir hängten uns ein und hielten uns auch im Schlaf. SS-Leute trieben uns ständig an. Wer stehen blieb, wurde erschossen», berichtet Guttmann. «Als wir nach anderthalb Tagen ohne Zwischenhalt den Eisenbahnknotenpunkt Gleiwitz erreichten, fielen wir erschöpft zu Boden.»
Wer konnte, rappelte sich wieder auf. Nun wurden die Häftlinge in offenen Bahnwagen zusammengepfercht. Es gab weder zu essen noch zu trinken. Guttmann ass Schnee. Nur etwa ein Drittel habe die einwöchige Fahrt ins Konzentrationslager Buchenwald überlebt, berichtet er. Alle anderen seien erfroren. Oder erstickt, weil sie vom Rand in die Mitte der Wagen drängten, um dort etwas Wärme zu erhaschen.
Im KZ Buchenwald herrschten ebenfalls schreckliche Zustände. Am 11. April 1945 setzten diesen die Amerikaner ein Ende. Sie befreiten 21 000 Gefangene. Diese jubelten nicht. «Wir mussten lernen, wieder Menschen zu sein», sagt Guttmann. Er kam ins Krankenhaus, eine Pflegerin verband seine Wunde am Fuss mit Gaze. «Es war eine menschliche Geste, mit der ich nicht mehr gerechnet hatte.»
Die Familie als Heimat
1949 begann Guttmann Chemie zu studieren, am 18. Januar 1950, genau fünf Jahre nach Beginn des Todesmarsches, heiratete er. In seinem Zimmer im Altersheim hängt ein Gemälde der ersten Nierentransplantation in einem Pariser Spital. Der darauf abgebildete Chirurg hat es mit einer Widmung versehen und Stephan Guttmann geschenkt. Die Basler Firma Sandoz war damals führend in der Transplantationsforschung, Guttmann war nahe dabei. Während vierzig Jahren war er für den späteren Pharmakonzern Novartis tätig.
Mit seinen drei Kindern, acht Enkelkindern und drei Urenkeln habe er das Ziel erreicht, seine ermordete Familie zu ersetzen, sagt er mit einem Lächeln. Und: «Ich habe keine Heimat, nur einen Geburtsort. Meine Familie ist meine eigentliche Heimat.» Deshalb war es für ihn selbstverständlich, nach dem Tod seiner Frau von Basel nach Zürich zu ziehen. Hier wohnen auch fast alle Enkelkinder.
Sein Pragmatismus, dank dem er trotz allem Grauen den Glauben an das Gute nicht verloren hat, lässt ihn auch mit dem Alterungsprozess gelassen umgehen: «Das Heim ist die Endstation des Lebens. Wie ein Auto nutzt sich auch der Körper ab, das ist einfach so.» Guttmann gehört zu den letzten Zeitzeugen des Holocaust. Was vor achtzig Jahren geschah, darf aber nicht in Vergessenheit geraten. Er sagt: «Wir müssen die Vergangenheit kennen, um die Zukunft zu gestalten.»
Der 95-jährige Stephan Guttmann lebt im jüdisch-orthodoxen Altersheim der Stiftung Hugo Mendel am Zürichberg.