SRF. Unbemerkt steht in Chur ein Relikt aus verdrängten Zeiten – das erste und bisher einzige entdeckte nationalsozialistische Denkmal der Schweiz. SRF deckt auf: Das Monument war Teil eines Heldenkults, mit dem Hitler den Krieg legitimierte. Für die Stadt stellt sich die Frage, was damit geschehen soll.
«Ich wusste nichts davon», sagt der langjährige Churer Stadtpräsident Urs Marti. Er nimmt klar Stellung: «Es irritiert mich sehr, dass in Chur ein Denkmal der Nationalsozialisten steht». Der Nazi-Stein befindet sich seit 1938 mitten in der Bündner Hauptstadt auf dem Friedhof Daleu. Jetzt decken umfangreiche, historische Recherchen von SRF Investigativ die umstrittene Vergangenheit des Denkmals auf.
Auftraggeber des Denkmals war der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Diese Organisation wurde 1919 für die Pflege von deutschen Soldatengräbern gegründet und kümmerte sich bald um die Gräber der gefallenen Soldaten im Ausland.
Die Bezeichnung «Nazi-Stein» sei für das Churer Denkmal zulässig, sagt Historiker Bernd Ulrich. Er ist Mitautor eines 2019 erschienenen Buchs zum Volksbund: «Es ist ein nazistisch geprägter Gedenkstein für deutsche internierte Soldaten, um es irgendwie sachlich auszudrücken.»
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge habe sich ab 1933 den Grundsätzen des Nationalsozialismus unterworfen: «Inhaltlich, ideologisch war man sich eben sehr nahe. Denn auch für Adolf Hitler und seine Partei waren der Erste Weltkrieg und dessen Tote von immenser Bedeutung.»
Nazi-Heldenkult mit toten deutschen Soldaten
Zwei Millionen deutsche Soldaten fielen im Ersten Weltkrieg. Sowohl die Nationalsozialisten wie auch der Volksbund waren davon überzeugt, dass Deutschland mit dem Friedensvertrag von Versailles um den Sieg betrogen worden sei. Das Vermächtnis dieser Toten sollte nun – in der Lesart der Nazis – durch das Dritte Reich erfüllt werden. Die unterschwellige Botschaft, so Historiker Ulrich: «Wenn nötig mit einem weiteren Krieg.»
Propagandistisch wurden die Toten ab 1934 als Helden des Dritten Reichs inszeniert und am Heldengedenktag gefeiert.
In den 1930er-Jahren setzte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge den toten Soldaten im Ausland immer grössere Denkmäler. Auch für die Schweiz gab es solche Pläne. Bei St. Gallen, auf einem Aussichtspunkt, wollte der Volksbund eine veritable Totenburg bauen. Doch als die Pläne 1937 öffentlich wurden, war die Empörung riesig. Die Rede war von einem militärischen Vorposten und einer nazideutschen Unverschämtheit. Der Volksbund musste sich zurückziehen und liess auch Projekte in Basel und Luzern fallen.
Gescheiterte «Totenburg» in St. Gallen
Als einziges bekanntes Projekt realisierte der Volksbund das von SRF aufgedeckte Denkmal in Chur. Zum Vorstand der Churer Volksbund-Ortsgruppe gehörten laut einer Namensliste von 1943 drei bekannte Nazis.
Im November 1938 wurde das Mini-Mausoleum in Chur aufgestellt. Dies geht aus einer Aktennotiz des deutschen Generalkonsuls in Zürich hervor. Vorher war der mindestens 13 Tonnen schwere Granitstein in München nach deutschen Plänen bearbeitet worden. Neben der Form – angelehnt an das antike Mausoleum – ist auch die Inschrift «Hier ruhen deutsche Soldaten» auffällig. Die verwendete Frakturschrift war beliebt bei den Nazis.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge existiert noch immer und bezeichnet sich heute als humanitäre Organisation, die dem Frieden verpflichtet ist. Der Volksbund hat 2019 seine komplette Geschichte, auch jene während der Nazi-Zeit, kritisch aufarbeiten lassen.
