Neue Zürcher Zeitung vom 23.02.2012
In einem Waldstück bei Bachs wurden am 7. Dezember 1944 zwei Schweizer Landesverräter erschossen. Eine historische Betrachtung eines kaum bekannten Ereignisses aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.
von Walter Schaufelberger
Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal von einem «Hitlerplatz» südwestlich der Gemeinde Bachs im Zürcher Unterland vernahm und nach der Herkunft des Namens zu fragen begann, verblieben unter zum Teil abstrusen Erklärungen zwei ernstzunehmende. Beide haben ihren Ursprung im Zweiten Weltkrieg: Der «Hitlerplatz» soll entweder Sammelplatz für die nach Eröffnung der Feindseligkeiten zu evakuierende Dorfbevölkerung oder Schauplatz von Exekutionen prodeutscher Landesverräter gewesen sein. Aus der zweiten Version entstand persönliche Betroffenheit, hatte mein Vater doch als Auditor und Vertreter der Anklage im damaligen Divisionsgericht 6 in mehreren Fällen an Hinrichtungen teilnehmen müssen. Ob ich etwa nach so vielen Jahren seinem Schatten im Eggwald begegnen sollte?
Die Landesverräter-Akten
Die Landesverräter-Akten im Berner Bundesarchiv erteilten schliesslich die Antwort: Wahrhaftig sind am 7. Dezember 1944 «nordöstlich Pt. 625/1 800 m südwestlich Bachs, Karte 1:100 000» kurz vor dem Eindunkeln zwei zum Tod Verurteilte erschossen worden, und tatsächlich erschien der Name meines Vaters unter den kommandierten Offizieren der Militärjustiz. Bei den Hingerichteten handelte es sich um die Chefs eines in Zürich angesiedelten, mehrere Dutzend Personen umfassenden, von Stuttgart aus gelenkten Ringes – der grössten nachrichtendienstlichen Organisation in der Spionagegeschichte der Schweiz.
Objekte ihrer Tätigkeit waren in erster Linie Geländeverstärkungen aller Art von Drahthindernissen und Panzersperren bis zu Schartenständen, Bunkern und Werken zwischen Graubünden und der Romandie, aber auch Munitions- und Sprengstofffabriken, die Entwicklung von Waffen und Ausrüstung, Truppenstandorte und Truppenstärken sowie Mobilmachungsplätze.
Über das Militärische hinaus reichten Informationen aus der Rüstungsindustrie, gelegentlich auch über Inhaber jüdischer Firmen, mit deren Übernahme nach erfolgtem deutschem Einmarsch Interessenten und Sympathisanten hätten geködert werden sollen. Anfänglich wurden die Nachrichten, auch unter Mitwirkung der reichsdeutschen Gesandtschaft in Bern und verschiedener deutscher Konsulate, per Kurier, später mittels eines Funkgerätes an die Zentrale in Stuttgart übermittelt.
Die biografischen Profile der beiden Haupttäter Walter L. und Hermann G. stimmen im Wesentlichen überein. Beide wurden 1897 in mittelständischen Verhältnissen geboren. Beide erhielten eine angemessene Schulbildung. Beide brachten es beruflich auf keinen grünen Zweig, kamen bald einmal wegen Betrügereien mit den Gesetzen in Konflikt und gerieten in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Beide erhofften sich, dass sie sich und ihre Familien dank deutscher materieller Unterstützung aus der Misere des Alltags befreien könnten.
In deutschen Diensten
Walter L., Sohn eines Posthalters, Landwirts und Gemeindepräsidenten im Berner Seeland, versuchte sich, nachdem er die Ausbildung zum Notar an der Universität Bern abgebrochen hatte, erfolglos als Kaufmann in verschiedenen Branchen. Ursprünglich Mitglied der Freisinnig-Demokratischen Partei, geriet er ins Fahrwasser der damals aufkommenden rechtsextremen Erneuerungsbewegungen. Von der Militärdienstpflicht dispensiert, wurde er dem Fürsorgehilfsdienst zugeteilt.
