Republik.
Bisher unveröffentlichte Dokumente zeigen, wie das Zürcher Kunsthaus, die Stadt und der Kanton Zürich mit der Bührle-Stiftung einen Pakt eingingen, um Raubkunst-Rückgaben zu verhindern. Serie «Bührle-Connection», Teil 1.
Eine Recherche von Daniel Binswanger (Text) und Andrea Ventura (Illustration)
Es sollte ein Festtag sein, ein Fest für Zürich, ein Fest der Kunst. Der Kunsthaus-Erweiterungsbau von David Chipperfield wird heute für das Publikum eröffnet, nach fast 20-jähriger Planungs- und Bauzeit. Das Museum bekommt grosszügige neue Räume für Wechselausstellungen, Museumsdidaktik, zur Behausung neuer Leihgaben und zur Präsentation der eigenen Sammlung.
Doch heute ist kein Festtag.
Was mit der Eröffnung den vorläufigen Abschluss findet, ist eine Geschichte des institutionellen Versagens, der Manipulation, der gezielten Irreführung. Stadt und Kanton Zürich haben – bringt man den Wert des kantonalen Grundstücks in Anschlag – gegen 150 Millionen Franken in die Hand genommen, um für die Zürcher Bevölkerung einen luxuriösen Musentempel zu bauen. Entstanden ist ein Betongrab der historischen Verantwortung.
Die politischen Einsätze könnten höher nicht sein. Die Eröffnung der Kunsthaus-Erweiterung, deren Hauptfunktion darin besteht, die Sammlung der Bührle-Stiftung zu beherbergen, ist der wichtigste erinnerungspolitische Akt der offiziellen Schweiz seit der Veröffentlichung des Schlussberichts der sogenannten Bergier-Kommission im Jahr 2002. Der Waffenindustrielle Emil G. Bührle ist das wirkungsmächtigste Symbol des moralischen Versagens der Eidgenossenschaft im Zweiten Weltkrieg. Allen Beteiligten musste klar sein, dass ein kritischer, verantwortungsvoller und transparenter Umgang mit diesem toxischen Erbe die Bedingung dafür ist, dass Kunstwerke aus der Bührle-Sammlung in einem öffentlich subventionierten Museum gezeigt werden können. Diese Voraussetzungen, das zeigen Recherchen und unveröffentlichte Dokumente, sind nie erfüllt worden.
Kollektives Versagen
Alles beginnt mit dem Tod von Emil G. Bührle im Jahr 1956. Seither stand die Frage im Raum, ob seine Sammlung nicht ins Museum gehört – trotz aller Vorbelastung. Bührle war ein Freund der Künste und ein Freund des Zürcher Kunsthauses. Der Kunsthaus-Erweiterungsbau von 1958 – der sogenannte Bührlesaal – wurde bereits nach seinem grosszügigen Stifter benannt. Nach der Jahrtausendwende begannen sich die Pläne für einen weiteren Erweiterungsbau zu konkretisieren, der die Sammlung Bührles beherbergen sollte. 2012 wurde das Projekt in einer Volksabstimmung angenommen. Ein generationenübergreifender Prozess kommt mit der feierlichen Eröffnung jetzt zum Abschluss. Doch das ist nicht das Ende.
Grundsätzlich spricht nichts dagegen, Werke von Weltrang mit belasteter Vorgeschichte einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen. Im Gegenteil. Nichts spricht dagegen, die öffentliche Präsentation einer mit Kapital aus der Bewaffnung des NS-Staates zusammengekauften Privatsammlung als Chance zu begreifen: zur kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, zu wissenschaftlicher Aufklärung, zu möglichst lückenloser Provenienz-Forschung, zur didaktischen Aufarbeitung der Geschichte für die Museumsbesucherinnen. Nichts spricht dagegen – in der Theorie.
In der Praxis haben alle relevanten Akteure vor dem Anspruch der kritischen Aufarbeitung versagt: die Stadt- und die Kantonsregierung, die Zürcher Kunstgesellschaft, das Kunsthaus Zürich, die Universität Zürich, auch viele Medien. Schlimmer noch: Sie haben die Aufarbeitung aktiv hintertrieben.
Zwar sind durchaus auch kritische Stimmen laut geworden, insbesondere im «Schwarzbuch Bührle», herausgegeben vom Kunsthistoriker und früheren Kunsthaus-Vizedirektor Guido Magnaguagno sowie vom Historiker Thomas Buomberger. Und jüngst in «Das kontaminierte Museum», dem Werk von Erich Keller. Der Historiker legt darin überzeugend dar, dass die Imperative des Standortmarketings die Verantwortungsträgerinnen zu fahrlässigen Entscheiden trieben. Auch persönliche Eitelkeit mag eine Rolle gespielt haben – und schlichte Ignoranz. Doch wirklich hören wollte die kritischen Stimmen niemand.
Die Champagnerkorken knallen lassen können die Bührle-Erben sowie die offiziellen und inoffiziellen Interessenwahrer der Bührle-Stiftung. Sie haben mit beeindruckender Virtuosität über zwanzig Jahre die Fäden gezogen. Sie haben mehr bekommen, als sie sich jemals träumen liessen.
Ursprünglich war die Bührle-Familie in einer verzweifelten Verhandlungsposition: Die Bewachungs- und Versicherungskosten für die Stiftungssammlung im Wert von geschätzten 3 Milliarden Franken sind horrend. Der spektakuläre Kunstraub im Jahr 2008 im alten Bührle-Privatmuseum hat gezeigt, dass die Familie gar nicht mehr in der Lage ist, im privaten Rahmen die Sicherheit der Sammlung zu gewährleisten. Wichtiger noch: Das Image der Bührle-Familie ist dermassen toxisch, dass gute europäische Standorte kaum Schlange gestanden wären, um die Sammlung zu empfangen. Vielleicht hätten die Bührles nach Dubai, Abu Dhabi oder sonst an eine exotische Adresse ausweichen können. Die Flucht aus der Schweiz wäre der Reputation des Bührle-Clans allerdings kaum förderlich gewesen.
