Die Bindungskraft ist sehr stark

Thomas Gabriel Der Sozialpädagoge erforscht rechtsradikale Karrieren von Jugendlichen

Herr Doktor Gabriel, Sie haben die Biografien erforscht von Jugendlichen, die in die rechtsextreme Szene abgerutscht sind. Konnten Sie Unterschiede ausmachen zwischen Jugendlichen, die einfach Mitläufer waren, und solchen, die sich eine Führerrolle gesucht haben?

 

Thomas Gabriel: Es waren eigentlich keine Mitläufer dabei, alle gehörten in ihren Gruppen zum härteren Kern. Es waren für sie nicht Episoden, sondern sie waren alle über längere Zeit dabei. Diejenigen, die sich dann politisch engagiert haben, gehörten fast alle zum gleichen Typus. Sie fühlten sich zum Handeln berufen, weil sie sich als «Exekutive einer breiten Kultur» sahen.

Was waren das für «kulturelle Werte»?

Gabriel: Sie brauchen zum Beispiel keine Anglizismen, empfinden die Moderne als Bedrohung und neigen zur Naturverehrung. Sie fühlen sich als Verteidiger einer «heilen Welt», als Bewahrer von Kultur und Tradition. Dafür bekommen sie von ihrer sozialen Umgebung durchaus auch Anerkennung.

Welche anderen Typen haben Sie noch gefunden?

Gabriel: Einige haben aus einer massiven Ohnmachtserfahrung mitgemacht. Man kann das als Bewältigungshandeln verstehen. Sie haben zum Beispiel willkürliche Gewalt erlebt von ihrem Vater. In der rechtsradikalen Gruppe erfahren sie dann die Eindeutigkeit, soziale Nähe und Anerkennung, die sie in der Familie nie erlebt hatten. In diesem Fall ist auch klar, dass eine Heimeinweisung keine geeignete Massnahme war. Zumal der Jugendliche an der Entscheidung nicht beteiligt war, verdoppelte es seine Erfahrung von Ohnmacht und Fremdbestimmung. Er wurde aus seiner Sicht ins Heim «eingeliefert».

Kann man denn alles den familiären Umständen zuschreiben?

Gabriel: Nicht so eindeutig, wie man denkt. Die Jugendlichen sind keine «Modernisierungsverlierer». Aber was in ihren Familien passiert ist, hat deutlich mehr Einfluss als der gesellschaftliche Wandel. Den obigen Typus könnte man charakterisieren als «Abgrenzung durch Überanpassung». Es gibt aber auch das Umgekehrte: Der Jugendliche will Sichtbarkeit und Bedeutung im Familiensystem provozieren. Ein Jugendlicher, dessen Familie seit Generationen in der Suchtkrankenhilfe engagiert war, nahm Heroin, um wahrgenommen zu werden. Aber seine Eltern haben «so getan, als würden sie es nicht sehen». Dann schloss er sich einer rechtsradikalen Gruppe an und provozierte die jüdische Familiengeschichte durch das Anbringen eines Hakenkreuzes. Hier ist der rechtsextreme Inhalt viel funktionaler eingesetzt als in anderen Verläufen.

Gibt es eine Möglichkeit, pädagogisch gegen Fremdenfeindlichkeit anzugehen, und in welchem Alter wären Jugendliche dafür empfänglich?

Gabriel: Wir mussten einsehen, dass die Verläufe völlig unterschiedlich sind. Kognitive Appelle bewirken in der Regel nicht viel. Programme, die angelegt waren, das moralische Urteil zu stärken, hatten teilweise eher kontraproduktive Wirkungen.

Und über das richtige Alter für Massnahmen kann man nichts sagen?

Gabriel: Es gibt bestimmte Knotenpunkte in den Biografien. Aber die sind sehr individuell. Darum ist es wichtig, dass die Betreuungspersonen solche Punkte und vor allem Themen in den Biografien erkennen und richtig darauf reagieren. Allgemeine Rezepte gibt es nicht. In der Regel sind die biografischen Probleme der Jugendlichen stark verwoben mit der Gruppenzugehörigkeit. Ich denke, es ist dann auch sehr schwierig, an diese Jugendlichen heranzukommen. Die Bindungskraft solcher rechtsradikaler Gruppen ist sehr stark. (chb)

Thomas Gabriel ist Leiter der sozialpädagogischen Forschungsstelle am Pädagogischen Institut der Universität Zürich. Er betreute im Rahmen des NFP 40+ die «Analyse der biografischen Genese rassistischer Deutungs- und Handlungsmuster junger Menschen».

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