Die Bedeutung der Familie bei der Entstehung von Extremismus

NeueZürcherZeitung

Gesellschaftliche Erklärungen des Rechtsextremismus allein greifen zu kurz

In der Öffentlichkeit wird das Phänomen des Rechtsextremismus und der Fremdenfeindlichkeit primär als ein Jugendproblem wahrgenommen. Im Mittelpunkt steht dabei oft die Phänomenologie jugendlicher Straftaten. Vernachlässigt wird dabei aber, dass für die Entwicklung von rassistischen und extremistischen Einstellungen insbesondere die Familie in vielen Biografien Jugendlicher eine entscheidende Rolle spielt.

Versuchen wir Rechtsextremismus in einer gesellschaftlichen Topographie zu erfassen, so fällt unser Blick auf den «Rand»: das Extreme in einer fragwürdigen Links-rechts-Schematisierung. An diesem vom Begriff her gelenkten Blick ist nicht die politisch-moralische Dimension zu problematisieren, also die begriffliche «Ausgrenzung» des Linken, Liberalen und auch Konservativen. Auch die Fokussierung auf eine vermeintliche Randgruppe führt nicht weiter. Es stellt sich vielmehr die Frage der auf dem Begrifflichen gegründeten Verbindung zum «Nicht-Extremen». Dies gilt bei der gesellschaftlichen Verortung des Problems ebenso wie auf der Ebene individueller biografischer Entwicklungen; also schlicht bei jeder Spurensuche in das Zentrum der Gesellschaft und der Kultur.

Die Tücken des Begriffs

Wer Begriffe benutzt, meint damit etwas. Und insofern ist ein Teil der Begriffsverwirrung rund um den Rechtsextremismus auch ein Streit konkurrierender Analysen und wissenschaftlicher Betrachtungen. Dass ein Verständnis von Rechtsextremismus als Kombination einer Ideologie der Ungleichheit und der Gewaltakzeptanz weit verbreitet und in Theorie und Praxis rezipiert wurde, stimmt nachdenklich. (Beispielhaft dafür ist Wilhelm Heitmeyer: Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen, Weinheim/München 1995). Liefert doch diese Variante eines «soziologischen Rechtsextremismus» durch die begriffliche Fokussierung auf ökonomische und soziale Entstehungsmomente eine Erklärung gleichsam zirkulär mit.

Die theoretischen Vorannahmen über problematische Sozialisationsbedingungen und gesellschaftliche Entwicklungen werden auf diese Weise begrifflich gesetzt und letztlich nicht empirisch befragt. Dadurch wird über das Gesellschaftsverständnis eine sozialpsychologische Definition der Täter schon a priori bereitgestellt. Das Phänomen des «Extremismus» findet man dann bei den gesellschaftlichen «Modernisierungsverlierern», und man spricht von «Verzweiflungsverhalten».

Opfer des gesellschaftlichen Wandels?

Die Lokalisierung am Rand der Gesellschaft geht also einher mit problematischen moralischen Implikationen, die rechte Jugendliche als Opfer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse sehen – mit weitreichenden Folgen für die Jugendstrafrechtspraxis oder die Begründung von Jugendarbeit. Das Phänomen des jugendlichen Rechtsextremismus als Produkt wirtschaftlicher und sozialer Krisen bzw. gesellschaftlicher Modernisierungen zu betrachten, plausibilisiert allenfalls ein historischer Blick auf die Weltwirtschaftskrise und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Einige Studien belegen zwar ein niedrigeres Bildungsniveau rechter Gewalttäter, viele Befunde widersprechen jedoch der Annahme einer relativen gesellschaftlichen Deprivation oder Desintegration.

So sind rechtsextreme Gewalttäter empirisch betrachtet weder häufiger arbeitslos, noch kommen sie signifikant häufiger aus formal zerrütteten Familien. Darüber hinaus ist Rechtsextremismus nach bisheriger Forschungslage weniger ein Phänomen der Grossstädte, wo sich soziale Veränderungen weitaus deutlicher zeigen, als vielmehr des ländlichen und kleinstädtischen Milieus. Es bleibt hier die schlichte Frage zu stellen, warum einige junge Menschen eine Anfälligkeit für rechtsextreme Ideologien entwickeln oder sich an gewalttätigen Angriffen beteiligen, während andere, die unter vergleichbaren Bedingungen leben, dies nicht tun.