Zum Churer Denkmal sagt Sprecherin Diane Tempel: «Natürlich klebt da ein Stück Gesinnung daran.» Die Form des Mausoleums sei typisch: «Dieses Denkmal erzählt auch vom damaligen nationalsozialistischen Totenkult.»
Auf die Frage, wieso sich der Volksbund heute nicht mehr um das Denkmal kümmere, sagt Tempel, die gesetzliche Grundlage fehle: «Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz gibt es kein Kriegsgräberabkommen.»
Verdrängen und Vergessen in Chur
Untätig blieb in den letzten Jahrzehnten auch die Stadt Chur. Stadtpräsident Urs Marti: «Ich glaube, meine Vorvorgänger haben nach dem Zweiten Weltkrieg die Chance verpasst, dieses Denkmal kritisch zu hinterfragen.» Irgendwann seien die Hintergründe des Denkmals nicht mehr erkennbar gewesen.
Meine Vorvorgänger haben die Chance verpasst, dieses Denkmal kritisch zu hinterfragen.
Urs Marti, Churer Stadtpräsident
Was nun mit dem Nazi-Stein passiert, sei offen. Die Stadtregierung wolle zuerst die Reaktionen aus der Bevölkerung und der Politik abwarten. Urs Marti könnte sich das Denkmal als Mahnmal vorstellen. Die Lehre: «Wenn sich Länder machtpolitisch und kriegerisch ausdehnen wollen, muss man wachsam sein und frühzeitig reagieren. Das hat man offensichtlich in den 1930er-Jahren zu wenig gemacht.»
Parallelgesellschaft der Nazis in der Schweiz
Dass der Nazi-Stein in Vergessenheit geraten ist, hat laut Historiker Martin Bucher auch mit den 30er-Jahren zu tun – vieles sei noch nicht aufgearbeitet worden.
Damals waren die Nationalsozialisten auch in der Schweiz mit einer Vielzahl von Organisationen präsent: Auch im Ausland sollten die eigenen Bürger auf den Nationalsozialismus eingeschworen werden. «Die Idee war, dass alle Deutsche, die in der Schweiz wohnen, in diesen Organisationen erfasst sind», sagt Martin Bucher. Der Historiker hat ein Buch zur Hitlerjugend in der Schweiz geschrieben, die auf dem Höhepunkt knapp 50 Standorte hatte mit 2500 deutschen Kindern und Jugendlichen. Von den Deutschen in der Schweiz wurde im Minimum eine Mitgliedschaft bei der Deutschen Kolonie erwartet.
Wenn nötig, habe Deutschland Druck auf seine Bürger und Bürgerinnen ausgeübt, sagt der Historiker: «Es wurde beispielsweise gedroht, Reisepässe nicht zu verlängern, wenn die Kinder nicht in der Hitlerjugend sind.» Schweizer und Schweizerinnen waren in diesen nationalsozialistischen Organisationen nicht erlaubt.
Bereits 1935 forderte der Bündner SP-Nationalrat Gaudenz Canova vom Bundesrat die Ausweisung von Wilhelm Gustloff, dem Chef der Schweizer NSDAP. Er habe «die ganze Schweiz mit einem dichten Netz von nationalsozialistischen Organisationen überzogen, deren oberste Leitung in seinen Händen liegt».
Doch der Bundesrat lehnte die Forderung ab, es gebe keine triftigen Gründe dafür. Neue Richtlinien sollten stattdessen sicherstellen, dass die Nazis unter sich bleiben und die Schweizer Bevölkerung in Ruhe lassen.
