«Der Ton verschärft sich gegen alle Minderheiten»

Beobachter.

Antisemitismus in der Schweiz.

Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, warnt vor dem Hass im Netz. Der Staat, die Schulen und die Gesellschaft müssten mehr dagegen tun.

Beobachter: In Europa sterben Juden bei Anschlägen. Müssen auch Schweizer Juden Angst haben?
Herbert Winter: Angst müssen wir nicht haben, aber wir müssen auf der Hut sein. In der Schweiz gibt es zwar weniger Gewalt gegen Juden als im Ausland, wohl auch, weil wir in einer wohlhabenderen und weniger gegensätzlichen Gesellschaft leben. Aber eine Attacke auf jüdische Menschen oder Einrichtungen ist auch bei uns jederzeit möglich.


Hat der Antisemitismus in der Schweiz zugenommen?
Das Niveau des Antisemitismus auf der Strasse ist ungefähr konstant laut unseren Erhebungen und Einschätzungen. Allerdings sehen wir ein neues Ausmass des Antisemitismus in den Sozialen Medien und im Internet. Dort beobachten wir eine starke Zunahme von wenig zurückhaltenden Aussagen und antisemitischen Entgleisungen.


Ist Judenhass im Netz salonfähig geworden?
Ja, bis zu einem gewissen Grad. Vieles ist wieder sagbar geworden. Die Verbreitung von antisemitischen Verschwörungstheorien hat extrem zugenommen. Der Ton verschärft sich gegenüber allen Minderheiten. Das beunruhigt mich. Wenn eine Gesellschaft nicht einigermassen respektvoll mit Minderheiten umgeht, ist das schlecht. Die Hassreden im Netz sind eine Gefahr für die Gesellschaft, sie kann daran kaputt gehen. Den Worten können Taten folgen, wenn man die Worte nicht bekämpft.


Wie kann man das tun?
Die Schweiz sollte gesetzlich festlegen, dass Hassrede, Drohungen und dergleichen unmittelbar aus den Sozialen Medien gelöscht werden – so wie es andere Länder anstreben.  Auch müssen adäquate Mittel zur Verfügung stehen, um dies durchzusetzen und die Verfasser zur Rechenschaft zu ziehen. Darüber hinaus sollen Social Media-Plattformen eine Vertretung in der Schweiz haben.


Jugendliche sind oft Onlinehass ausgesetzt. Was hilft dagegen?
Eine gesunde Gesellschaft hat viel mit Erziehung zu tun. Die Eltern sind also gefordert. Aber auch die Schulen müssen mehr Aufklärung betreiben und hinsehen, wenn Kinder beleidigt werden, weil sie Juden sind. Oft wird Antisemitismus oder Rassismus von Lehrern nicht erkannt, weil er als Konflikt unter Jugendlichen verharmlost wird. Das Bewusstsein über Ausgrenzung muss stärker werden und die Wissensvermittlung über andere Kulturen, Religionen und Minderheiten intensiviert.


Sie senden mit Ihrem Präventionsprojekt Likrat jüdische Teenager in Schulklassen. Weshalb?
Zwei Likrat-Freiwillige beantworten den Schülern jeweils alle Fragen zum jüdischen Leben ohne Tabus. Der Dialog unter Gleichaltrigen hilft, aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Die Schüler sehen die Vielfalt im Judentum, etwa dass nicht alle Juden Zapfenlocken haben, oder manche religiöser als andere sind. Lehrer haben uns gesagt, dass Secondos oder Kinder mit Migrationshintergrund so Gemeinsamkeiten entdecken. Über 20’000 Schulkinder haben bisher an solchen Begegnungen teilgenommen.


