Der letzte lebende Funktionär der Nationalen Front der 1930er-Jahre über Berner Nazis damals ? und die jungen Rechtsradikalen heuteIm Frontenfrühling 1933 war er Pressechef der Berner Nazis, mit dabei bei der Schlägerei im Volkshaus, später nach Hitler-Deutschland emigriert. Bei den Grossratswahlen 1934 hatte er für die Nationale Front geworben ? und dass heute erstmals seit 1940 wieder eine rechtsextreme Partei für das bernische Parlament kandidiert, erschüttert den jetzt 97-Jährigen tief.
Er ist der letzte noch lebende Kader der Nationalen Front (NF) und nun bereit, erstmals darüber zu reden. Allein, er bitte, seinen Namen und Wohnort nicht zu veröffentlichen, um ihn vor ungebetenen Gästen und Belästigungen zu schützen ? denn als bald 100-Jähriger habe er Angst davor, brauche er Ruhe. Dabei ist er für sein hohes Alter in Topform, hellwach, übers Zeitgeschehen gut informiert, politisch interessiert. Wacker pafft der alte Mann auch noch seine «Nazionali» ? starken Tobak, krasses Kraut. Und Gästen serviert er auch schon einmal vormittags ein Gläschen Grappa.
Vom 15-jährigen Mussolini-Fan?
Grappa hat er ? nennen wir ihn Kurt Müller ? in Italien schätzen gelernt. Dort, unweit von Turin, fängt die Geschichte an. Sein Vater hatte in der Schweiz keine Arbeit, so zog die Familie aus Burgdorf nach Italien, wo der 1909 Geborene als Kind und Teenager den Aufstieg des Faschismus erlebte. «Im Volk war Aufbruchstimmung, denn mit Mussolini wurde die Lage der Arbeiter viel besser. Ich hatte als 15-Jähriger keinen Grund, gegen den Faschismus zu sein, denn er brachte Italien damals soziale Errungenschaften.»
?zum 25-jährigen Nazi-Agitator
Zu Beginn vor allem Italien-orientiert, gefiel Müller bald auch der «Sozialismus der Tat», wie ihn die deutschen Nazis Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre postulierten. «Ich war antibürgerlich eingestellt, im Grunde ein Sozialist. Die Roten kamen für mich aber nicht in Frage. Die SP redete viel, aber sie tat wenig ? und den sowjetrussisch geführten Kommunisten traute ich erst recht nicht.» Müller, 1930 Musikstudent, las Adolf Hitlers «Mein Kampf» ? und fand bald seine politische Heimat: Die Nationale Front (NF), in deren «Gauführung» Bern der begabte 25-Jährige zügig avancierte. Als deren Pressechef betreute er im «zentralen Kampfblatt» der NF, «Die Front», den Wahlkampf zu den bernischen Grossratswahlen 1934. Er beschrieb «die Unzufriedenheit mit dem herrschenden System», beschwor «marxistisch verblendete Arbeiter», sich von «roten Bonzen» genauso loszusagen wie von der «alten Tante Freisinn». Ziel sei ein «Eidgenössischer Sozialismus» ? eine «wahre Volksgemeinschaft», in der «endlich Sauberkeit und Gerechtigkeit» herrschten. Es sei dies «ein neuer Weg, der keine Kompromisse mehr duldet» ? auch nicht gegenüber «jüdischem Ungeist und Logenwesen», dem «der schärfste Kampf anzusagen» sei.
Strassenmilitanz, Nachtaktionen
Bei der blutigen Schlägerei im Berner Volkshaus im Juni 1933, als die Nazis ein Treffen der Roten aufmischten, war er dabei. Heute sagt er zwar, er sei nur passiv am Rande gestanden. «Und die Kameraden, die mit Stahlruten kamen, waren ja sowieso alle Zürcher. Die Zürcher waren bei uns immer die härtesten ,Cheibe?.» Laut dem SP-Blatt «Berner Tagwacht» allerdings war der 24-Jährige sehr wohl direkt in den Raufhandel involiert ? als einer der NF-Aufpasser, die zuerst Schmiere standen und «dann eingriffen».Auch bei einer «Malaktion», um mit Pinsel und Farbe Nazi-Parolen zu schmieren, machte er mit. In der Nacht vor einer Rede des SP-Nationalrats Robert Grimm zog Müller mit Kameraden los, um den Ort des Anlasses mit dem Schmähspruch «Grimm = Millionär» zu zieren. Am NF-Anschlag auf die jüdische Synagoge in Bern, an deren Fassade 1937 «Juda verrecke» gepinselt wurde, war er indessen nicht beteiligt; die Täter wurden verurteilt.