Die Bührles – das ist mittlerweile auch wissenschaftlich akribisch erforscht – haben ihre Kunstsammlung immer dazu eingesetzt, sich ein Standing zu erkaufen in der Zürcher Gesellschaft. Warum hätte es diesmal anders sein sollen? Stadt, Kanton und Kunstgesellschaft hätten die Bedingungen diktieren können. Saubere Bedingungen. Was man auch hätte tun können, falls die Bührles trotzdem stur geblieben wären: die Finger davon lassen.
Stattdessen wurde mit den Erben ein zweifelhafter Pakt geschlossen, die eigene Verantwortung fahrlässig ignoriert, den Bührles praktisch bedingungslos entgegengekommen. Damit ist das Betongrab errichtet.
Die Republik hat bisher unveröffentlichte Dokumente ausgewertet, mit Experten gesprochen und einen Versuch unternommen, sich über die seit fast zwanzig Jahren laufende, öffentliche Auseinandersetzung einen Überblick zu verschaffen. Entstanden ist das traurige Bild eines kollektiven Versagens, nie vermuteter Komplizenschaften, einer diskreten Korrumpiertheit. Es sind Dinge möglich, die man kaum für möglich halten würde in der tiefen Zürcher Provinz. Um das alles zu verstehen, muss man kurz zurückblenden in die Geschichte der Schweizer Erinnerungspolitik.
Zwei Banker, zwei Deals
Vor nur einer Generation hat die Aufarbeitung der Schweizer Politik im Zweiten Weltkrieg die helvetische Debatte vollständig dominiert. 1995 kam es in den Räumlichkeiten der Grande Société in Bern zu einem katastrophal entgleisenden Treffen zwischen Vertretern der Schweizer Regierung, der Bankiervereinigung und einer Delegation des World Jewish Congress. Der Konflikt um die nachrichtenlosen Bankguthaben von Holocaust-Opfern drohte zu eskalieren. Das Land wurde unsanft aus seinem erinnerungspolitischen Dornröschenschlaf gerissen.
Knapp drei Jahre später jedoch, im August 1998 in einem Restaurant in Brooklyn, fanden die Schweizer Banken mit den jüdischen Gegenparteien einen Deal: Für eine Zahlung von 1,25 Milliarden Dollar schlossen sie einen globalen Vergleich ab. Es war keine freiwillige, aber eine grosse Geste des Schweizer Finanzplatzes. Die Bergier-Kommission hatte zwei Jahre zuvor ihre Arbeit aufgenommen, die Schweiz schien definitiv eingetreten zu sein in eine neue Ära der Erinnerungspolitik und der tabulosen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.
Federführend beim Erwirken des pragmatischen, aus privatwirtschaftlicher Initiative erwachsenen Vergleichs war Rainer E. Gut, die unbestrittene Führungsfigur des damaligen Zürcher Finanzplatzes. Gut, der von 1983 bis 2000 als Verwaltungsratspräsident der Credit Suisse (vormals SKA) fungierte, hatte nicht nur die Autorität, um die Banken an einen Tisch zu bringen, er hatte auch die Einsicht, dass die Schweiz sich ihrer Kriegsschuld stellen muss. Vor allem begriff er, dass echte Aufarbeitung und Wiedergutmachung nur dann stattfinden kann, wenn sie materielle Konsequenzen hat. Der Deal von New York ist sein moralisches Vermächtnis.
Sofern es heute in der Schweiz noch einen Nachfolger für die Übervater-Rolle von Rainer E. Gut geben sollte, kann nur ein Mann darauf Anspruch erheben: Walter Kielholz, Verwaltungsratspräsident der Credit Suisse von 2003 bis 2009 und der Swiss Re von 2009 bis 2021. Die Bilanz als Wirtschaftskapitän am Steuer grosser Schweizer Finanzkonzerne ist bei Kielholz zwar sehr viel bescheidener als diejenige von Rainer E. Gut, aber seinem gesellschaftlichen Prestige hat das nie Abbruch getan. Nicht in den Wirtschaftsverbänden, nicht bei den «Freunden der FDP», nicht bei den Rotariern, nicht in der Zunft zur Meisen.
Es mag auch damit zusammenhängen, dass Walter Kielholz von 2002 bis 2021 fast zwanzig lange Jahre Präsident der Zürcher Kunstgesellschaft gewesen ist. Der Kunsthaus-Erweiterungsbau und die Integration der Werke der Bührle-Stiftung in die Kunsthaussammlung sind sein grosses Herzensprojekt. Er hat die Verhandlungen geführt mit der Bührle-Tochter Hortense, er hat die privaten Sponsoring-Gelder zur Errichtung des Chipperfield-Baus gesammelt. Mit dem grossen Kasten am Zürcher Heimplatz hat Kielholz sich sein Denkmal gesetzt.
Sein Vermächtnis ist allerdings ein anderes als das von Rainer E. Gut. Ein radikal entgegengesetztes.
Der Deal, den Kielholz mit den Bührle-Erben schloss, beruht im Kern auf einer simplen Zusage: Historische Aufarbeitung darf pro forma zwar stattfinden, aber dass sie jemals irgendwelche materiellen Konsequenzen hätte, wird von vornherein vertraglich ausgeschlossen. Es wurden erschöpfende Scheindebatten über historische Aufarbeitung und kritisches Bewusstsein geführt, aber de facto geht es beim Bührle-Deal immer nur um eins: um die Garantie, dass die hoch kompromittierte Stiftung niemals ein Kunstwerk wird zurückgeben müssen, obwohl sie ihre Gemälde nun im luxuriösen, subventionierten Rahmen einer öffentlichen Sammlung präsentieren kann.
Diese Garantie hat Kielholz implizit erteilt, ohne dass es jemals öffentlich gemacht worden wäre. Im Gegenteil: Es ist bis heute ein gut gehütetes Geheimnis geblieben. Und die politischen Verantwortungsträger haben mitgespielt.
