Der Bund. Pascal Lüthard war eine bekannte Figur der rechtsradikalen Pnos. Jetzt lebt er als Selbstversorger in Portugal – und blickt selbstkritisch zurück.
Pascal Lüthard hält die Handykamera nach unten und zoomt in ein braunes Loch in der Erde. Es wuselt und wimmelt darin. «Die Würmer klären mein Dreckwasser», sagt er. Noch ein bisschen Salat dazu, und die Tierchen seien zufrieden.Er ist es auch. Das WC riecht nicht.
Lüthard, 38, lebt jetzt unter der Sonne des Südens. Mit seiner Freundin wohnt er in einer alten Mühle. Zusammen mit Freunden besitzen die beiden ein Stück Land samt Ruinen. Sie versuchen, mit und von der Natur leben, so gut es eben geht. Er hat eine Baumschule, sie ist Schneiderin und möchte ein Atelier einrichten.
Er setzt sich in den Schatten und greift zu einem Glas Orangensirup. Die Früchte kommen vom eigenen Hof, das Eis wurde mit Solarstrom vom Dach gekühlt. «Nur der Zucker ist gekauft», spricht er in die Kamera. Er möchte das auch noch ändern, daheim in Castelo Branco, Portugal.
Es ist ein Landstrich mit viel Platz und günstigem Boden. Ein Ort für Verrückte und Träumer. Einige hätten viel Geld mit Kryptowährungen verdient, erzählt Lüthard. Die Leute hier betrieben Permakulturen oder Yogafarmen. Einer seiner Nachbarn lebe nach seinem eigenen Kalender im Jahr 1300 oder so und kleide sich immer orange.
Lüthard fühlt sich wohl in dieser Nachbarschaft, ohne Anschluss ans Stromnetz, ohne Kanalisation, dafür mit Bio-WC.
Nur seine braune Vergangenheit kann er den Würmern nicht zum Frass vorwerfen.
Lüthard war mal einer der bekanntesten Neonazis in der Schweiz. Der Berner gehörte zur rechtsextremen Partei national orientierter Schweizer (Pnos) und wurde mehrmals verurteilt. Jetzt, mit 38, führt er das Leben eines Aussteigers, aber so sieht er sich nicht. «Ich bin nur ein Aussteiger aus der rechten Szene.»
Für ein paar Monate im Jahr kehrt er jeweils in die Schweiz zurück. Dann arbeitet er in seinem Beruf als Landschaftsgärtner und verdient Geld, um sein freies Leben in Portugal zu finanzieren. Auch im Frühjahr 2022 tat er das.
Am 11. Februar sah er ein Foto von sich in der Zeitung und erfuhr, dass die Pnos sich aufgelöst hat. Ein paar Tage später schrieb er an die Redaktion: «Das Foto hat mich wieder mal an meine – nicht gerade schöne – Vergangenheit erinnert.» Er sei bereit, davon zu erzählen.
Die Provokation
Lüthard fragt sich manchmal selbst, wie die Ideologie des Rechtsradikalismus zu ihm und seinen Freunden kam. Sicher sagen kann er, dass es schnell gegangen sei – und dass Rassismus als Provokation plötzlich «auf der Festplatte» gespeichert gewesen sei, also in seinem Denken. «Kaum ist man da drin, beginnt man zu glauben, was man liest und hört.»
Er wuchs in Roggwil im Oberaargau auf, am Rand des Kantons Bern. Der Vater war Kaufmann, die Mutter Antiquitätenhändlerin und in der SP. In den Ferien ging es auch mal in die USA. Es habe an nichts gefehlt. «Ausser vielleicht an etwas, gegen das wir rebellieren konnten.»
Mit 15 Jahren bestand seine Welt aus Basketball, den Chicago Bulls, Michael Jordan. «Ich habe fast nur Basketball gespielt.» Auf dem Pausenplatz im Dorf, hauptsächlich mit Ausländern, er hatte kein Problem damit. Aber das änderte sich.
