Von Martin Beglinger
Wir sind nicht auf dem Bödeli verabredet,sondern in Bern, auf seinen Vorschlag hin im trendigen Kornhauscafé, und dort wartet ernun vor einem Eistee. Es ist Januar 2002. Zur Begrüssung lächelt er freundlich,fast etwas verlegen. Er ist 17, sehr gross, sehr schlank, und er sieht nicht aus wieein Grund zum Wechseln der Strassenseite.
Er trägt einen hellgrauen Pullover und dunkelblaue Hosen, und auch seine blaue Skijacke, die über dem Stuhl hängt, könnte jedem zweiten Junggrafiker in Zürich West gehören. Seine Haare sind stachelkurz, mit zwei kleinen Einschnitten an Stirn und Schläfe – „Narben“, meint er lächelnd. Das ist Eric T.*, „der Führer“.
Eine Woche nach diesem Gespräch wird seine Mutter im gleichen Café sitzen. Regula T.* istfroh um ein Treffen, weil auch sie ihre Sicht der Dinge darlegen möchte, zu ihrem Sohnund überhaupt. Regula T. ist 49, hat kurze, graue Haare und arbeitet seit ihremHochschulabschluss in der gestalterischen Branche. Die Mutter betont gleich am Anfang desGesprächs: „Ich empfinde meinen Sohn als sehr okay. Er steht rechts, für michzu rechts. Aber er ist nicht rechtsextrem und schon gar kein Neonazi.“
„Wissen Sie“, sagt Eric in seinem weichem,leisem Berndeutsch, „ich bin keine Bestie. Ich bin auch kein Bilderbuch-Neonazi. Wer michkennt, weiss, dass ich kein gewalttätiger Mensch bin.“
Eric lebt mit seiner Mutter und seinen beidenSchwestern Sonja*, 13, und Nina*, 19, auf dem Bödeli. Die Eltern haben sich schon vorlängerer Zeit getrennt. Eric war ein guter Schüler, in Mathematik allerdingsdeutlich besser als in der Sprache, weshalb er in der 8. Klasse von der Sekundar- in dieRealschule wechseln musste. Gleichwohl hat ihn sein ehemaliger Lehrer Christoph Lüdials „hoch intelligent“ in Erinnerung und der Unterseer Schulleiter Markus Kohler alsbegabten Computerfreak“, der Homepages mit Lehrerwitzen bastelte. Kohlerhatte mehrere „gute und vernünftige Gespräche“ mit Eric, und doch meinte er jeweilsin dessen Augen zu lesen: „Glaub nur ja nicht, dass ich auf dich rein falle.“
Eric ging drei Klassen unter Marcel („Vöni“)von Allmen in die Schule, doch vom Sehen kannte er ihn schon lange. Im Jahr 2000, Vöniwar bereits Mitglied im „Orden der arischen Ritter“, begann Eric sich mit ihmanzufreunden. Über „Gott und die Welt“ hätten sie jeweils gesprochen, erzählt er, abernicht über Hitler und die Nazis. Andere Kollegen habe Vöni gelegentlich mitrechtsextremer Propaganda versorgt, ihn aber nie. „Ich konnte mich selber mit solchen Texten undLiedern eindecken. Auch habe ich mir meine Meinung immer selber gebildet – auf Grundmeiner eigenen Erfahrungen.“ Es müsse, erzählt Regula T., Anfang 2001 gewesensein, als sie das erste Mal bemerkte, dass ihr Sohn „rechts denkt“. Genau erinnertsie sich nur noch, wie sie ihn das erste Mal nach draussen schickte, auf denGartensitzplatz, wenn er schon unbedingt seinen Kopf scheren wollte und den eines Kollegen mit.Zunächst empfand sie die Glatze als „Furz“, erst später realisierte sie dieProvokation.