Ein Brief von der Stadtpräsidentin
Der Republik liegt ein Dokument vor, das diesen Sachverhalt belegt. Es handelt sich um ein auf den 10. November 2020 datiertes Schreiben im Namen der Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch, das von Mauchs Stabschefin Suzanne Naef unterzeichnet ist. Gerichtet ist der Brief an Maeva Emden, die Tochter von Juan Carlos Emden und Urenkelin von Max Emden.
Die Emden-Familie bemüht sich seit langen Jahren um die Rückgabe eines Meisterwerks von Claude Monet, «Champs de coquelicots près de Vétheuil», das seit 1941 zum Bestand der Bührle-Sammlung gehört und jetzt in den brandneuen Bührle-Sälen im Kunsthaus-Erweiterungsbau ausgestellt wird. Einst gehörte es zur bedeutenden Sammlung des jüdischen Geschäftsmanns Max Emden, der nationalsozialistischer Verfolgung ausgesetzt war.
Maeva Emden hatte der Stadt Zürich am 11. September 2020 Dokumentationsmaterial zur umstrittenen Provenienz des Monet-Gemäldes zugesandt, begleitet von der Aufforderung, im Disput zwischen Bührle-Stiftung und Emden-Familie doch bitte Stellung zu nehmen zur Frage, «ob Raubkunst im Kunsthaus Zürich hängen soll». Sie wies ausserdem darauf hin, dass in der internationalen Rechtspraxis auch unter verfolgungsbedingtem Zwang verkaufte Werke als Raubkunst betrachtet werden.
Die Antwort im Namen von Corine Mauch beginnt mit einer der hochtrabenden Erklärungen, die über die letzten Jahre permanent zu hören waren: «Die Stadt Zürich begrüsst sämtliche Anstrengungen, die der historischen Wahrheitsfindung in Sachen Raubkunst dienlich sind.» Der Rest des Schreibens ist prosaischer: «Für Fragen der Provenienz von Bildern der Sammlung E. G. Bührle ist die Stiftung Sammlung E. G. Bührle zuständig. So hält es die Vereinbarung fest, die zwischen der Zürcher Kunstgesellschaft und der Stiftung im Hinblick auf den Erweiterungsbau des Kunsthauses abgeschlossen wurde.» Nachfragen zur Provenienz? Die Stadt und das Kunsthaus haben offenbar vertraglich zugesichert, dass sie sich nicht einmischen werden. Nicht einmischen dürfen.
Da Maeva Emden in ihrem Schreiben einen Vorschlag zur Güte macht, nämlich dass das Kunsthaus das strittige Monet-Gemälde wenigstens so lange nicht zeigen soll, bis die Besitzansprüche endlich definitiv geklärt sind, lieferte die Stadt Zürich zudem eine Erklärung, weshalb ihr auch in dieser Hinsicht leider die Hände gebunden seien: «Die Stiftung E. G. Bührle ist Eigentümerin der Sammlung. Sie entscheidet, was in den Sälen des Kunsthaus-Erweiterungsbaus ausgestellt wird, die ihr von der Zürcher Kunstgesellschaft vertraglich für die Ausstellung der Sammlung zugesichert sind.»
Die Sache scheint simpel zu sein: Die Bührle-Stiftung entscheidet über alle entscheidenden Fragen völlig eigenmächtig, ohne dass irgendjemand das geringste Mitspracherecht hätte. Nicht zu den Provenienzen, nicht zu den ausgestellten Werken – und schon gar nicht zu allfälligen Restitutionen. Gemäss dem bis 2034 nicht kündbaren Vertrag dienen das Kunsthaus, die Kunstgesellschaft, die Stadt und der Kanton Zürich lediglich als Behausungs-, Bewachungs- und Versicherungsservice für die Sammlung des Kanonenkönigs.
Das jedenfalls gilt bis zum heutigen Tag. In einer Hinsicht soll diese seltsame Entscheidungsautonomie der Stiftung nun eingeschränkt werden. Auf Anfrage lässt die Kunstgesellschaft mitteilen, dass «mit der Eröffnung des erweiterten Kunsthauses per 11. Oktober die Verantwortung für die Provenienzforschung zur Sammlung Bührle auf die Kunstgesellschaft» übergehe. Damit wird die nie kommunizierte Tatsache bestätigt, dass sie bis heute exklusiv bei der Stiftung liegt. Immerhin: Plötzlich bewegt sich etwas.
Es wird die Aussicht eröffnet – nachdem der Einzug der Bührle-Sammlung ins Museum nun schon seit neun Jahren beschlossene Sache ist –, dass sich die Kunstgesellschaft wenigstens in Zukunft dafür interessieren darf, wem die Werke, die das Kunsthaus ausstellt, eigentlich gehören. Allerdings gibt es weiterhin einen Haken. Die Kunstgesellschaft hält fest: «Über Restitutionsbegehren wird die Stiftung entscheiden.»
An der Pressekonferenz zur Chipperfield-Eröffnung liess sich Kunsthausdirektor Christoph Becker zu grossherzigen Versprechungen hinreissen. «Das Thema Fluchtgut», meinte Becker, «ist ein wesentliches.» Es müsse noch vieles geklärt werden, eines jedoch stehe fest: «Sollten solche Fälle auftreten, dann ist es klar, dass es zu Restitutionen kommen muss.» Ob beziehungsweise wie Becker oder seine Nachfolgerin dieses Versprechen der Bührle-Stiftung gegenüber geltend machen wollen, bleibt weiterhin ein Geheimnis.
Schockierend an der städtischen Antwort an die Emden-Erben ist, dass die offizielle Kommunikation der Stadtregierung über die letzten Jahre konsequent darauf ausgelegt war, einen völlig anderen Eindruck zu erwecken.