Lüthard gehörte einer grossen Clique an. Ein paar wenige hätten rechtsradikal gedacht – die Cooleren, wie er fand. Bald kursierten Kassetten mit rechtsradikaler Musik. Im Ausgang habe man Gleichgesinnte getroffen oder sich im Wald um ein Feuer versammelt. «Das war abenteuerlich.» Oder man traf sich im Keller seines Elternhauses. «Dort hatten wir einen Glatzenraum.» Auch sein um ein Jahr älterer Bruder Dominic war dabei.
Pascal Lüthards Bruder Dominic, hier 2016, war bis vor fünf Jahren Vorsitzender der Pnos Schweiz.
Mit dem Internet und den Handys sei es immer einfacher geworden, sich zu vernetzen. «Wir hatten bald Kontakt mit anderen Gruppen aus der Schweiz.» Aus dem Emmental, dem Aargau, der Inner- oder der Ostschweiz.
«Den Skinheadstyle fand ich geil», sagt er. Bomberjacke, Bluejeans, Gürtelschnalle, Doc Martens. Und die Embleme der rechten Skinheads.
«Ich kann heute nur schwer sagen, was mich angezogen hat», sagt Lüthard. Was ihm sicher gefallen hat: sich selbst ins Abseits zu stellen, sich komplett von den anderen abzugrenzen. Er sagt: «Ich hätte auch Punk werden können.»
Das Dorf
Der ehemalige Pfarrer Hans Gerber erinnert sich gut an Lüthard. «Er war mein Konfirmand.» Gerber erzählt, wie einige Jungen aus dem Dorf mit kahlrasierten Köpfen im Konflager erschienen seien, Lüthard vorneweg.
Besonders im Gedächtnis geblieben sind ihm zwei Märsche, die Neonazis in der Nähe des Pfarrhauses organisiert hatten. Gerber zitiert im Stakkato ihre Parole: «Hier marschiert der nationale Widerstand.» Das sei sehr unangenehm gewesen. Es habe eine Zeit gegeben, da habe er sich gut überlegt, wohin er abends gehe.
Mit Lüthard habe er viele Diskussionen geführt. «Wir haben von christlichen Werten geredet, von Frieden und Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung. Aber das war für ihn nur Gugus.» Lüthard habe gesagt: Mit guten Mitteln kommt man nirgends hin, aber mit den bösen hat man sofort Erfolg.
Lüthard sagt dazu: «Von den älteren Schülern haben wir gelernt, dass man nirgendwo so viel Seich machen kann wie im Konflager.» Es stimme zwar, dass er damals schon in der rechten Szene aktiv gewesen sei. «Aber Herrn Gerber konnte man mit rechten Ansichten auch leicht provozieren.»
Priska Grütter kennt die beiden Lüthard-Brüder als «Bünzu» und «Gixu». Sie kommt aus dem gleichen Dorf und machte einst Schlagzeilen, als sie sich gegen eine «rassistische Maitanne» wehrte. Bei diesem Brauch, bei dem die Namen aller volljährig gewordenen Mädchen an eine Tanne geschlagen wurden, fehlten zu Beginn des neuen Jahrtausends immer wieder die fremdländischen Namen. 2005 stieg sie zusammen mit einer Kollegin auf den Baum und brachte die fehlenden Namen an.
Es habe viele Junge mit rechtsextremer Gesinnung gegeben, sagt Grütter. Die beiden Lüthard-Brüder hätten in dieser Szene eine dominante Rolle gespielt. «Das waren keine finsteren Typen.» Im Gegenteil, sie hätten Rechtsextremismus schon fast salonfähig gemacht im Dorf.
Dominic Lüthard wurde als Sänger der Band Indiziert bekannt, die Alben mit Titeln wie «Eidgenössischer Widerstand» oder «Marsch auf Bern» veröffentlichte. Von 2012 bis 2019 war er Vorsitzender der Pnos Schweiz. Er lebt in Roggwil und wollte sich für diesen Artikel nicht äussern.