Regula T.: „Ich habe mich so oft gefragt, warumEric in diese Welt hinein gerutscht ist. Ich habe nach irgend einem Schlüsselerlebnisgesucht, das er gehabt haben könnte. Ich weiss es immer noch nicht.“
Eric selber sagt, in den letzten zwei, dreiJahren sei er mehrmals von jungen Ausländern „blöd angemacht“ worden – nur vonJungen. Nie von älteren, nie von Frauen. „Die sagen zum Beispiel beim Eingangeiner Beiz: ?Hast du mir ein bisschen Geld? – ?Nein.? – ?Sicher hast du Geld!? -?Klar, aber nicht für dich!? Und schon hast du eine Hand an der Gurgel.“ Vor sechs Jahren, dawar er elf, sei ihm das zum ersten Mal passiert, vor der Gewerbeausstellung inInterlaken. Damals habe er das schlucken müssen, mit 16 nicht mehr, da war er 1 Meter 93gross und Vöni sein Vorbild. Eric beobachtete Vöni in der „Hüsi“-Bar, wie derjeweils sein Gilet umkehrte und das aufgenähte Schweizerkreuz präsentierte, bevorer sich jener Ausländer annahm, die „Zoff“ gemacht hatten. „So fühlten wir unsstark und auch recht sicher“, erinnert sich Eric. Vöni merkte bald, dass Eric sein Herz aufdem gleichen sehr rechten Fleck hatte. Er erzählte ihm gelegentlich von einer“Organisation“, doch Genaues erfuhr Eric nicht. Als Vöni dann Ende Januar 2001 plötzlichverschwunden war, glaubte Eric wie so viele, er sei von Ausländern verschleppt worden. Drei,vier Tage später, die Leiche war noch nicht gefunden, kam Erics jüngere Schwester mitder Nachricht nach Hause, dass die Polizei im Schulhaus vorgefahren war, weiljemand ein „88“ an die Wand gesprayt hatte – das Zeichen für „Heil Hitler“. DochRegula T. erfuhr erst vom Jugendrichter, dass ihr Sohn der gesuchte Sprayer war. Er stehedazu, erklärte Eric dort, aber es sei nicht in Ordnung, dass der Urheber des Anarchisten-„A“,das er mit „88“ übersprayt hatte, nicht ebenso zur Rechenschaft gezogen werde.
Es war Freitag abend, der 23. Februar 2001, undEric sass vor einem Bier im „Hüsi“, als ein halbes Dutzend Polizeigrenadiere innertSekunden in die Bar stürmten und Michael S. sowie Marcel M. verhafteten, zweivon Vönis Mördern. „Siehst du jetzt, wozu die Rechtsextremen fähig sind!“, redete dieMutter zu Hause auf ihren Sohn ein, „das waren nicht die Jugos, wie wir alle dachten.Seine eigenen Kollegen haben ihn umgebracht!“ Auch Eric war schockiert. Dasmache ihm ja selber Angst, erklärte er seiner Mutter. Doch sind Vönis Mörder für ihn“keine Rechtsextremen, sondern Kriminelle, genauso wie dieser Orden derarischen Ritter eine kriminelle Organisation war.“ Einem Kollegen mailte er damals: „DieseScheisser haben unserer Bewegung geschadet.“ Heute, im Kornhauscafé, sagt er esso: „Anstatt auf das bestehende allgemeine Gewaltproblem einzugehen, wurde nachdem Mord eine riesige Hetzkampagne gegen die nationale Rechtegestartet.“
Vor dem Mord hielt Eric die „rechte Bewegung“auf dem Bödeli für „relativ stark“. Hinterher hätten hingegen „viele Rechte ihrePosition überdacht“. Die einen erhielten Glatzenverbot von ihren Eltern, andere nanntensich fortan nicht mehr „Neonazi“, sondern „extreme Patrioten“, und auf derStrasse riefen sie auch nicht mehr „Heil Hitler“, sondern beschränkten sich auf ein“Scheissjugo“. Eric jedoch will seine Haltung nicht geändert haben. Er nippt anseinem Eistee, dann sagt er höflich und gelassen: „Ich vertrete schon einenationalsozialistische Theorie – aber nicht Völkermord.“ Er muss kurz husten, entschuldigtsich dafür, dann redet er über den „genialen Hitler, der „die grossenZusammenhänge gesehen“ habe. Regula T.: „Mir erzählt Eric natürlich nie etwas von Hitler undirgend welchen abstrusen Nazitheorien, weil er genau weiss, dass ich dann gleich lautwerde. Das macht mich wirklich aggressiv.“
Auch zu ihrer eigenen Entlastung zählt dieMutter immer wieder auf, wogegen ihr Sohn nichts habe: nichts gegen Schwarze, nichtsgegen Muslime, nichts gegen Juden. Im Grunde überhaupt nichts gegen Ausländer.Stimmt, sagt auch Eric – sofern sie nicht hier leben! Am liebsten würde er sie allezurückschaffen. Seine Schweiz, das wäre eine „mit mehr Anstand, mehr Ordnung und mehrZusammenhalt unter den Bürgern, aber ohne Drogen und ohne Ausländer.“ Nach einemneuen Hitler sehnt er sich nicht, jedoch nach einer „starken Führerfigur, diesich durchsetzen kann“ – autoritär, nicht demokratisch. Regula T. bleibt vollkommenratlos zurück bei diesem Programm – sie, die einst links war und jetzt noch immerlinksliberal; die ihren Kindern „stets Toleranz und Offenheit vermitteln wollte, auch gegenüberAusländern“; die selber eine halbe Italienerin ist und eine ihrer bestenFreundinnen Muslimin. Und Eric? In Kenja aufgewachsen! Ein Viertelausländer! Sein Göttiist Jude, und mit ihm kommt er bestens aus (wie auch umgekehrt)! Sagt seineMutter. Sie kann ihren Sohn nicht verstehen.