In der Antwort auf die Interpellation zu belasteten Werken in der Bührle-Sammlung, welche SP-Gemeinderätin Christine Seidler eingereicht hat, schreibt der Stadtrat im Juni 2016: «Sollten bei einem Werk aus privatem Besitz Fragen hinsichtlich der Provenienz auftauchen (was bisher noch nie der Fall war), so würde die Eigentümerschaft sofort benachrichtigt, und es würden die nötigen Schritte besprochen und umgesetzt.» Diese Behauptung erweist sich als unwahr: Gegenüber der Bührle-Stiftung sind zahlreiche «Fragen hinsichtlich Provenienz» aufgetaucht. «Besprochen und umgesetzt» wurde aber gar nichts. In offenbar korrekter Befolgung des Leihvertrags wurde einfach an die Bührle-Stiftung verwiesen.
In derselben Interpellationsantwort macht der Stadtrat auch die folgende Zusicherung: «Sollte nachweisbar sein, dass die Zürcher Kunstgesellschaft ein Werk aus Privatbesitz zeigt, das zu Unrecht im Besitz der privaten Leihgeberin oder des privaten Leihgebers ist, würde das Werk nicht im Kunsthaus verbleiben.» Von Werken der Bührle-Stiftung gilt auch das ganz offensichtlich nicht.
Der Zynismus des Bührle-Deals ist atemberaubend. Trotz aller grossspurigen Erklärungen erhielt der Nachlass des Nazi-Waffenproduzenten de facto einen Blankocheck. Die Vorstellung, all dies könne aufgefangen werden, weil das Kunsthaus jetzt, nachdem die Bilder hängen und Fakten geschaffen sind, wenigstens zu forschen anfangen darf, erscheint einigermassen weltfremd.
Es stellen sich, da ist Christoph Becker recht zu geben, tatsächlich eine Reihe ernster Fragen: Wie wird nach dem Desaster des sogenannten Leimgruber-Berichts dafür gesorgt, dass diesmal die Forschungen wirklich über jeden Zweifel erhaben sind? Wie wird gewährleistet, dass unabhängige Spezialisten zum Zug kommen? Welche Rolle wird Lukas Gloor, der Direktor der Bührle-Stiftung und künftige «Kurator» der Sammlungsbestände im Kunsthaus, bei der künftigen Provenienzforschung spielen? Wird man Geld in die Hand nehmen? Auf Anfrage bleiben die Auskünfte der Präsidialabteilung der Stadt Zürich weiterhin vage und kryptisch: «Ein revidierter Subventionsvertrag» werde «Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Umgang mit der Sammlung Bührle enthalten».
Nachdem das Kunsthaus und die Kunstgesellschaft jahrelang die Hände in den Schoss gelegt haben, kann man nicht behaupten, es sei um ihre Glaubwürdigkeit in dieser Angelegenheit zum Besten bestellt. Mit einem pseudowissenschaftlichen Dokumentationsraum wird es nicht getan sein.
Juristisch dürfte der Leihvertrag die Bührle-Stiftung weiterhin wasserdicht gegen Restitutionen schützen. Die Bührle-Erben können allen Rückgabeforderungen vorerst recht entspannt entgegenblicken. Besser noch: Man kann sich jetzt laut und offensiv zu «kritischer Aufarbeitung» bekennen. Es besteht ja die weitgehende Garantie, dass sie ohne Folgen bleiben wird.
Plötzlich diese Aha-Erlebnisse
Es ist dieser Leihvertrag, der für eine lange Liste von bizarren Geschehnissen verantwortlich ist, welche die Zürcher Kulturpolitik rund um das Kunsthaus nun schon seit Jahren in ein trübes Licht tauchen. Nur auf der Basis dieses Vertrags werden einige Zusammenhänge nachvollziehbar.
Man beginnt die erstaunliche Tatsache zu verstehen, weshalb weder Stadt noch Kanton noch Kunstgesellschaft darauf insistierten, die hausinterne Provenienzforschung der Bührle-Stiftung wenn schon nicht unabhängig noch einmal durchzuführen, so doch vor dem Entscheid über den Sammlungstransfer von einem unabhängigen Expertengremium evaluieren zu lassen. Kunstgesellschaft, Stadt und Kanton haben der Bührle-Stiftung ihr Vertrauen blind und bedingungslos geschenkt. Erst heute wird eine Überprüfung wenigstens theoretisch möglich.
Plötzlich versteht man, weshalb auf eine Anfrage der grünen Gemeinderäte Markus Knauss und Markus Kunz im Mai 2021 – trotz der Dauerbeschwörung des hohen Prinzips der Transparenz – die Offenlegung des Leihvertrags von der Stadtregierung mit juristischen Ausflüchten abgelehnt wurde beziehungsweise nur nichtssagende «Eckpunkte» kommuniziert wurden. Wie wollen Stadt und Kanton «Transparenz» über historische Schuld herstellen, wenn sie nicht einmal einen banalen Leihvertrag offenlegen können?
Man versteht, weshalb ständig auf allen Kanälen – und meist von Leuten, deren Motive nicht über alle Zweifel erhaben sind – das hohe Lied der Bührle-internen Provenienzforschung gesungen worden ist. Da man sich von Rechts wegen nicht einmischen durfte, blieb gar nichts anderes übrig, als die internen «Forschungen» der Bührle-Stiftung zum Mass aller Dinge zu erklären. Davon, dass es mit der Seriosität der Provenienzforschung aus dem Hause Bührle nicht weit her ist, wird im zweiten Teil dieser Geschichte noch die Rede sein.
Erst vor dem Hintergrund des Leihvertrages wird auch einsichtig, weshalb Stadt und Kanton einen absonderlichen Forschungsauftrag an die Universität Zürich vergaben, nachdem sie mit der Veröffentlichung der Untersuchung «Schwarzbuch Bührle» unter Druck geraten waren, die den Nachweis führte, dass zahlreiche Werke der Bührle-Sammlung sehr wohl ungenügend erforscht sind, zweifelhafte Provenienzen haben und potenziell restituiert werden müssen. Im Mandat dieses Forschungsauftrags wurde die alles entscheidende Frage – die Provenienzen und potenziellen Rückgaben – explizit ausgeschlossen. Der sogenannte Leimgruber-Bericht sollte lediglich eine «Kontextualisierung als Ergänzung zur Provenienzforschung» leisten – was auch immer das heissen soll. Sonst hätte gemäss Leihvertrag wohl die Bührle-Stiftung selber den Auftrag erteilen müssen. Dazu war sie vermutlich mässig motiviert.