Die Gewalt
Eine wichtige Rolle in der Szene spielten Alkohol und Gewalt. «Klar, das war ein Problem», sagt Pascal Lüthard. «Wir wussten, wenn wir jetzt diesen oder jenen Ort besuchen und auch noch trinken, dann braucht es nicht mehr viel.» An Partys, in Bars und Beizen sei es immer wieder zu Schlägereien mit Linken gekommen. An einer Hausecke hätten sich nur zwei Kontrahenten an den Hals geraten müssen – schon sei es passiert gewesen. Oft im nahen Langenthal.
Sei seine Clique auf eine Gruppe Linke gestossen, dann habe sicher die eine oder die andere Seite Streit angefangen. «Das heisst nicht, dass es jede Woche zu einer Massenschlägerei gekommen ist.» Aber die Stimmung sei sehr oft sehr aggressiv gewesen. Und er habe gern mitgemacht.
Lüthard telefonierte jeden Sonntagmorgen mit seinem besten Kollegen. «Da waren wir jeweils gescheit genug, um zu reflektieren, dass das nicht so gut war, was wir am Samstagabend gemacht haben», sagt Lüthard. «Aber nicht gescheit genug, um am nächsten Wochenende was anderes zu machen, statt zu saufen und uns zu prügeln.»
Nicht nur mit den Linken prügelten sich die Oberaargauer Rechten, sondern oft auch mit den Fans des EHC Olten. Lüthard selber bewegte sich im Umfeld des SC Langenthal. «Es gab da keine klare Trennung.» Schlägereien gegen Linke oder unter Fans seien häufiger vorgekommen als Gewalt gegen Ausländerinnen und Ausländer.
Nur an der Fasnacht hätten sie sich manchmal mit türkischen oder albanischen Jugendlichen geprügelt. Auf der anderen Seite hätten ihnen Junge aus Kroatien oder Serbien viel Sympathien entgegengebracht. «Die teilten unser Idealbild eines nationalistischen Staats. Und unser Machogehabe.»
Das Feindbild
Ab 2001 war die linke Langenthaler Szene im Lakuz daheim. Einer der Gründer des alternativen Kulturzentrums war Samuel Deubelbeiss. Etwas später absolvierte er in Bern das zehnte Schuljahr – im gleichen Jahr, aber nicht in der gleichen Klasse wie Lüthard. Er habe ihn oft im Zug getroffen, sagt Deubelbeiss. «Es war oft sehr unangenehm.»
Manchmal habe Lüthard ein T-Shirt mit der Aufschrift «Wehrmachtssoldat» getragen und auch mal den Hitlergruss gemacht. Und oft habe er sich im Zug neben ihn gesetzt und ihn bedrängt. «Er wusste, dass ich beim Lakuz mitmache, ich habe seinem Feindbild entsprochen.» Er, Deubelbeiss, sei etwas bunter angezogen als die meisten anderen Leute. «Das hat schon gereicht.»
Er habe vor Lüthard Angst gehabt und manchmal extra einen späteren Zug genommen. «Ein einziges Mal hat er mich geboxt.»
Lüthard sagt, dass er sich an Deubelbeiss und «solches Zeugs» erinnern könne. Das sei ein Teil seines Lebens, darauf sei er nicht stolz. «Immer nur der Täter war ich allerdings auch nicht.» Er sei manchmal ebenfalls abgepasst worden.
Deubelbeiss sagt, dass es für Leute aus der linken Szene und für ausländische Menschen manchmal gefährlich gewesen sei. Der schlimmste Vorfall ereignete sich wohl am 21. September 2002. Rund 30 Rechtsextreme überfielen in Langenthal zunächst das Lakuz, warfen Scheiben ein und demolierten die Einrichtung. Anschliessend griffen die Skinheads beim Spital eine trauernde türkische Familie an. Ein Mitglied der Familie war gerade gestorben.
Beide Lüthard-Brüder wurden später verurteilt. Das Gericht konnte allerdings nicht nachweisen, dass Pascal Lüthard bei der Auseinandersetzung vor dem Spital dabei gewesen war.