Erst nach der Ermordung von Gustloff am 4. Februar 1936 durch einen jüdischen Studenten versuchte der Bundesrat, die Macht der NSDAP zu beschneiden. Mit wenig Erfolg, sagt Martin Bucher. «Man hat gewusst, was sie machen, und man hat toleriert, was sie machen.» Und: «Mit einem gewissen Druck konnten sie auch erreichen, was sie wollten.»
Druck übten die Nationalsozialisten zum Beispiel für das Erntedankfest 1942 im Zürcher Hallenstadion aus. Damit das Fest stattfinden konnte, habe Deutschland damit gedroht, einen wichtigen Kohle-Liefervertrag nicht zu unterschreiben, sagt Historiker Bucher. Das Fest fand dann mit bundesrätlicher Unterstützung statt. Es dürfte mit 12’000 Deutschen europaweit einer der grössten Nazi-Anlässe ausserhalb Deutschlands gewesen sein.
Die «Säuberung»
Der Bundesrat griff erst durch, als die deutsche Niederlage feststand. Anfang Mai 1945 verbot er die NSDAP und ihre Unterorganisationen. Dazu gehörte auch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge – der Auftraggeber des Churer Denkmals.
Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht endete, fanden gleichentags schweizweit Razzien statt. Im Bundesarchiv überliefert ist beispielsweise der Durchsuchungsbefehl beim 44-jährigen Werner Nandelstaedt in Chur, damals Leiter der deutschen Speisewagen-Gesellschaft Mitropa bei der Rhätischen Bahn.
Nandelstaedt koordinierte laut einer Aktennotiz 1938 die Aufstellung des Churer Nazi-Steins. 1945 wurden er und seine Frau aus der Schweiz ausgewiesen. Auch der Bildhauer Philipp Reusch – er hatte den Auftrag für das Denkmal an das Churer Bildhauerunternehmen vermittelt – musste mit seiner Frau die Schweiz verlassen.
Man hat sich des Problems entledigt, indem man sich der Personen entledigte.
Martin Bucher, Historiker
In der Öffentlichkeit war der Druck gross, die Schweiz so bald wie möglich von den Nazis zu «säubern». Gemäss den Richtlinien des Bundesrates wurden beispielsweise Deutsche mit einer leitenden Funktion in einer Nazi-Organisation ausgewiesen. Unter den normalen Mitgliedern traf es Deutsche, die «Propaganda betrieben, Landsleute unter Druck gesetzt» oder sich abschätzig über die Schweiz geäussert hatten.
Im «Bericht des Bundesrates über die Ausweisung von Nationalsozialisten vom 26. April 1946» sind mehrere hundert Fälle aus fast allen Kantonen aufgelistet, und es werden auch die Ausweisungsgründe genannt:
Bis 1946 wurden laut dem Historischen Lexikon der Schweiz bei der «Säuberung» rund 2200 Deutsche ausgewiesen: «Man hat sich des Problems entledigt, indem man sich der Personen entledigte», sagt Historiker Martin Bucher. Symptomatisch sei auch, dass das Denkmal in Chur in Vergessenheit geraten sei: «Es passt zur Geschichte der Nazis in der Schweiz, die bisher nur punktuell aufgearbeitet wurde.»
58 Namen – wer ist in Chur begraben?
Auf dem Denkmal in Form eines Mini-Mausoleums sind insgesamt 58 Namen eingemeisselt.
Hier vor Ort begraben sind wohl die 16 Männer, die prominent auf der Vorderseite aufgeführt sind. Belegt sind davon zwölf. Die meisten waren deutsche Soldaten, interniert in Chur und Umgebung während des Ersten Weltkriegs. Manche starben laut Todesregister an Kriegsverletzungen, andere raffte die Spanische Grippe dahin, einer starb an einer Blinddarmentzündung.