Vor dem Hintergrund der Vertragsbestimmungen wird auch besser nachvollziehbar, weshalb der aktuelle Kunsthausdirektor Christoph Becker, der bei der Anbahnung des Bührle-Deals eine zentrale Rolle gespielt hat, seinen Rücktritt nach so verblüffenden Modalitäten vollzieht.
Kunsthausdirektor mit besonderen Verdiensten
Becker muss als eine der Schlüsselfiguren des Bührle-Deals gelten. Seit dem Jahr 2000 ist er Direktor des Kunsthauses, aber genauso weit zurück reicht seine Nähe zur Bührle-Familie. Wie vertrauensvoll diese Beziehungen schon lange gewesen sind, zeigt eine Anekdote aus dem Jahr 2001. Damals erhielt die Bührle-Erbin Hortense Anda-Bührle Besuch von Georg Kreis, dem zu Raubkunst forschenden Professor für Geschichte und Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Sie wurde aufgefordert, das Bührle-Archiv zu öffnen, was die Bührle-Stiftungspräsidentin jedoch verweigerte: Das Archiv sei verloren gegangen. Bei einem zweiten Treffen mit Georg Kreis – vermutlich als Garant für ihre Glaubwürdigkeit – trat mit Anda-Bührle eine überraschende Begleitung auf: Christoph Becker, der damals noch ganz frische Kunsthausdirektor.
Georg Kreis hat dieses unerwartete Gipfeltreffen 2010 in der NZZ geschildert. Christoph Becker lässt ausrichten, er könne «zu Gerüchten keine Stellung nehmen».
Man wird wohl nie beweisen können, ob Hortense Anda-Bührle, die 2014 verstorben ist, gezielt gelogen oder sich «bloss» geirrt hat: Auszüge aus dem Archiv tauchten jedenfalls ein paar Jahre später unverhofft wieder auf, und zwar im Zürcher Kunsthaus. Zur Überraschung der Experten wurden in einer 2010 von Christoph Becker und Bührle-Stiftungsdirektor Lukas Gloor gemeinsam organisierten Ausstellung urplötzlich Dokumente präsentiert, die aus dem «verschollenen» Archiv stammten. Pikant daran ist, dass die unabhängige Expertenkommission von 1996 bis 2001 über ein Archivprivileg verfügte, das es ihr erlaubte, auch private Archive einzusehen. Damals, für eine kurze Periode, wollte die Schweiz tatsächlich die Wahrheit wissen.
2001 hätte Hortense Anda-Bührle zur Herausgabe der Archive gezwungen werden können. Falls Georg Kreis der Bührle-Erbin und Christoph Becker nicht geglaubt hätte, wäre es möglich gewesen, die Räume der Bührle-Liegenschaften polizeilich durchsuchen zu lassen. Auch dank des selbstlosen Einsatzes des Kunsthausdirektors sollte es jedoch ganz anders kommen: Erst heute, zwanzig Jahre später, werden die Bührle-Archive nun öffentlich gemacht – wie vollständig auch immer.
Der Bührle-Clan hat schnell begriffen, dass er auf Christoph Becker bauen kann. Schon im Jahr 2003 wird der kaum in Zürich etablierte Kunsthausdirektor zum Stiftungsrat der Bührle-Stiftung. Er folgt auf seinen Vorgänger Felix Baumann und ist neben Lukas Gloor der zweite familienexterne Museumsexperte. Der grosse Umzug der Bührle-Sammlung kann angebahnt werden mit absolutem Vertrauen. Heute, da alles zu einem triumphalen Ende gekommen ist, will Kunsthausdirektor Becker die Zügel nur sehr zögerlich aus der Hand geben. Die Kunstgesellschaft hat keine Einwände.
Obwohl Beckers Nachfolgerin Ann Demeester im Juli 2021 gewählt worden ist, wird sie gemäss Mitteilung des Kunsthauses ihr Amt erst im Sommer 2022 «in Vollzeit» versehen und während einer ausgedehnten Übergangszeit bis ins Frühjahr 2023 die Direktion in einer Doppelspitze ausüben, gemeinsam mit ihrem scheidenden Vorgänger. Eine Stabübergabe von beinahe zwei Jahren? Das dürfte in der Geschichte des Schweizer Museumswesens ein Novum sein. Das Kunsthaus lässt wissen, dieses Vorgehen sei «absolut üblich». Mehrere Vertreterinnen der Zürcher Kunstszene, mit denen die Republik darüber gesprochen hat, zeigten sich ungläubig bis entsetzt. Die Kunstgesellschaft jedoch ist entschlossen, dem scheidenden Direktor weit über die normalerweise nicht länger als halbjährige Kündigungsfrist hinaus noch ein weiteres Jahresgehalt auszuzahlen. Offensichtlich hat Becker besondere Verdienste.
Die fragwürdige Rolle der SP
Wie man die Dinge auch dreht und wendet, etwas bleibt sehr schwer zu erklären: Wie konnten die sozialdemokratischen Vertreterinnen der Regierungen von Stadt und Kanton das politische Risiko einer faktischen Carte blanche für die Bührle-Stiftung eingehen?
Vielleicht kann geltend gemacht werden, sie seien in die Angelegenheit hineingestolpert, ohne von Anfang an zu ermessen, was für einen zynischen Pakt sie damit eingehen. Besser macht das die Sache jedoch nicht: Stadtpräsidentin Corine Mauch und Regierungsrätin Jacqueline Fehr haben die Zürcher Stimmbürger jahrelang hinters Licht geführt. Sie hatten Kenntnis von der wahren Sachlage, sie wussten, dass die Durchleuchtung der belasteten Bührle-Sammlung ausschliesslich bei der Stiftung liegt – und sie haben geschwiegen. Sie wussten, dass die Zuständigkeit für Restitutionsansprüche ausschliesslich bei der Bührle-Stiftung verbleibt, und spielten die grosse Komödie von der schonungslosen Aufklärung. Was wusste die Zürcher SP?