Die Partei
Im Herbst 2004 betrat Lüthard erstmals die politische Bühne. Bei den Stadtratswahlen in Langenthal errang die Pnos einen Sitz im Parlament. Der Gewählte hiess Tobias Hirschi. Lüthard begleitete ihn am Wahlabend und trat mit streng nach hinten gegelten Haaren vor die Mikrofone.
Wer er sei, fragte ein Journalist. «Stützpunktführer der Pnos Bern», sagt Lüthard, korrigierte sich dann aber: «Eher Stützpunktleiter.»
Diese Bezeichnung sei in der Euphorie entstanden. Er habe kein Amt bei der Pnos gehabt. «Einer sagte zu mir, stell dich doch einfach als Stützpunktleiter vor.» Das habe er gemacht. Später habe er das noch mit der Parteileitung besprochen. «Die haben gesagt, momou, das geht.» Man habe ja schlecht zurückrudern können.
Die Pnos war im Jahr 2000 im Kanton Baselland gegründet worden und vertrat ein «völkisch-nationalistisches» und somit rassistisches Gedankengut. Im Lauf der folgenden Jahre wurden mehrere Mitglieder wegen des Verstosses gegen die Antirassismusstrafnorm verurteilt.
Die Pnos war vor allem im Mittelland präsent, insbesondere im Oberaargau. Für landesweites Aufsehen sorgten die Rechtsextremen jeweils am 1. August auf dem Rütli. Insbesondere im Jahr 2005, als sie eine Rede von Bundesrat Samuel Schmid störten.
Lüthard sagt, er sei zusammen mit seinem Bruder und anderen Roggwilern von der Pnos angefragt worden, ob er mithelfen würde, Hirschi zu unterstützen. Dessen Wahl habe dann gleich Euphorie ausgelöst.
«Wir dachten wirklich, dass das der Anfang von etwas Grossem sein könnte.» Dabei seien es gerade mal 70 Personen gewesen, die Hirschi gewählt hätten. «Wir hätten also schon merken können, dass wir nicht die schweigende Mehrheit repräsentieren.»
Sie seien damals eine sehr lose Truppe gewesen. «Es gab welche, die haben ein wenig mitgedacht.» Die hätten von dem ganzen Rebellischen wegkommen wollen und der Gewalt abgeschwört. Aber das seien längst nicht alle gewesen. Er auch nicht, obschon er öffentlich sagte, er lehne Gewalt ab. «So ein Scheiss, das war gelogen.»
Gewalt sei einfach ein Teil seines Lebens gewesen. Zum Glück sei nie etwas wirklich Schlimmes passiert, zum Glück habe er nie jemandem bleibenden Schaden zugeführt.
Nur einmal traf er auch mit Worten hart.
Die Beleidigung
Im Sommer 2005 besuchte Lüthard mit Kollegen die Solätte, das Stadtfest in Burgdorf. Ein junges Paar wurde von einer Gruppe Rechter verfolgt. Auf einer Restaurantterrasse kam es zu wüsten Szenen, bei denen auch Lüthard anwesend war.
Nadaw Penner, ein israelisch-schweizerischer Doppelbürger und damaliger Stadtrat der SP, wollte im Streit schlichten. Lüthard beschimpfte ihn auf rassistische Weise.
«Ich kannte ihn nicht», sagt Lüthard. «Aber jemand sagte mir, dass er Jude sei. Da dachte ich, so, ich beleidige ihn jetzt mal.»
Penner erstattete Anzeige. Im Juni 2007 wurde Lüthard rechtskräftig wegen Rassendiskriminierung verurteilt. Das Obergericht erkannte eine «massive Herabminderung der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit». Lüthard musste eine Busse von 800 Franken und Penner eine Entschädigung von 100 Franken zahlen.
Ein paar Jahre nach dem Vorfall habe er Penner einmal angerufen und sich entschuldigt. «Das war eine Sache, für die ich mich entschuldigen konnte, da hatte ich einen Namen.» Bei manch anderem Vorfall habe er die Involvierten nicht gekannt.
