Der Bund. Ein 19-Jähriger soll Angriffe auf Schweizer Muslime geplant haben. Er ist auf der Flucht vor den Schweizer Behörden und spricht erstmals in einem Videoanruf über seine Taten.
Vor der versammelten Bundeshauspresse erwähnt sie ihn. Im Studio eines regionalen Fernsehsenders dient er ihr als Beispiel. Im Interview mit Zeitungsjournalisten nennt sie seine Aktivitäten. Muss Justizministerin Karin Keller-Sutter erklären, warum die Schweiz ein neues Anti-Terror-Gesetz braucht, greift sie immer wieder auf einen Fall zurück: Miran S. (Name geändert).
Sie beschreibt ihn als Bombenbauer. Als Gefährder, der einen Sprengstoffanschlag vorbereitete und von den Behörden gestoppt wurde. Als zukünftigen Terroristen, «der eine Moschee angreifen wollte nach dem Vorbild von Christchurch». In der neuseeländischen Stadt hatte ein Rechtsextremist vor zwei Jahren 51 Menschen beim Gebet getötet.
Wer ist Miran S.? Und was hat er wirklich getan?
Ein Samstag im Mai. Die Videoverbindung in den Balkan streikt. Plötzlich wird der Bildschirm hell. Ein junges, schmales Gesicht mit wachen Augen erscheint. «Ich bin kein Terrorist», sagt Miran S. in Ostschweizer Dialekt.
Der 19-Jährige ist auf der Flucht, seit er vor sieben Monaten aus einer Zürcher Massnahmenanstalt entkommen ist. Der ehemalige Elektrikerlehrling wird international gesucht. Die Schweizer Sicherheitsbehörden werfen ihm 58 Straftaten vor. Darunter die Vorbereitung eines Terroranschlags auf Schweizer Muslime.
Vieles von dem, was ihm vorgeworfen wird, gesteht Miran S. ein. Etwa, dass er Fernzünder baute und im Wald kleinere Bomben zündete – Sprengkörper, wie er sie nennt. Dass er das Imitat einer Maschinenpistole schussfähig machen wollte. Dass er versuchte, eine Pistole und Handgranaten zu kaufen. Dass er mehrere Kilogramm Chemikalien für Sprengstoffe bestellte. Dass er über eineinhalb Jahre lang in rechtsextremen Whatsapp-Gruppen und auf Instagram gegen Muslime hetzte. Und: dass er mehrmals im Internet ein Attentat auf Moscheen ankündigte.
Aber Miran S. bestreitet vehement, jemals wirklich einen Terroranschlag auf Muslime geplant zu haben. «Ich wäre niemals dazu fähig, so etwas zu tun. Ich wollte jemand sein. Mich aufspielen. Ich bin nicht derart gewaltbereit», sagt er. «Dass ich jetzt als Beispiel für das neue Anti-Terror-Gesetz diene, ist surreal für mich.»
Was ist die Wahrheit?
Gestützt auf die Verfahrensakten erzählt diese Zeitung die Geschichte des jungen Mannes, den die Behörden für den ersten Rechtsterroristen der Schweiz halten. Und der sich mit aller Kraft gegen diese Einschätzung wehrt.
Waffen, Bombenbau, Anschläge
Frühling vor zwei Jahren. Am 15. März 2019 begeht ein Rechtsextremist das Attentat von Christchurch. Er überträgt die Morde live per Helmkamera ins Internet. Auf dem Video sieht man aus der Perspektive des Terroristen, wie er im Innern um sich schiesst, Dutzende Menschen tötet. Wie er eine neue Waffe im Auto holt, den Raum erneut betritt. Überall liegen Leichen. Sterbende Opfer haben sich in einer Ecke verkrochen. Man sieht in grausamen Details, wie der Attentäter an das Menschenknäuel herantritt und gezielte, tödliche Schüsse abgibt. In die Körper von Erwachsenen, Jugendlichen, Kindern. Das jüngste Opfer ist drei Jahre alt.
Miran S. veröffentlicht einen Ausschnitt des Videos auf Instagram. Auf seinem anonymen Konto, das übersetzt «Kreuzfahrerstaat» heisst. Dazu schreibt er: «Irgendwann werde ich das Gleiche tun.» «Wo?», fragt jemand. «Irgendwo in der Schweiz», schreibt S. Kurz darauf: «Wichtig!!! Wenn jemand eine Waffe zu verkaufen hat oder jemanden kennt, der mir Munition für diesen Anschlag besorgen kann, kontaktiert mich.» In einer Direktnachricht schreibt er: «Ich könnte es schon mit Bomben tun, aber Waffen scheinen effektiver zu sein.»
Mit diesen Sätzen hat Miran S. sein Leben verändert. Er kommt auf das Radar der USA und später der Schweizer Sicherheitsbehörden.