Dass die Kunstgesellschaft ein privatrechtlich organisierter Verein ist, kann erst recht nicht als Entschuldigung gelten. Stadt und Kanton verfügen im Vorstand der Kunstgesellschaft gemeinsam über die Mehrheit. Die Politik ist eigentlich die Herrin im Haus – was angesichts der Tatsache, dass die Steuerzahlerinnen den Löwenanteil der Kosten tragen, nur recht und billig scheint.
Es ist mit dem Zürcher Geldadel nämlich so eine Sache: Von seinem Adel hat er einen hohen Begriff, vom Geld hingegen hat er wenig – jedenfalls immer dann, wenn er es einsetzen soll für mäzenatische Zwecke. Das Kunsthaus ist schon lange eine weitgehend staatlich finanzierte Institution. Das hindert die bessere Zürcher Gesellschaft nicht daran, das Kunsthaus als ihre private Spielwiese zu betrachten. Es bleibt das grosse Rätsel: Warum spielt die rot-grüne Stadtregierung mit?
Dieses Rätsel wird noch viel mysteriöser, wenn man sich die Finanzierung des Kunsthauses konkret anschaut. Die Jahresrechnungen der Kunstgesellschaft als Trägergesellschaft sprechen eine unmissverständliche Sprache.
Im Betriebsbudget 2020 stechen die rund 11 Millionen Subventionen der Stadt massiv hervor. Sie gehen hoch hinaus über die Spenden von lächerlichen 100’000 Franken (in den guten Jahren kommen die Spenden auf rund eine Million), über die teils öffentlichen, teils privaten Projektunterstützungen von gut 2,5 Millionen und über die rund 2 Millionen, welche die regulären Mitgliederbeiträge der Kunstgesellschaft einbringen. Jetzt, nach der Eröffnung des Erweiterungsbaus, erhöht die Stadt ihre Subventionen noch einmal um rund 50 Prozent. Auch wenn man den privaten Beitrag zum Chipperfield-Gebäude (88 Millionen) berücksichtigt, ändert sich nichts am Grundbefund.
88 Millionen sind eine stolze Summe, und es ist grossartig, dass private Sponsorinnen sich so stark engagieren. Die öffentliche Hand gibt aber fast doppelt so viel. Für die steigenden Betriebskosten verpflichtet sich die Stadt Zürich zudem dauerhaft zu Beiträgen, die sich schon nach gut fünf Jahren auf weitere 88 Millionen kumulieren werden. Das mindert nicht den Wert des privaten Engagements, aber es rückt die Proportionen zurecht. Die privatrechtliche Trägerschaft ist ein anachronistisches Relikt aus einer Zeit, als in Zürich echtes Mäzenatentum noch existierte – als sich der sogenannte Geldadel seine exklusiven Kunstvergnügungen noch nicht vom Steuerzahler sponsern liess. Inzwischen ist die privatrechtliche Struktur weitgehend eine Rechtsfiktion – mit allerdings verheerenden Konsequenzen.
Stadt und Kanton hätten 2012 den skandalösen Leihvertrag, den Kielholz mit der Bührle-Stiftung und der Bührle-Familie ausgehandelt hat, im Vorstand der Kunstgesellschaft zurückweisen müssen und zurückweisen können. SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr war damals noch nicht im Amt. Corine Mauch hingegen, die persönlich Einsitz nimmt in der Kunstgesellschaft, ist Stadtpräsidentin seit 2009.
Auf die Anfrage der Republik, weshalb Stadt und Kanton von ihrer Mehrheit im Vorstand nicht Gebrauch gemacht haben, antwortet die Präsidialabteilung: «Über das Stimmverhalten einzelner Mitglieder des Vorstands der Zürcher Kunstgesellschaft geben Kanton und Stadt Zürich keine Auskunft.»
Von Raubkunst und Fluchtgut
So weit die Provinzposse. Ihre Schrillheit sollte nicht vergessen machen, dass der Umgang mit Raubgut und mit der kompromittierten Hinterlassenschaft des wichtigsten Schweizer Waffenproduzenten zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs Dimensionen hat, die weit über die Zürcher Gesellschaft hinausreichen: Es stellt sich nicht zuletzt die Frage, ob der Leihvertrag, den das künftig grösste Schweizer Kunstmuseum mit der Bührle-Stiftung abschloss, vereinbar ist mit dem bedeutendsten völkerrechtlichen Instrument, das die Eidgenossenschaft zur Regelung des internationalen Umgangs mit Raubkunst unterzeichnet hat: den sogenannten «Washingtoner Richtlinien».
1998 fand in Washington eine Konferenz statt, die den Umgang mit Raubkunst erstmalig einer internationalen Harmonisierung zuführen sollte. Die sogenannten «Washington Principles» wurden schliesslich von den 44 an der Konferenz teilnehmenden Staaten unterzeichnet, darunter der Schweiz. Es war eine Zeit, zu der man nicht nur in Bundesbern, sondern auch in der Museumswelt die Frage des gerechten Umgangs mit Raubkunst aus der Nazizeit ernst nahm – in manchen Museen offenbar ernster als heute.
Im Vorfeld der Konferenz in Washington hatten eine Reihe Schweizer Museen vorab eine Erklärung unterzeichnet, in der sie sich verpflichteten, von NS-Verfolgung betroffenen Werken «problembewusst» und «soweit möglich um Abklärung und Aufklärung bemüht» zu begegnen. Es sollte eine Geste des guten Willens sein, ein Versprechen, die noch definitiv auszuhandelnden Richtlinien vorbildlich und skrupulös umzusetzen. Mit auf der Liste der unterzeichnenden Institutionen: das Kunsthaus Zürich. Nur schon aus diesem Grund hätte die Kunstgesellschaft diesen Leihvertrag mit der Bührle-Stiftung niemals unterzeichnen dürfen. Offenbar hat sie das Bewusstsein verloren für die ethischen Grundsätze ihres eigenen Museums.