Ein bisschen begreifen kann sie höchstensseinen Hass auf die jungen Männer aus den Kriegsgebieten, mit denen Eric dauernd“Puff“ hat. „Da ertappe ich mich selber, dass ich langsam nicht mehr so tolerant bin.Jene Ausländer, die zum Arbeiten hierher kamen, sind arbeits- und integrationswillig;die Kriegsflüchtlinge nicht unbedingt. Doch Schweizer, die den Sozialstaat abzocken, machenmich genauso wütend.“
Natürlich ist auch Regula T. gegen Gewalt, dochden grossen „Glockenmarsch“ nach Vönis Ermordung mochte sich Frau T. nichtantun. Sie hätte sich geschämt, die ältere Tochter auf der einen Seite und den Sohn aufder anderen zu sehen. „Das hätte ausgesehen, als hätte ich überhaupt nichts imGriff“, erinnert sich Erics Mutter. Nina lief mit ihren grell gefärbten Haaren unter dentausend Leuten mit, die gegen jede Form von Gewalt ein Zeichen setzen wollten.Gleichzeitig stand Eric am Strassenrand, die Glatze frisch geschoren, und wurde von Antifasals Neonazi zusammengeschrien. Er war aber nicht nur mit zwei kahlen Kollegendort, sondern auch mit einem seiner besten Freunde, und der trug verfilzteRastalocken. Die beiden hatten vor dem Marsch vereinbart, sie würden, um in dieFernsehnachrichten zu kommen, sich zum Schein bekämpfen, der Linke gegen den Rechten, sogeil. Zu ihrer grossen Enttäuschung tauchte keine Kamera auf. Nur der „Blick“schrieb von „blutjungen Glatzköpfen“ am Strassenrand.
Regula T. sagt: „Eine Kinderei, das Ganze. Ichfrage mich schon, ob das alles nicht auch einen Aspekt von Sich-wichtig-machen, vonGeltungsdrang hat? Anderseits: Etliche seiner besten Kollegen distanzierensich von Erics rechtem Denken – und sind trotzdem seine Kollegen geblieben.“ Auch EricsFreundin Hanna* hat nichts mit den Rechten am Hut und mit Hitler ohnehin nichts.
Bald nach dem Mord beschloss Eric die Gründungder sogenannten „Befreiungsfront Bödeli“. „Nach Vönis Tod fühlten wir uns ohneSchutz. Wir konnten nicht mehr ohne Angst in den Ausgang gehen. Die Ausländer, mitdenen es immer Riesenpöbeleien gab, waren 15 Leute, wir nur noch fünf“,erzählt Eric. „Und weil sonst keiner da war, der vorne hin stehen wollte, übernahm ich es halt.“Er spürte, dass er Charisma hatte. Seine Grösse zeigte Wirkung. Er realisierte,“dass mir die Kollegen irgendwie folgen, wohin ich will.“ Eine formale Gründung der“Befreiungsfront“ gab es nie, doch er hätte, versichert Eric, 22 Jugendliche hinter sichgehabt, die, falls nötig, zur Stelle gewesen wären. Doch dazu kam es nicht, denn in denersten Monaten nach dem Mord war die Stimmung auf der Strasse deutlich wenigeraggressiv, weil beide Seiten verunsichert waren.