Der damals 17-Jährige führt seit eineinhalb Jahren ein Doppelleben. Er hat eine zweite, virtuelle Existenz, von der niemand weiss. Am Tag ist er ein Elektrikerlehrling mit muslimischen Freunden, am Abend der antimuslimische Sprengstoffexperte in rechtsextremen, internationalen Onlinekreisen. In Whatsapp-Gruppenchats spricht er über Waffen, Bombenbau, Anschläge und «Sandniggers», wie sie Muslime dort nennen.
«Wir wollten schon mal eine Moschee sprengen», «ich will sehen, wie eine Kebabfabrik entfernt wird», «ein Anschlag auf eine Moschee mit einer präparierten Drohne, die faustgrosse Granaten abwerfen kann», «ich kann ihm eine Rohrbombe senden», «werde ein paar Gebetshallen zusammenschiessen», «keiner wird mich stoppen, bis es passiert», «geh ein paar Muslime töten», die beste Waffe sei ein leichtes Maschinengewehr, damit man die Muslime «niedermähen» könne. Das sind alles Sätze von Miran S, die meisten auf Englisch verfasst, in internationalen Chats. Wenn sie ihm heute vorgelesen werden, zuckt er zusammen: «Ja, ich habe abgefucktes Zeug geschrieben.»
Die Radikalisierung von Miran S.
So wie Miran S. es erzählt und es auch die Polizei ermittelt hat, kam zuerst seine Begeisterung für Sprengstoffe, nicht der Rechtsextremismus. In der Sekundarschule beginnt er für Silvester seine eigenen Böller zu bauen. Er will eine Lehre als Chemielaborant machen, findet aber keine Stelle. Neben der Lehre als Stromer verbringt er seine Freizeit damit, Sprengstoffe und Rauchbomben zu mischen. «Mich interessierten die chemischen Prozesse, ich wollte wissen, wie alles funktioniert», sagt er heute.
Er schaut ständig Youtube-Videos, auf denen Explosionen oder Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoffen zu sehen sind. Und irgendwann liest er dort den Kommentar eines anderen Nutzers: «Wie viel davon für eine Moschee?» So erzählt es Miran S. «Ich antwortete ihm und schrieb, dass ich mich gut mit Sprengstoffen auskenne», sagt S. «Ich hatte mit Rechtsextremismus nichts zu tun. Aber ich glaube, ich suchte einfach jemanden, der meine Leidenschaft für Sprengstoffe teilt. Ich hatte in meinem Umfeld niemanden, den das interessierte.»
Die beiden reden nächtelang über Sprengstoffe, auch am Telefon. Hinter dem Account steht ein junger Deutscher, rechtsradikal, mit Begeisterung für Sprengstoffe. «Weil wir uns gut verstanden, hatte ich nichts gegen seine Gesinnung», sagt Miran S. «Ich steigerte mich dann selbst hinein.» Miran S. radikalisiert sich. Die beiden fällen die Entscheidung, dass sie andere Mitglieder rekrutieren wollen. S. ist da gerade 16 Jahre alt. «Ich fand das geil. Ich dachte, dann kann ich angeben, dass ich Gründer einer, wie soll ich es sagen, ‹terroristischen› Gruppe bin.» Das Wort «terroristisch» spricht er in Anführungszeichen. Sie finden Mitglieder aus der halben Welt und laden sie in Whatsapp-Gruppen ein. Dort sprechen sie über Waffen, Bomben, den Islam, das Christentum, Kulturkampf, moderne Kreuzzüge.
Zeitgleich trägt S. im echten Leben grosse Wut mit sich herum. In seinem Lehrbetrieb wird er gemäss eigener Aussage von Vorgesetzten gemobbt. «Sie nannten mich ‹huere Jugo›, weil ich der Einzige aus dem Balkan war, sie beleidigten mich hinter meinem Rücken gegenüber den anderen Lehrlingen, sie fotografierten mich heimlich.» Er will die Lehrstelle wechseln. Doch seine Eltern – Einwanderer, die alles wollen, ausser aufzufallen – bitten ihn, zu bleiben. «Ich habe mich hilflos gefühlt», sagt Miran S. «Ich war derart wütend … Die Chats waren eine sehr gute Kompensation für den Frust, den ich vom Arbeitsplatz mit nach Hause genommen habe.»
Doch in diesen Chats hat er längst eine gefährliche Grenze überschritten: Er gibt dort jedem, den es interessiert, detaillierte Tipps, wie man Sprengstoff herstellt. Es sind keine Feuerwerkskörper mehr, sondern Rohrbomben. Miran S. baut auch Fernzünder. Das Wissen, um einen verheerenden Bombenanschlag zu begehen, hätte er schon lange. Ein Spezialist der Kantonspolizei wird ihm später «ausgezeichnete» chemische Kenntnisse bescheinigen. Unter allen Extremisten der Schweiz dürfte er der beste Chemiker gewesen sein.