Der Konflikt zwischen Israel und Palästina löst viel Hass aus. Wann wird Israelkritik antisemitisch?
Selbstverständlich ist es erlaubt, Israel für seine Politik zu kritisieren. Wer aber alle Juden für die Politik Israels verantwortlich macht, argumentiert antisemitisch. Im Übrigen sollte man auch mal israelische Zeitungen lesen. Dort wird die Regierung am heftigsten angegriffen. Auch sind wir Schweizer Juden nicht verantwortlich für die israelische Politik, viele hier haben durchaus eine kritische Haltung und äussern diese auch.


Sie sagten jüngst, die Schweiz sei auf dem linken Auge blind, was Antisemitismus angehe. Wie meinen Sie das?
Auf der Linken ist der Glaube verbreitet, dass Antisemitismus in den eigenen Reihen gar nicht möglich sei. Das ist leider ein Irrglaube, denn Antisemitismus kann überall vorkommen. Dies führte lange Zeit zu einer Unterschätzung des Potentials von linkem Antisemitismus.  Dieser kann sich etwa zeigen, wenn Israel als Nazistaat dargestellt wird, ohne die Tragweite dieses geschmacklosen Vergleichs zu erkennen. Israel ist eine Demokratie in der arabische Israeli im Parlament sitzen. Der linke Antisemitismus ist aber weitgehend verbal, während der rechtsextreme Antisemitismus eher gewalttätig sein kann.


Teilen Sie die These des importierten Antisemitismus, wonach muslimische Flüchtlinge für eine neue Welle von Antisemitismus verantwortlich sein sollen?
Nein, das denke ich nicht. Natürlich gibt es muslimisch geprägte Länder wie Syrien, wo schon Kinder antisemitische Haltungen und Vorurteile von früh an mitbekommen. Es ist für uns aber nicht erkennbar, dass mit den Flüchtlingswellen seit 2015 der Antisemitismus in der Schweiz spürbar zugenommen hat. Natürlich gibt es auch unter den schon lange hier lebenden Muslimen Antisemitismus. So fühlen sich zum Beispiel nicht wenige Muslime wegen des Israel-Palästina-Konflikt solidarisch mit den Palästinensern und unterscheiden dabei nicht zwischen Juden und israelischer Politik. 


Die jüdischen Gemeinden der Schweiz geben jährlich rund 7 Millionen Franken für ihre eigene Sicherheit aus, auch um sich vor rechtsextremem oder islamistischem Terror zu schützen. Der Bund beteiligt sich nun an diesen Kosten. Ist das Problem damit vom Tisch?
Nein. Bedrohte Minderheiten erhalten maximal 500’000 Franken pro Jahr, um sich etwa mit baulichen Massnahmen gegen die Terrorbedrohung zu schützen. Das ist ein erster spürbarer Schritt, löst aber die Probleme nicht. Der Bund hat damit aber ein Zeichen gesetzt und macht klar, dass die Sicherheit von Minderheiten nicht allein Sache der Kantone sei. Die hohen Sicherheitskosten sind für die jüdischen Gemeinden eine enorme Belastung. Deshalb müssen die Kantone nun nachziehen. Dass der Kanton Basel-Stadt neu staatlich angestellte Sicherheitsassistenten zur Bewachung jüdischer Einrichtungen abstellt, begrüssen wir sehr. Wir erwarten auch, dass der Bund ein Gesetz verabschiedet, das garantiert, dass der Schutz von bedrohten Minderheiten gegen Terror umfassend vom Staat getragen wird.


Blicken Sie optimistisch in die Zukunft?
Ja, die Sicherheit ist zwar ein Problem, aber es gibt keine Schweizer Juden, die auswandern, weil sie Angst haben. Die Jüdinnen und Juden fühlen sich hier wohl und akzeptiert. Ich hoffe, der Antisemitismus wird zurückgehen durch die Bemühungen der Gesellschaft, mehr gegen Diskriminierung und Ausgrenzung jeglicher Art von Minderheiten zu unternehmen.

Zur Person: Herbert Winter, 73, ist Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds und Rechtsanwalt. Quelle: PD