Die Bedeutung der Familie

Um diese Frage zu beantworten, erscheint es notwendig, Erziehungs- und Sozialisationsprozesse in ihrer inhaltlichen Dimension zu betrachten, um so die Entstehung rechtsextremer und xenophober Deutungsmuster zu verstehen. Konzentriert man den Blick auf die Lebensläufe rechter Jugendlicher, dann wird ihr «Rechts-Sein» als ein Produkt individueller Erfahrungen und biografischer Entwicklungen plausibel. Dabei scheint vor allem das, was in der Familie geschieht, wichtig zu sein. Aus diesem Grund ist die Entwicklung rassistischer Handlungs- und Deutungsmuster in einem hohen Grad auf das jeweilige Individuum bezogen zu verstehen.

Im Teilprojekt «Familienerziehung und Rechtsextremismus» des Nationalen Forschungsprogramms 40+ des Schweizerischen Nationalfonds «Rechtsextremismus – Ursachen und Gegenmassnahmen» liegen erste Ergebnisse vor, die diese Annahme stützen. Gewalttätige und fremdenfeindliche Handlungen Jugendlicher erscheinen in einem hohen Mass durch das soziale Umfeld sowie die Familie, ihre Kultur und Geschichte bedingt. Es ist zu simpel, zu sagen, dass Rechtsextremismus zwischen den Generationen von Person zu Person weitergegeben wird.

Es lassen sich zwar rechte Jugendliche ausmachen, deren Deutungen und Handlungen anschlussfähig sind an ihr soziales und kulturelles Umfeld, sowie Fälle, in denen Interventionen zu einer Verstärkung rechter Einstellungen und Handlungen führten. Verbreiteter sind jedoch eine «Kultur der Nicht-Wahrnehmung» im sozialen Herkunftsmilieu der Jugendlichen oder aber professionelle Interventionen, die subjektive Bedeutungen der Zugehörigkeit zu rechtsextremen Gruppierungen übersehen. Dies lässt sich anhand des Typus rechter Jugendlicher verdeutlichen, bei denen Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen in familiären Kontexten eine bedeutsame Entwicklungsgrundlage ihrer Deutungs- und Handlungsmuster darstellen. Ein Beispiel verdeutlicht dies.

Urs sagt: «I bin viel drundercho, vo mim Vater und vo Usländer.» (Ich bin viel runtergemacht worden, von meinem Vater und von Ausländern.) In der Familie wird er wiederholt gewalttätigen Misshandlungen des Vaters ausgesetzt. Seine Mutter schaute dabei nur zu. Als zusätzliche Erfahrung von Härte konstatiert er, dass die Schmerzensschreie im ganzen Wohnblock zu hören sind, jedoch niemand eingreift. Die Interventionen der Jugendhilfe und der Jugendjustiz erfolgen später und duplizieren seine Erfahrung von Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Nicht der gewalttätige Vater, sondern er wird in ein Heim «iglieferet» (eingeliefert).

Zur Zeit der Heimeinweisung schliesst er sich einer rechten Gruppierung an; die Erfahrungsqualitäten hier stehen im Kontrast zu den Erfahrungen im Kontext der Familie und zu anderen Jugendkulturen, denen Urs angehörte. Er erfährt unbedingte Solidarität, Anerkennung, soziale Nähe und Schutz. Im Kontrast zu den bisherigen Erfahrungen nimmt er die Zugehörigkeit als bedeutsam wahr: «öppis vom Geilschte, wo’s eigentlich gid» (etwas vom Geilsten, was es gibt). Die «Kameradschaft» bedeutet viel, «so gseh han ich d Kollege lieber als d Familie» (So gesehen habe ich die Kollegen lieber als die Familie). Seine Bereitschaft, «füreinander einzustehen», trägt existenzielle Züge und geht bis zur Aufgabe des eigenen Lebens für das Vaterland, symbolisiert durch seine Identifikation mit Frontsoldaten des Zweiten Weltkriegs. Die Verbundenheit mit der rechten Gruppe bleibt dabei nicht eine rein idealisierte, sondern wird durch Erlebnisse in der Gruppe für ihn real.