Die erste Aktion nach der Gründung seiner Frontsollte ein Flugblatt werden. Bevor Eric den Text aufsetzte, nahm er Kontakt mit demBundeshaus auf. Per e-mail sondierte er beim Sachverständigen im Departement des Innernnach Schlupflöchern im Straf- und im Anti-Rassismus-Gesetz. Und er wurde fündig.So schrieb er schliesslich: „Die Schweiz den Schweizern, Ausländer raus!!!“,wohl wissend, dass er sich mit einer Formulierung wie „Jugos raus!!!“ des Rassismusstrafbar gemacht hätte. Auch mit seiner Homepage der „Befreiungsfront“ hebelteer die Paragraphen aus, indem sich nur einklicken konnte, wer das Passwort kannte.Damit war nach Gesetz nicht mehr öffentlich, wenn Eric seine Parolen unter demNamen „Der Führer“ verbreitete oder Hitlers „Mein Kampf“. Von einer“Befreiungsfront Bödeli“ oder einem „Führer“ hatte Regula T. bis dahin noch nie etwas gehört,obwohl die Flugblätter auf ihrem Gerät kopiert und die Homepage in ihrem Haus gewartetwurden. „Ich wollte seine Homepage auch gar nie sehen, weil ich michdavor schützen wollte“, gibt seine Mutter zu. Auch davon erfuhr sie erst, als dieStaatsschützer Erics Computer abschleppten. Dass ihr Sohn schlau genug war, um straflos zubleiben, war der Mutter ein schwacher Trost. „Nur schon bei dieser Altschrift, in derdas Flugblatt gedruckt war, kommt mir die Galle hoch“, meint Regula T. „Wenn du so weitermachst, fliegst du aus meinem Haus“, drohte sie ihm. „Ich schütze dich,solange du noch in der Ausbildung bist, das ist meine Pflicht. Wenn du danach bei denRechtsextremen landest, breche ich jeden Kontakt mit dir ab.“
„Das mag mich extrem“, meint der Sohn, aberlieber fliegt er zu Hause raus, als seine Meinung zu ändern. Regula T. war selber ineinem Elternhaus aufgewachsen, wo alle sagen durften, was sie wollten, und so wollteauch sie es halten mit ihren eigenen Kindern. Doch wenn der Sohn mit Hitler kommt?Die Mutter meint: „Wenn es um diese rechten Themen geht, bin ich intolerant. Unddoch ist das Ganze für mich eine Gratwanderung. Er soll seine Meinung lieberoffen sagen als wie vorher hinter meinem Rücken. Eric muss aber auch klar spüren, dassich seine Ansichten überhaupt nicht teile.“
Neulich wollte ihr Sohn eine riesige SchweizerFahne in seinem Zimmer aufhängen, wie sie zu Tausenden in heimischen Gärtenflattern. Doch sie verbot ihm diesen „penetranten Nationalismus“ in ihrem Haus undwar auch froh, wieder mal eine Grenze gesetzt zu haben. Eric hängte danneinfach viele kleine Schweizer Fähnchen auf. Seine Frisur passt Eric mittlerweile denUmständen an. Vor einem Gerichtstermin werden sie wieder etwas länger, ebenso voreiner wichtigen Prüfung. Seine Mutter ist schon froh um das modische Kinnbärtchen, mitdem er den martialischen Eindruck seiner Stoppeln bricht. Springerstiefel trugEric nie, aber irgendwann tauchte er mit hohen Schuhen auf und einer dunkelblauen Jackemit einem kleinen Schweizerkreuz. Seine Mutter rief: „Du siehts ja genau so auswie der Polizist, der dich kürzlich verhört hat!“
Auch seine ältere Schwester Nina findetpolitisch ungefähr alles gut, was Eric grässlich findet, von der SP über die EU biszur Uno. Und dass es ihretwegen gelegentlich nach Haschischkuchen im Hauseroch, auch damit musste er sich abfinden. „Hey, sorry, wo ist denn derUnterschied, wenn du säufst?“, kontert jeweils seine Mutter, wenn er wieder mal über dieKiffer herzieht. Nina hat es längstens aufgegeben, mit Eric über Politik zudiskutieren. Der Familienfriede ist ihr wichtiger, was ihre Mutter freut. Gleichwohl hat sieweiterhin „keine Ahnung“, warum ihre Kinder im Alltag gut klar kommen und trotzdem soverschieden denken.