Penner sagt heute, dass ihn die Sache sehr betroffen gemacht habe. Seither sei aber viel Zeit vergangen und die Angelegenheit nicht mehr so präsent. Er bestätigt, dass Lüthard ihn einmal angerufen hat. «Ich habe die Entschuldigung angenommen.» Er kenne ihn nicht näher, denke aber, dass sie wirklich ernst gemeint gewesen sei.
Im Zuge der Recherchen zu diesem Artikel haben die beiden nochmals miteinander gesprochen.
Die Reise
Lüthard war beim Prozess im Fall Penner am Berner Obergericht nicht dabei, sondern reiste damals durch Afrika. Und begann, seine Sicht der Dinge langsam zu ändern. Mit den Diskussionen in seiner Clique hatte er schon länger Mühe bekundet. «Ich dachte, wenn ich zurückkomme, ist alles vorbei.» Doch er sei wieder am gleichen Punkt gewesen: Kameradschaft, Alkohol, Gewalt.
Im Jahr 2008 oder 2009 sei er nach einem Hockeymatch wieder mal verhaftet worden. Er habe eine Nacht im Knast verbracht. «Da hatte ich schon länger keinen Scheiss mehr gebaut, aber das war wieder ein Rückfall.» Da habe er sich geschworen, dass er sein Leben ändere. «Ich fand es einfach nicht mehr lustig.»
Die Neonazi-Treffen besuchte er immer seltener. «Mit ein paar wenigen habe ich darüber gesprochen, wie sie das sehen.» Aber das sei keine Diskussion gewesen, die sie gern geführt hätten. Er selbst fand einen neuen Freundeskreis. «Zum Glück fällt mir das leicht.»
«Extremismus ist nach unserer Erfahrung vor allem ein Jugendphänomen», sagt Laurent Luks von der Fachstelle Radikalisierung und Gewaltprävention der Stadt Bern. Rechtsextreme gerieten oft durch Krisen, Unsicherheit oder Frust in die Szene. Dort erhielten sie – generell bei Extremismus – einfache Antworten auf schwierige Fragen. Auch Gruppendynamik und Gewalterlebnisse spielten eine Rolle.
Im Umkehrschluss heisse das, dass bei manchen die Einsicht reife, dass die Antworten doch falsch seien. Oder dass ihnen die Gruppe nicht das geben könne, was sie bräuchten. Ein Anreiz könne auch sein, dass sie etwa eine Freundin ausserhalb der Szene fänden. So komme es zum Ausstieg.
In einer Studie der Fachstelle für Rassismusbekämpfung aus dem Jahr 2007 erforschte die Uni Basel die Ausstiegsmotivation. Dazu gehört etwa, dass in rechtsextremen Gruppen nicht persönliche Beziehungen, sondern Kameradschaft zählt; komme es zu Konflikten, führe das rasch zur Spaltung.
Weitere Gründe könnten Burn-out-Symptome oder die Belastung durch ständige Konflikte, Konfrontationen mit der Polizei oder Strafverfahren sein. Die Mitgliedschaft werde als «nichts bringend» erachtet. Gewalt erscheine je länger, je sinnloser. Begünstigend für den Ausstieg sei die Unterstützung von Freunden und Kollegen. Der Einfluss der Familie sei dagegen gering, die Gesprächsbereitschaft der Eltern aber wichtig.
Diese Erkenntnisse seien noch immer gültig, sagt Giorgio Andreoli von der Fachstelle gegen Gewalt und Rassismus «gggfon». Besonders wichtig seien Peergroups, also Gleichaltrige. Aber auch die Gesellschaft spiele eine wichtige Rolle. Sie sei sensibler geworden, schaue genauer hin. Dass Rechtsextremismus oft nur eine jugendliche Phase sei, verneint er: Es gehe auch um echte Überzeugung.
Während in Deutschland das von einem ehemaligen Neonazi mitgegründete Programm «Exit» Ausstiegshilfen für Rechtsextreme anbietet, gibt es in der Schweiz kein solches Angebot. «Der Leidensdruck ist bei uns weniger hoch», sagt Fachstellenleiter Luks.