Nach einer Auseinandersetzung mit der Polizei geht beispielsweise ein Kollege für Urs in das Gefängnis, um den noch Minderjährigen gegen eine Anklage wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu schützen. In der Einrichtung der Jugendhilfe wird sein Rechts-Sein, das er durch Fahnen, CD, Bilder und Bücher zur Schau stellt, zunächst akzeptiert und erst dann zum Gegenstand der Intervention, als ein Kollege von Urs im Heim durch gewalttätiges Verhalten auffällt. Die rechte «Identitätsausrüstung» wird durch die Professionellen vernichtet. Diese Massnahme wird von ihm als willkürlich und ungerechtfertigt wahrgenommen, und auch sie wirkt prekär, da sie nicht nur die Erfahrung der Ohnmacht des «drundercho» aktualisiert, sondern auch seine Versuche der Bewältigung verkennt. Als Effekt bindet ihn auch diese Intervention nur stärker an die rechte Gruppierung, indem er als Reaktion über den Wunsch einer Tätowierung reflektiert: «Später wott i mal eis uf d Bruscht . . . es fetts Haggechrütz . . . ja, das isch scho geil» (Später will ich einmal eines auf die Brust . . . ein fettes Hakenkreuz . . . ja, das ist schon geil).

Ein grosses Mass an Autonomie bleibt

Wie der Fall Urs exemplarisch verdeutlicht, greifen gesellschaftlich übergreifende Erklärungen des Rechtsextremismus zu kurz. Auch sind generalisierende Zuschreibungen ebenso problematisch wie statistisch bestimmte Verallgemeinerungen über rechte Jugendliche. Zwar können durch Forschung aufgedeckte Einflussfaktoren und insofern Wahrscheinlichkeiten angenommen werden, die es begünstigen, dass Heranwachsende fremdenfeindliche Wertvorstellungen und Verhaltensmuster aufnehmen und ausüben. Es bleibt aber selbst unter der Annahme, dass sozialstrukturelle Bedingungen eine starke Wirkung entfalten, ein grosses Mass an Autonomie. Dies gilt nicht nur für die einzelnen Biografien, sondern auch für die Entwicklung einzelner Familien.

* Thomas Gabriel ist Leiter der sozialpädagogischen Forschungsstelle am pädagogischen Institut der Universität Zürich.

Aktuelle Beispiele gewalttätiger Auseinandersetzungen

Pressedienst

zz. In der Nacht auf den 7. Januar gerieten 20 bis 30 Besucher eines Punkkonzerts und 6 bis 10 Rechtsextreme in der Nähe des Sissacher Bahnhofs aneinander. Etliche Beteiligte seien unter starkem Alkoholeinfluss gestanden und äusserst gewaltbereit gewesen. Die Baselbieter Polizei stand mit 27 Personen im Einsatz.

Am 8. Januar kam es in Winterthur zu Ausschreitungen zwischen Links- und Rechtsextremen. 4 Beteiligte wurden gemäss Polizeiangaben verletzt. Die Polizei nahm 28 Personen fest. In der Vergangenheit ist es in Winterthur immer wieder zu solchen Auseinandersetzungen gekommen.

Das Baselbieter Strafgericht verurteilte die 2 Anführer des rechtsextremen Angriffs vom 30. April 2004 auf den Coop Pronto Shop in Liestal wegen schwerer Körperverletzung, mehrfacher versuchter schwerer Körperverletzung, Sachbeschädigung und Angriff zu zweieinhalb Jahren Gefängnis, 4 weitere zu bedingten Strafen von bis zu anderthalb Jahren. Bei dem Überfall wurden 3 Kunden des Shops verletzt. Bei den jungen Männern – zum Tatzeitpunkt alle zwischen 19 und 22 Jahre alt – handelt es sich gemäss Experte nicht um programmatische Rechtsextreme.

Es bleibt bei einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe für den Haupttäter, der zusammen mit zwei rechtsextremen Gesinnungsgenossen im Januar 2001 in Unterseen bei Interlaken einen Kollegen ermordete, weil dieser angeblich ein Schweigegelübde gebrochen hatte. Opfer und Täter gehörten zum «Orden der arischen Ritter», den sie zur Abwehr von Asylbewerbern aus dem Balkan gegründet hatten. Das Bundesgericht hat eine staatsrechtliche Beschwerde des Haupttäters abgewiesen und den Schuldspruch der Berner Justiz bestätigt.

Am 1. August wollte im aargauischen Lenzburg ein 200 Mann starker Trupp aus der rechtsextremen Szene die Rede von Bundesrat Samuel Schmid auf dem Burghügel stören. Die Polizei hielt ihn aber erfolgreich davon ab.