Regula T.: „Ich sage Eric immer: Du musstdifferenzieren! Das Schwierige ist, dass diese 17-Jährigen so absolut denken, Eric denktin Schwarz und Weiss, ich in Grau.“ Nicht nur innerhalb seiner Familie hatte Erichöchst wechselvolle Auseinandersetzungen. Es war im März 2001, daerhielt er plötzlich e-mails von einem „ich-bin-ich“, der für dasInternet-Streetworking-Programm namens „Netzteil“ arbeitet. „Netzteil“ spürt rechtsextreme Websites auf undwenn möglich deren Betreiber. Auch Eric vermochten die Internet-Streetworker als“Führer“ zu enttarnen. Sie forderten ihn ultimativ auf, seine Website der“Befreiungsfront Bödeli“ sofort zu löschen, und weil Eric dies nicht tat, zeigten sie ihn bei derPolizei an. „Ich-bin-ich“ informierten auch seinen Vater, doch der hatte, da seit Jahrenvon der Familie getrennt, ebenso wenig eine Ahnung vom Treiben seines Sohnes wie diePolizei.
Fast gleichzeitig mit der Anzeige erschien einArtikel im „Blick“ über den „Führer“ und dessen Vater, einen bürgerlicherLokalpolitiker. Auch ohne richtige Namensnennung wusste bald jeder Ortskundige, um wen es ging.Förderlich war das nicht für die Karriere von Herrn T. Der bedrängte Vaterreagierte mit einem Hausverbot für seinen Sohn und einem Massnahmenkatalog zuhanden derMutter, Punkt 1: Kein Ausgang mehr nach 20 Uhr. Nach Wochen des Schweigensschlug der Vater dem Sohn doch einen Neubeginn vor. Sofort mailte ihm EricUnterlagen zum Thema „Ausländergewalt auf dem Bödeli“, in der Hoffnung, sein Vater -als zuständiger Politiker – werde die Sache nunmehr in die Hand nehmen. Eine Antwortdarauf hat der Sohn nie erhalten. Regula T. rührt in ihrem Capuccino und erzählt:“Nach diesem Artikel über Eric sagte ich meinen besten Freunden: Bei mir hat er dasauf jeden Fall nicht gelernt, und das haben sie mir bestätigt. Das war mir sehrwichtig.“
Auch die Gemeinde Unterseen meldete sich beiEric. Der Dorfpfarrer und eine Gemeinderätin setzten sich mit ihm zu einem“guten und eindrücklichen Gespräch“ zusammen, wie sich Gemeinderätin BarbaraGuggisberg erinnert. Eine ähnliche Aussprache mit ausländischen Jugendlichen ist,obwohl seit langem geplant, bis heute nicht zustande gekommen. Zu gross sinddie kulturellen Barrieren und das Misstrauen.
Der Schiessverein vor Ort wiederum reagierteauf die Enttarnung des „Führers“, indem er das Sturmgewehr seines Jungschützen Eric T.einzog. Denn im „Blick“ hatte es geheissen: „Auch vor Schusswaffen wollen dieNeonazis nicht zurückschrecken. ?Ich habe ja jetzt mein Sturmgewehr?, sagtJungschütze (Eric).“ „Das war ein Witz“, behauptet Eric heute, „es wäre doch krank, aufdie Strasse zu gehen und mit dem Sturmgewehr auf Ausländer zu schiessen.“ „Nieim Leben“ würde er jemanden töten. Doch als Eric seinerzeit erfahren hatte, dassVöni und seine arischen Ritter den Kosovaren Bajram S. umbringen wollten, daglaubte er zwar nicht an diese Drohung, doch sie war ihm auch „egal“, denn Eric hasstediesen jungen Ausländer ebenso. Gewalt hält er „in den meisten Fällen fürsinnlos“, manchmal aber durchaus für nötig, „wenn ein Ausländer sonst nicht spurt“.
Seine Mutter meint: „Ich müsste mich ganzgewaltig täuschen, wenn Eric ein riesiges Gewaltpotential in sich haben sollte. Über einegewöhnliche Schlägerei geht das nicht hinaus. Mein Sohn hat eine sehr hilfsbereiteund umgängliche Seite.“ Um jene auf der andern Strassenseite hat sie keine Angst, umihren Sohn hingegen schon. Sie mag nicht ein zweites Mal morgens um vier im Pyjamains Auto sitzen und das Bödeli absuchen, weil ihr Sohn noch immer nicht zuHause ist. Sie war darauf und dran, die Polizei anzurufen, dabei war er nur beiFreunden zu Hause vor dem Fernseher eingeschlafen, was seine Mutter erleichtert alsBeleg nahm, dass Eric nicht mehr „in diesem Milieu“ verkehre. Das hofften auch dieStreetworker von „Netzteil“. „Ich-bin-ich“ blieb über mehrere Monate in Mail-Kontakt mitEric und surfte stets auf einem schmalen Grat zwischen Drohung und Verständnis.Stets verlangte er, Eric müsse seine rechtsextreme Website schliessen,handkehrum bot er ihm Hilfe bei der Lehrstellensuche an, und die hatte Eric imGrunde nötig – nach bislang 50 Absagen.