Die Richtlinien gehören zum internationalen «soft law», ihre Prinzipien sind Empfehlungen, aus denen sich keine einklagbare Verpflichtung ergibt. Ihr Zweck soll es sein, bei Restitutionsfragen «gerechte und faire Lösungen» herbeizuführen. Dennoch ist es gravierend, wenn das grösste Schweizer Kunstmuseum eklatant gegen den Geist der Prinzipien verstösst. Aus mindestens zwei Gründen ist der Bührle-Leihvertrag mit dem Geist von Washington nicht kompatibel.
Zum einen verpflichten die Richtlinien die Museen, die Objekte in ihren Sammlungen auf Raubkunst zu überprüfen, und was für die eigenen Bestände gilt, kann vor den Leihgaben nicht haltmachen. Es wäre absurd – auch gemäss den ethischen Grundsätzen des ICOM, des internationalen Dachverbands der Museen, dem das Kunsthaus ebenfalls angehört –, die Prinzipien, die für alle öffentlichen Sammlungen verbindlich sein sollen, für eine Sammlung von Leihgaben einfach über Bord zu werfen. Kunstmuseen tragen eine ethische Verantwortung für alle Exponate in ihren Sälen. Vor allem wenn sie so stark mit öffentlichen Geldern finanziert sind. Man mag einwenden, dass das Kunsthaus sich am nächsten Montag ja ans Werk machen kann, weil das Erforschungsrecht nun an es übergeht.
Aber es bleibt ein sehr schaler Nachgeschmack: Die Werke hängen. Und jetzt beginnt man mit der Prüfung?
Zum anderen haben die Washingtoner Richtlinien einen Prozess der Rechtsentwicklung ausgelöst, der zu einer Präzisierung des Begriffs der Raubkunst führte. Die Folge davon ist, dass es keinen Zweifel daran geben kann, dass die Sammlung der Bührle-Stiftung Werke enthält, die unter dem Verdacht stehen, Raubkunstwerke zu sein. Darunter etwa der bereits erwähnte Monet sowie «Paysage» von Paul Cézanne, dessen problematische Provenienz im Buch von Erich Keller ausführlich dargestellt wird, oder zahlreiche im «Schwarzbuch Bührle» diskutierte Fälle. Zum Begriff der «Raubkunstwerke» sind an dieser Stelle einige begriffliche Erklärungen nötig.
In der Schweiz wurde bis anhin die Debatte über Kunst aus jüdischem Besitz, die zur NS-Zeit in andere Hände gelangt ist, von den Kategorien «Raubkunst» und «Fluchtgut» beherrscht. Eingeführt hat diese Terminologie die Studie «Fluchtgut – Raubgut», der erste Band der Publikationen der Bergier-Kommission, der von Esther Tisa Francini, Anja Heuss und Georg Kreis verfasst wurde. Mit Raubgut wird hier gestohlene Kunst in einem engeren Sinne gemeint: Der Begriff umfasst Werke aus jüdischem Besitz, die in Deutschland oder in von den Deutschen besetzten Ländern konfisziert, aus unmittelbarem behördlichem Zwang verkauft oder mit sonstigen direkten Zwangsmassnahmen den Besitzerinnen abgenommen wurden.
Fluchtgut hingegen sind Werke aus jüdischem Besitz, die während der NS-Zeit ins Ausland geschafft und dem Zugriff der deutschen Behörden entzogen werden konnten. Häufig kamen solche Werke dann in der Schweiz, in England oder in den USA auf den Markt. Bei Fluchtgut ist die zentrale Frage, weshalb diese Werke von ihren jüdischen Besitzern verkauft worden sind. Geschah es freiwillig und zu normalen Marktbedingungen? Oder geschah es, weil die Verkäuferinnen aufgrund der Verfolgung durch die Nazis in einer Zwangslage waren und ihre Verkäufe gegen den eigenen Willen und zu schlechten Bedingungen abschliessen mussten – etwa weil sie keine andere Einkommensquelle mehr hatten als den Verkauf ihrer Kunstwerke? Oder weil sie die Reichsfluchtsteuer bezahlen mussten für den rettenden Weg ins Exil?
Wenn eine Zwangslage des Verkäufers festgestellt werden kann (im amerikanischen Recht «sale under duress»), wird auch «Fluchtgut» in der heutigen Praxis als «Raubgut» gemäss den Richtlinien von Washington betrachtet und als restitutionswürdig angesehen. Allerdings muss für jeden Einzelfall mit einer sorgfältigen Prüfung eruiert werden, ob ein Verkauf tatsächlich durch eine Zwangslage motiviert war, die durch NS-Verfolgung entstand, oder eben nicht. In Deutschland hat sich deshalb der Begriff des «NS-verfolgungsbedingten Verlustes» für Raubkunst etabliert. Es ist kein besonders eleganter Ausdruck. Aber er trifft den entscheidenden Punkt.
Dieser erweiterte Raubkunst-Begriff wurde bereits 2009 in die internationale Praxis überführt, und zwar in der Theresienstädter Erklärung über Holocaust-Vermögenswerte, der sogenannten Erklärung von Terezin, die explizit anknüpft an die «Washington Principles». Auch diese Erklärung hat die Schweiz unterzeichnet. Der erweiterte Raubkunst-Begriff gilt heute sowohl international als auch in der Schweiz als Massstab der guten Praxis.
Allerdings: Das wird nicht überall so gesehen, ganz und gar nicht.
Der Anwalt der Kunstsammler
Der vermutlich mächtigste Schweizer Kunstrechtsanwalt schreibt in einem Aufsatz von 2015: «Was die ‹Washingtoner Richtlinien betreffend Kunstwerke, welche von den Nationalsozialisten konfisziert wurden›, anbetrifft, so hat die Schweiz diese unterzeichnet. Sie beziehen sich allerdings ausdrücklich bloss auf Raubkunst und nicht auf Fluchtkunst.» Wie ist gemäss diesem Anwalt damit umzugehen, dass der Raubkunstbegriff erweitert wurde? «Die interpretative Ausdehnung dieser Richtlinien [der ‹Washington Principles›] auf ‹verfolgungsbedingte Vermögensverluste› – und damit auf Fluchtkunst, falls diese unter diesen Begriff fallen sollte – erscheint deshalb als unzulässig, weil dies weder der Entstehungsgeschichte, noch den Intentionen, noch dem Wortlaut dieser Richtlinien entspricht.»