Hermann G. kam in einer Auslandschweizer-Familie in Süddeutschland in einem Restaurationsbetrieb zur Welt und bildete sich zum Zahntechniker aus. Da er als Schweizer Bürger nicht zum Kriegsdienst in deutschen Regimentern zugelassen wurde, wie es sein Wunsch gewesen wäre, liess er sich schliesslich hierzulande nieder und machte bereits nach der Rekrutenschule ebenfalls Bekanntschaft mit der Strafjustiz. Beruflich gescheitert, bezog er während mehrerer Jahre Unterstützungsgelder vom Zürcher Fürsorgeamt. Nach Zugehörigkeit zur Nationalen Front trat er, angeblich aus Tarngründen, der Sozialdemokratischen Partei bei. Militärdienst leistete er als Angehöriger einer Territorial-Füsilierkompanie im Festungsgebiet Sargans und überdies, weil arbeitslos, freiwillig auch in anderen Verbänden.
Walter L. verzichtete auf einen Anstellungsvertrag mit dem deutschen Auftraggeber und gab sich neben einem geringen Honorar mit den Versprechungen lukrativer Grossaufträge und, nach der deutschen Machtübernahme, enteigneter schweizerischer Firmen zufrieden. Im Gegensatz zu ihm bezog Hermann G., der in einem mehrwöchigen «Funkerkurs» in Stuttgart in das Spionagehandwerk eingeführt worden war, ein vertraglich festgelegtes monatliches Fixum plus Spesen. Für Sonderleistungen forderte er zusätzliche Prämien ein. Gemäss Urteilsdispositiv betrug Hermann G.s Gesamtumsatz zwischen Sommer 1941 und Herbst 1942 nicht weniger als 30 000 Franken.
Einstimmige Todesurteile
Die Todesurteile wurden durch das Divisionsgericht 6 einstimmig gefällt, die Begnadigungsgesuche durch die Vereinigte Bundesversammlung am 7. Dezember 1944 mit 181:26 (Walter L.) bzw. mit 204:10 (Hermann G.) Stimmen abgelehnt; wenige Stunden später erfolgte im Eggwald die Hinrichtung. Am frühen Morgen jenes Tages war übrigens im benachbarten Niederweningen eine Maschinenfabrik durch ein alliiertes Kampfflugzeug beschossen worden.
Die Hinrichtungen von Landesverrätern im Zweiten Weltkrieg sind von der Mehrheit des Schweizervolkes gutgeheissen, wenn nicht sogar gefordert worden. Selbst die Synodalen der Zürcher Landeskirche lehnten anlässlich des ersten Todesurteils eine Resolution zur Begnadigung des Verurteilten ab. Dessen ungeachtet haben sich in unserem Fall die Beteiligten mit ihren militärischen Pflichten schwergetan. Grossrichter und Auditor litten psychisch und physisch, wie ich aus eigener Anschauung weiss, und von den erst im Eggwald über ihren Auftrag orientierten 40 Soldaten der beiden Exekutionspelotons verfehlten, bei einer Schussdistanz von sechs Metern und normalen Sichtverhältnissen, acht das Ziel.
Wille zur Freiheit
Insgesamt hat die damalige Generation unter bedrohlichen Umständen – auch mein Vater erhielt vom deutschen Reichssicherheitshauptamt per Post eine schriftliche Todesdrohung zugestellt – und unter Opfern ihre Pflicht erfüllt. Es ist Mode geworden, die historische Leistung der Aktivdienstgeneration herunterzuspielen, indem die Gefährdung wie auch die Wehrbereitschaft der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in Zweifel gezogen werden. Demgegenüber bezeugt das dramatische Geschehen im Eggwald gleich beiderlei: sowohl die akute Bedrohung durch die deutsche Militärspionage (die notabene unter dem Eindruck der ersten Todesurteile eingestellt worden ist) wie auch den festen Willen von Volk und Armee, die Freiheit und Unabhängigkeit der Schweiz mit allen Mitteln und bis zur letzten Konsequenz zu verteidigen.
Walter Schaufelberger, Jahrgang 1926, war Professor für allgemeine und schweizerische Militärgeschichte an der Universität Zürich sowie der ETH Zürich. Mit diesem Artikel reagiert er auf eine in diesen Spalten erschienene «Trouvaille» zum Thema «Hitlerplatz» (NZZ 7. 2. 12).