Am Schluss sassen zwei Internet-Streetworkermit Eric auf dem Bödeli an einem Tisch, nicht virtuell, sondern real, und dassihr Sohn „den Mut dazu aufbrachte“, macht seine Mutter noch heute stolz. „Sie gaben Ericeinen sehr guten Satz auf den Weg: Wenn du nachgibst, bist du nicht schwach,sondern stark.“ Eric erinnert sich auch gut an einen zweiten: „Die Ausländer sehen mich so,wie ich sie sehe. Das ist ein Spiegelbild.“ Mittlerweile hat er sich mit denStreetworkern überworfen. Er hatte einmal mehr rechtsextemes Material via Web verbreitet,worauf sie ihm mit einem Outing an seinem Ausbildungsplatz drohten, wo er ebenbegonnen hatte. Das war nicht nur für Eric reine Erpressung, sondern auch für seineMutter. Sie meint, die Internet-Streetworker dürften so wenig Polizeispielen wie ihr Sohn. Trotzdem ist sie froh um die Bestätigung der Streetworker, dassihr Sohn kein Neonazi sei, sondern vor allem auf der Suche nach sich selbst.
In den ersten Monaten nach dem Mord war esziemlich ruhig auf dem Bödeli – bis zu jener „Try Action“-Party im letzten August,einer Technoparty im Flugzeughangar von Wilderswil. Auch Eric war dort – und gerietprompt in eine Schlägerei mit vier jungen Ausländern. Eine Kollegin hatte ihm zuvorerzählt, dass sie begrapscht worden war, worauf er die vier Betreffenden zu Redestellte. Wer zuerst schlug, ist umstritten, auf jeden Fall lag Eric am Schluss mitaufgeplatzter Lippe und eingeschlagenen Zähnen am Boden. Die daraufhin alarmierte Polizei seikaum aus ihrem Auto gestiegen, erinnert sich der Jugendarbeiter, der die Partyorganisiert hatte. Doch diesmal tippte Eric nicht wie sonst per SMS Verstärkung zurVergeltung heran, sondern erstattete Anzeige. Das Verfahren wegen Raufhandels istnoch immer hängig, es steht Aussage gegen Aussage.
Er habe sein Verhalten geändert, sagt Eric, under will sich auch dann „nicht mehr provozieren lassen“, wenn seine Freundin als“Nazischlampe“ begrüsst wird und er als „Nazischwein“. Er war auch nicht am 1.August 2001 in Interlaken, wo Moritz Leuenberger vor 1600 Pfadfindern sprach,während ihn 60 Skinheads auszupfeifen versuchten wie im Vorjahr Kaspar Villiger aufdem Rütli. Von Demokratie hält Eric zwar noch immer nichts, und doch will er sich jetztauf die eidgenössische Politik konzentrieren. Die Junge SVP ist ihm „zulinks“, aber bei den „Jungen für Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität“ (Young4Fun) tuter seit kurzem mit und deckt derzeit das Bödeli mit Anti-Uno-Flyers ein. Als SamuelSchmid in Interlaken pro Uno referierte, ging Eric mit seinen Freunden hin, um sich inder Diskussionsrunde persönlich gegen den Bundesrat ins Zeug zu legen. Doch den Hass,sagt Eric, „den habe ich noch immer in mir“. Er kaschiert ihn einfach besser.
Ob sie ihrem Sohn traue? „Jein“, gibt Frau T.zur Antwort. „Ich habe ihm lange vertraut, bis zu diesem ganzen Zeugs. Jetzt habe ich eineunbewusste Angst, dass er doch weiter nach rechts rutscht, als er mir sagt. ImZweifel traut eine Mutter ihrem Sohn, aber ich weiss, das kann auch gefährlich sein.“ DreiStunden sind vergangen, Eric meint zum Schluss des Gesprächs: „In die düsterenAbgründe meiner Seele sind Sie nicht vorgedrungen. Da lasse ich Leute auch nichtgerne ran.“ Der Capuccino ist längstens leer getrunken, Regula T. macht einen tiefenSeufzer und meint: „Ich kann nur hoffen. Meine Freundinnen versuchen das alles nochimmer als Jugenddummheit meines Sohnes abzutun. Wenn ich Glück habe, ist esso.“v