Das ist eine sehr, sehr eigenwillige Interpretation der Rechtsentwicklung: Der Anwalt tut so, als wäre die Erklärung von Theresienstadt gar nie verfasst worden und als hätte die Eidgenossenschaft sie gar nie unterzeichnet. Er hält stattdessen an der überholten strikten Trennung von Raubkunst und Fluchtkunst fest. Und natürlich daran, dass rechtlich betrachtet Fluchtkunst gar nie restituiert werden muss: «Rein rechtlich gesehen ist die Lage bei Fluchtkunstfällen also ziemlich klar.»
Der Name dieses mächtigen Kunstrechtsjuristen ist Alexander Jolles. Seine Rechtsauffassung lässt keinen Zweifel, dass er der Überzeugung ist, die Bührle-Stiftung werde nie mehr auch nur ein einziges Bild restituieren müssen. Die verbleibenden strittigen Fälle in der Bührle-Stiftung sind ja nicht Raubgut im engeren Sinn, sondern Fluchtgut, das Raubgut im weiteren Sinn sein könnte. Provenienzforschung zur heutigen Bührle-Sammlung ist auf der Basis dieses Rechtsverständnisses juristisch eigentlich überflüssig. Zu Restitutionen kann sie gar nicht führen.
Alexander Jolles ist amtierender Stiftungsratspräsident der Bührle-Stiftung. Er hatte bis anhin die exklusive Zuständigkeit für eine Provenienzforschung, von deren Sinnlosigkeit in Bezug auf Restitutionsfragen er überzeugt ist.
Die international anerkannten Grundsätze für «faire und gerechte Lösungen» werden vom obersten Repräsentanten des Bührle-Nachlasses zwar für Raubkunst im damaligen Nazi-Machtbereich anerkannt. Würden sie jedoch in der Schweiz zur Anwendung kommen, wäre das aus seiner Sicht so gut wie das Ende der Welt. Im Schweizer Radio SRF sagte er 2015, dass die Rückgabe von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunstwerken, wenn darin auch Werke eingeschlossen seien, die in der Schweiz verkauft wurden, Konsequenzen von fürchterlicher Dramatik hätte: «Wenn das alles [zurückgegeben würde], mit dem Argument, es sei unter dem wirtschaftlichen Zwang des Krieges erfolgt und daher eben rückabzuwickeln oder zu teilen, dann würde das zu einer riesigen Rechtsunsicherheit [führen], die meines Erachtens auch den sozialen Frieden, das Recht auf Eigentum und die Rechte von unbeteiligten Dritten in massivster Weise beeinträchtigt.» Man staunt: Wenn Stadt, Kanton und Kunstgesellschaft die «Washington Principles» respektieren würden, käme also der soziale Frieden in Gefahr.
Jolles ist nicht irgendwer. Seit nun fast zwanzig Jahren amtet er als Sekretär der Schweizerischen Vereinigung der Kunstsammler, seit 2007 als ihr Vorstandsmitglied. Die mächtige Vereinigung der Kunstsammler, die weder eine Website hat noch sonst grosse Spuren hinterlässt im Netz, ist sogar bei Schellenberg Wittmer, der Anwaltskanzlei, zu deren Partnern Jolles zählt, domiziliert. Die Vereinigung der Kunstsammler ist die Interessenvertreterin nicht der oberen Zehntausend, sondern der obersten Fünfhundert. Nur die allergrössten Schweizer Vermögen legen bedeutende Kunstsammlungen an. Jolles ist ihr Lobbyist und anwaltschaftlicher Vertreter. Gegenüber dem Bührle-Erbe hat man in dem Milieu offensichtlich nicht die geringsten Berührungsängste.
Am Anfang seiner Karriere, von 1999 bis 2001, fungierte Jolles noch als Generalsekretär des «Claims Resolution Tribunal for Dormant Accounts in Switzerland». Er war der oberste administrative Verantwortliche dafür, dass alle jüdischen Opfer der Verfolgung durch Nazideutschland sowie ihre Erben bestehende Ansprüche auf ihre verwaisten Guthaben auf Schweizer Bankkonten geltend machen konnten. Derselbe Mann wird zwanzig Jahre später, im Mai 2021, zum Präsidenten der Bührle-Stiftung. Mit aller Härte kämpft er nun seit Jahren dafür, dass aus dem Stiftungsnachlass des Kanonenkönigs nicht ein einziges Kunstwerk zurückgeht an die jüdischen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, aus deren Besitz die Werke der Bührle-Sammlung zu einem grossen Teil stammen.
Vom Anwalt der Wiedergutmachung ist Jolles zum Abblocker aller Rückgaben geworden. Es ist eine beeindruckende helvetische Karriere. Das traurige Symbol der erinnerungspolitischen Regression, in welche die Schweiz die letzten zwanzig Jahre verfallen ist.
Die Bührle-Sammlung im Kunsthaus wird nun dem Publikum übergeben. Letztlich geht es bei dieser ganzen schäbigen Geschichte, bei allen Manövern, Manipulationen und Halbwahrheiten immer nur um eine Frage: Wem gehören die Bilder in der Sammlung des Waffenhändlers und wer hat Anspruch auf Rückgabe? Die Antwort gibt die sogenannte Forschung nach der Provenienz.
Dazu mehr im zweiten Teil dieser Recherche.
Korrigendum: War es ein vertraglich festgeschriebenes Zugeständnis oder ein informeller Deal? Dazu liegen inzwischen neue Informationen vor – lesen Sie: Was ist rot-grüne Erinnerungspolitik?