Geselligkeit unter Grauhemden
Ohnehin dürfe man seine Rolle nicht überschätzen, sagt er ? auch, weil ihm das Gesellige mindestens so wichtig gewesen sei wie das Politische. Er, der 1935 etwa auch Zusammenkünfte der Nationalen Jugend (NJ) leitete, erinnert sich an Kameradenausflüge aufs Land, an den Thunersee etwa, wo man sich mit Freunden von der bäuerlich-rechten Heimatwehr zu fröhlichen Abenden traf. «Frühmorgens gings dann ins Freie zum disziplinierten Frühsport», sagt Müller ? schüttelt den Kopf, muss lachen: «Ach ja, bei uns wurde halt eben auch das Militärische, Disziplinierte gepflegt. Das sah man auch am oft einheitlichen Auftreten in Grauhemden.»
«Fröntler»-Flucht ins Hitlerreich
1937 verging Müller Lachen und Geselligkeit: Er fühlte sich in seiner Haut «zunehmend ungemütlich» ? denn in Bern wurde der Boden für die Frontisten heiss. Üble Provokationen wie die Schmiererei an der Synagoge, Demonstrationen wie der «Marsch auf Bern», bei dem Tramscheiben eingeschlagen wurden, und vor allem der Prozess um die antisemitischen «Protokolle der Weisen von Zion» brachten die «Fröntler» in Nöte. Berns Gemeinderat verurteilte ihre «in höchstem Masse verwerflichen Methoden».Müller wollte fort, weg von Bern ? und Hitler-Deutschland bot sich ihm an: Berns Reichsdeutsche Gesandtschaft ? die sich um Schweizer Freunde gut kümmerte ? stellte ihm sogleich ein Visum aus. Müller fuhr nach Stuttgart, kam unter in einer «Pension Eckel» ? «,Eckel? mit ,ck?, aber mit ,k? wäre passender gewesen» ?, und hatte bald eine Stelle beim Stuttgarter Stadtorchester.
Augenkontakt mit dem «Führer»
Reiste er für Besuche nach Bern, genoss er privilegierten Grenzverkehr: Während in Lörrach Aus- und Einreisende von den Deutschen rigoros gefilzt wurden, wurde Müller immer anstandslos und achtungsvoll mit Hitlergruss durchgewunken ? er brauchte nur ein Kärtchen mit einer Telefonnummer, einem Gestapo-Anschluss vermutlich, zu zeigen; diesen Passepartout hatte ihm ein Schweizer Nazi in Stuttgart besorgt. Auch hatte Müller einmal den Eindruck, dass ein deutscher Geheimdienstler ihn anwerben wollte, was der Berner aber abwehrte.Politisch zog sich Müller immer mehr zurück ? von den Ereignissen in Deutschland, wie den Judenpogromen von 1938 («Reichskristallnacht»), will er «nicht viel gemerkt» haben. Was er dagegen mitbekam, war der Einmarsch in Österreich ? wo er dem «Führer» begegnete. «Es war im frisch besetzten Innsbruck: Ich stand in der Menge, ganz vorne, als Hitler kam. Ich war ganz nahe an ihm, etwa drei Meter entfernt.» ? Und, wie wars? «Speziell. Seine Augen, dieser Blick! Und reden, ja, das konnte dieser Mann halt schon.»
Nach dem Nazi-Rausch der Kater
Hitler zu sehen, mochte für Müller ein letztes Aufflackern von NS-Begeisterung gewesen sein ? doch in seiner Sicht gings «mit der Idee» längst nur noch bergab: «Erst hatte mich Mussolini enttäuscht, weil er Italien in den Abessinienkrieg riss. Dann enttäuschten mich die Nationalsozialisten, weil die früher so stark betonten sozialen Werte völlig verraten wurden ? dafür zog Hitler ganz Europa in Krieg und Tod, und spätestens mit dem Überfall auf Russland verlor Hitler komplett den Verstand.» Auf deutsche Verhältnisse übertragen konnte man den Berner Müller vergleichen mit den Anhängern des so genannt linken, «strasseristischen» Flügels in der NSDAP, in deren Verständnis auf die «nationale Erhebung» von 1933 eine soziale, antikapitalistische Revolution hätte folgen sollen; was die «Hitleristen» aber bekanntlich anders sahen.