Er verweist aber auf die Massnahmen im Nationalen Aktionsplan gegen Radikalisierung. Zudem gebe es in Bern ein Programm für die Wiedereingliederung, das auch Rechtsextremen offenstehe. Auch die Radikalisierungsfachstellen sind eine Anlaufstelle für Aussteiger. Doch das «gggfon» erhielt in 22 Jahren gerade mal zwei Anfragen, die Stadtberner Fachstelle in 8 Jahren keine. (rei)
Mitte 2010 zog Lüthard nach Peking. Er lernte Chinesisch, jobbte in einem Restaurant, versuchte sich als Erfinder. Nach zwei Jahren kehrte er zurück. «Ich war nicht weggegangen, um von der Szene loszukommen.» Aber es sei doch ein wichtiger Schritt gewesen.
Bald packte er wieder seine Sachen für eine Reise, die einen Zeitungsartikel wert war. Im April 2012 berichteten die «Freiburger Nachrichten» über Lüthard und porträtierten einen jungen Mann, der mit einem russischen Motorrad um den Globus fahren wollte. Ein Abenteurer, ein Weltenbummler. Die Vergangenheit war im Artikel kein Thema. «Ich konnte damals noch nicht darüber reden.»
Portugal, Marokko, USA, Mexiko, Thailand, Indien, Serbien waren ein paar Stationen seiner Reise. Er lebte günstig, schlief oft draussen. Mit Unterbrüchen dauerte der Trip vier Jahre. Es sei keine spirituelle Reise gewesen. Aber er habe die Chance erhalten, sich komplett neu zu erfinden. «Ich kam zurück als der, der ich sein wollte.» Gewalt und Rassismus hätten da einfach keinen Platz mehr gehabt.
Von der Szene sei er nicht zurückgehalten worden. Professionelle Hilfe habe er keine benötigt. «Es war eigentlich ganz leicht.»
In Goa hatte er einen Portugiesen kennen gelernt. Der machte ihn auf eine alte Mühle in Castelo Branco aufmerksam. Er kaufte sie und zog 2019 mit seiner Freundin dorthin. Sie kommt aus einem Nachbarland der Schweiz. «Aber wir definieren uns nicht über Nationalität.»
Der Neustart
Der Freundeskreis in Portugal kennt seine Geschichte. «Meiner Freundin habe ich früh davon erzählt.» Er selbst blickt zweifelnd zurück. Die Anfangsphase könne er vielleicht damit rechtfertigen, dass er jung und rebellisch gewesen sei. «Aber die Pnos-Phase kann ich nicht entschuldigen.» Er kenne viele, die schon mit 20 oder 21 ausgestiegen seien.
Heute bezeichnet er sich als linksalternativ. Offenheit, Toleranz und Freiheit seien ihm wichtig. Aber er sei kein Mystiker, lehne den Staat nicht ab. «Ich bin ein Teil unserer Gesellschaft.» Selten noch spüre er den Rebellen von früher in sich. Und er zieht sich gern auffällig an.
Für sein früheres Leben empfinde er rückblickend tiefe Scham. «Heute distanziere ich mich von jeder Art von Rassismus und Ausgrenzung.» Und er wisse jetzt: «Über Toleranz und Menschlichkeit scheint die Sonne am hellsten.»
Und sie scheint hell über Portugal. Hier will er bleiben, sicher 20 Jahre lang, das ist der Plan. Sein neues Zuhause lade dazu ein, sich von der Welt abzuhängen. «Aber wir versuchen, up to date zu sein.» Das müssten sie nur schon wegen der Bewässerung der Kulturen, das sei eine grosse Aufgabe. Überhaupt, es gebe viel zu tun in Castelo Branco, sie stünden jeden Tag zwölf Stunden auf den Beinen.
«Die Aussteigerromantik», sagt Pascal Lüthard, «hat nur gerade ein Jahr gedauert.»