Es gibt kaum Informationen zu diesen Männern. Überliefert ist einzig eine unvollständige Liste zum «Kameradengrab» aus dem Archiv des Volksbundes – dem Auftraggeber des Denkmals. Aus dieser Liste ist ersichtlich, dass drei Männer internierte Zivilisten waren. Franz Joseph Handzik beispielsweise verübte laut den Behörden Suizid im Gefängnis. Sie sahen in ihm einen Kleinkriminellen und Heiratsschwindler.
Jene Deutschen, die auf der Rückseite des Denkmals verzeichnet sind, lebten laut Angaben des Volksbundes vor dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz. Sie starben während des Kriegs in der Ferne.
Chronologie: So kam es zum Churer Nazi-Stein
1933
- In Deutschland kommt Adolf Hitler an die Macht.
- Das deutsche Konsulat bittet die Bündner Regierung um das ewige Ruherecht für die Gräber von 71 deutsche Soldaten. Die betroffenen Gemeinden lehnen ab.
- Einzig in Davos bleiben die Gräber bestehen. Sie befinden sich auf dem Privatgelände eines deutschen Sanatoriums.
1934
- Zum ersten Mal findet in Deutschland der Heldengedenktag statt.
- Robert Tischler, Chefarchitekt des Volksbundes, unternimmt eine Reise durch die Schweiz.
1935
- Der Volksbund erhält von der Stadt Chur eine Konzession für ein Doppelgrab auf dem Daleu-Friedhof.
- Im Nationalrat warnt der Churer SP-Politiker Gaudenz Canova vor nationalsozialistischen Organisationen in der Schweiz.
1936
- Wilhelm Gustloff, Chef der NSDAP in der Schweiz, wird von einem jüdischen Studenten in Davos ermordet.
- Die Bauleitung des Volksbundes erstellt in München die Pläne für das Churer Denkmal.
1937
- Bei St. Gallen scheitert der Volksbund mit einem Projekt für eine grosse Totenburg. Der öffentliche Widerstand ist zu gross.
- Als Ersatz plant der Volksbund eine Totenburg bei Meersburg am Bodensee. In der Schweiz werden die Überreste von 69 deutschen Soldaten exhumiert und dorthin gebracht. Es ist ein Nazi-Propaganda-Anlass.
1938
- Im November stellt der Volksbund das Denkmal in Chur auf.
- Im gleichen Monat finden in Deutschland die Novemberpogrome statt. Sie sind der Anfang der Vernichtung der Juden.
1955
- Der Volksbund saniert das Denkmal in Chur.
- In einer Aktennotiz ist zu lesen, dass der daran beteiligte Churer Bildhauer nach dem Krieg wegen des Denkmals Aufträge verloren habe.
1995
- Nach 60 Jahren läuft die Konzession für das Denkmal aus.
- Ein Jahr zuvor hatte eine Expertenkommission vorgeschlagen, das Grab unter Schutz zu stellen.
Was bisher über das Denkmal bekannt war
1998 verfasste der Kunsthistoriker Leza Dosch den ersten und bisher einzigen Bericht zum Denkmal auf dem Daleu-Friedhof im Auftrag der Stadt Chur.
Dosch führte damals ein Gespräch mit dem 84-jährigen Churer Bildhauer Enrico Arioli, der als Lehrling am Denkmal mitgearbeitet hatte. Arioli erzählte dem Kunsthistoriker vom Auftraggeber – dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Der tonnenschwere Granitblock sei in München bearbeitet worden, weil der Volksbund nicht zufrieden gewesen sei mit der Ausführung.
Am Rand erwähnte Dosch erstmals den Nationalsozialismus, weil ein Mitarbeiter der Firma Arioli in Chur als Nazi bekannt war. Er hatte den Auftrag vermittelt, die Bildhauerfirma habe wegen ihm Aufträge verloren.
2021 publizierte der Historiker und frühere SRF-Journalist Hansmartin Schmid sein Buch «Churer Grabmäler», dort enthalten ist auch das Denkmal als «Deutsches Kriegerdenkmal, 1914-1918». Schmid stützte sich auf den Bericht von Dosch.