«70 Jahre nicht darüber geredet»
Bei Kriegsausbruch 1939 kehrte Kurt Müller «als enttäuschter Idealist», von Politik angewidert, in die Schweiz zurück ? welche er 1940 bis 1943 als Flab-Soldat verteidigte, während einige seiner NF-Freunde als Schweizer Freiwillige für den «Führer» in Russland fielen. Nach dem Krieg zog sich der einstige NF-Pressechef ganz in sein Berufs- und Privatleben zurück, und seine Vergangenheit verdrängte er, wie dies auch die Familie tat. «Man hat einfach 70 Jahre lang nicht mehr darüber geredet», sagt der 97-Jährige.Dass ihn die verdrängte Vergangenheit auf seine ganz alten Tage doch noch eingeholt hat, geht auf eine «Bund»-Anfrage zurück; Müller, im Zuge von Recherchen geortet, war im Sommer 2005 zum Gespräch bereit, verbat sich aber jede Publikation. Dem Treffen folgten Monate, in denen sich Müller «an längst Vergessenes erinnerte» und «manchmal nicht einschlafen konnte». Und vor drei Wochen rief er den «Bund» an, sagte: «Gut, Sie können kommen. Ich will helfen, diese Vaganten zu bekämpfen.»
Der alte Mann, die junge Rechte
Mit «Vaganten» meint er junge Berner Rechtsextremisten, die in ihrem Verständnis an die NF seiner eigenen Jugend anknüpfen. Seit einiger Zeit schon irritieren den alten Mann Presseberichte über das Erstarken einer jungen rechtsradikalen Szene, die im Bernbiet bereits 250 Köpfe zählt und erstmals seit 1945 hierzulande eine rechtsextremistische Parteigründung zustande gebracht hat. Dass diese «Partei National Orientierter Schweizer» (Pnos) im Oberaargau nun aber sogar zu den Grossratswahlen antritt, nachdem ihr schon der Einzug ins Langenthaler Ortsparlament gelungen ist ? das sei zu viel, enerviert sich der greise Ex-Nazi. «Und was mich am meisten ärgert, ist, dass diese Brüder in meiner Heimatstadt Burgdorf so stark sind. Dort wurde sogar die ,Solätte? gestört.»Wie vor 70 Jahren die NF tritt die Pnos als «konsequent national und sozial» agitierende Partei des «Eidgenössischen Sozialismus» auf. Sie will das heutige «entartete System» samt «parlamentarischer Scheindemokratie», Parteienvielfalt und Pressefreiheit stürzen und eine ethnisch-kulturell «nach gewachsenen Volks- und Rassenstrukturen» abgegrenzte, ständestaatliche «Volksgemeinschaft» aufbauen. Die Pnos bezieht sich in ihrer ideologischen Schulung auf die NF, und selbst der frühere Frontistengruss «Harus!» ist wieder im Schwange.
«,Löle? seid ihr ? hört auf damit!»
«Ich verstehe das einfach nicht», erklärt Kurt Müller, der einst selber «Harus!» rief. «Könnte ich den Jungen mit ihrer Pnos etwas sagen, so dies: ,Löle? seid ihr ? hört auf damit! Ihr könnt und werdet nur verlieren. So etwas fängt vielleicht ja noch gut an, aber es endet bös. Ich weiss es.»Seine und diese neue Generation gleichzusetzen, verbiete sich indes, glaubt Müller: «Auf dem Rütli einen Bundesrat niederzubrüllen, das hätten wir in den 30er-Jahren nicht getan. Vor allem aber spreche ich den Jungen Idealismus ab. Bei uns war anfangs noch wirklich Idealismus im Spiel, aber wir waren ja damals viel zu naiv und liessen uns mitreissen. 1940 merkten wir den Bankrott von Faschismus und Nationalsozialismus ? wir waren dann wütend auf Führerfiguren, denen wir gefolgt waren. Heute jedoch kann es keinen Zweifel mehr daran geben, dass die ganze Entwicklung damals eine einzige grosse Bankrotterklärung war.»
«Es tut mir leid, was passiert ist»
Persönliche Schuld empfinde er zwar nicht, «ich habe ja schliesslich keine Verbrechen begangen», sagt Müller. «Aber leid tuts mir, was damals passiert ist, und dem kann ich nicht ausweichen. Wieso, frage ich mich oft, können Menschen nicht friedlich miteinander verkehren? Aber ich konnte es ja auch nicht.»Sozialist sei er immer geblieben, Antimilitarist im Kriege geworden ? «Nationalismus aber, das ist völlig vorbei, total veraltetes Denken», so der Ex-Nazi, der sich heute als «linker Europäer» sieht. Und was rät er der Gesellschaft im Kampf gegen Neonazismus? «Nicht verbieten, Ansichten kann man nicht verbieten. Aber man kann sie bekämpfen mit Aufklärung. So wie in den 30er-Jahren der ,Bund? uns bekämpfte.»Der beste Schutz gegen Extremismus jedoch sei, «wenn das System taugt», die Gesellschaft trägt, der Staat sorgt ? denn wäre die soziale Lage nicht so desolat gewesen zu seiner Zeit, «wäre ich vielleicht gar nie erst bei der Front gelandet».