Seine Mischungen zündet er in einem Waldstück in der Nähe seines Wohnorts. Die Explosionen filmt er, stellt die Videos in seine rechtsextremen Chats und erfährt die Anerkennung seiner Chatpartner. Häufig sind Kollegen dabei, die mit Rechtsextremismus nichts zu tun haben. Auf den Videos hört man sie lachen.
Währenddessen geht er weiter in die Lehre, in die Berufsschule. Seine Familie weiss nichts vom Rechtsextremismus. Nur von den Sprengkörpern. Der Vater mag das Hobby nicht. Rund zwei Monate vor dem Anschlag von Christchurch zwingt er ihn, das Chemielabor zu entsorgen. Die Aktivität in den Chats nimmt etwa zur gleichen Zeit stark ab. Monatelang schreibt er gar nichts mehr. Als ihn jemand fragt, ob er noch «rekrutiere», verneint er.
Segen von Gott und Terroristen
Damals kauft er einer Person, die er von der Arbeit kennt, illegal eine Imitationswaffe ab. Es ist eine Maschinenpistole vom Typ Uzi. Miran S. weiss, dass sie mit einem Verschluss und einem neuen Lauf schussfähig würde. Dann wäre sie eine Kriegswaffe.
Am 15. März 2019 tötet ein Rechtsextremist in Neuseeland 51 Muslime und weckt Miran S. aus seiner Chat-Pause. Noch am gleichen Tag gründet er eine neue Whatsapp-Gruppe und lädt Rechtsextreme ein. Man tauscht möglichst hochaufgelöste Versionen des Tötungsvideos aus. Jemand fragt: «So, was tun wir hier?» Miran S. schreibt: «Einen neuen Anschlag auf eine Moschee.» Er fragt, ob jemand an einen Lauf für eine Uzi herankomme. Als ein Chatmitglied ankündigt, er werde eine Familie in seiner Nähe ermorden, schreibt S.: «Töte auch ein paar Muslime!» Und danach: «Der Segen von Gott», des Christchurch-Attentäters und des Massenmörders, der 2012 in Norwegen ein Jugendlager der Regierungspartei angriff, «sei mit dir».
Miran S. sagt: «Ich könnte mir tausendmal an den Kopf schlagen, wenn ich höre, was ich damals geschrieben habe.» Bei den Nachrichten sei es nur um Aufmerksamkeit gegangen. «Darum, immer eine Schippe draufzulegen, der Härteste zu sein.» Es habe ihm eine grosse Befriedigung gegeben, dass in den Chats viel ältere Männer auf ihn, den 17-Jährigen, gehört hätten. Über die Aufforderung, der mit Morden drohende Chatpartner solle Muslime töten, sagt er: «Ich habe den Typen wirklich nicht ernst genommen. Aber es war einer von vielen Fehlern, von sehr vielen.» S.: «Ich habe mir schon damals gedacht, das, was wir schreiben, ist irgendwie krank. Aber zum Ausdruck gebracht habe ich das offenbar nicht.»
Er sagt im Gespräch, dass er im Kopf durchgespielt habe, wie ein Anschlag durch ihn selbst aussehen würde: «Ich bin ehrlich: Ich mache mir über alle möglichen Dinge Gedanken, auch darüber. Es war nicht obsessiv, nicht jeden Tag oder so.» Was hat die Vorstellung bei ihm ausgelöst? «Nüüt. Das hat mich nicht mit Energie erfüllt, nicht mit Befriedigung, auch nicht mit Ekel. Es war wie eine Kassette, die man in einen Videoplayer schiebt.»
Er habe nie wirklich dem Christchurch-Attentäter nacheifern wollen: «Warum auch? Ich hatte eine Lehrstelle, ich liebe meine Familie, mir ging es gut.» Er schüttelt den Kopf und sagt: «Nie. Nie. Nie. Ich wäre nicht fähig dazu. Und wenn ich es hätte tun wollen, hätte ich es doch längst getan.» Zur Uzi sagt er, der Umbau sei unrealistisch gewesen: «Ich hätte es zwar voll geil gefunden, wenn die geschossen hätte. Weil mich Waffen faszinieren, schon immer. Die Technik und die Macht, die sie verleihen. Aber ich wollte keine Moschee damit stürmen.»
Warnung von der anderen Seite der Welt
Die Polizei sieht das anders. Sie kommt Miran S. jetzt auf die Spur. Nicht in der Schweiz, sondern in den USA. Und nicht durch ausgeklügelte elektronische Überwachung, sondern durch puren Zufall.
Es ist nämlich eine Kleiderverkäuferin aus den USA, eine junge Mutter aus einem Vorort von Detroit, die den Instagram-Beitrag sieht, in dem der Ostschweizer ein Attentat ankündigt – und sie beschimpft ihn sogleich per Direktnachricht: «Fick dich, du kranker Scheisskerl. Ich telefoniere gerade mit den Bullen.» Dann: «Ich hoffe, sie finden dich und du brennst in der Hölle.» Miran S. macht sich über sie lustig und schreibt ihr bedrohliche Nachrichten. Er misst dem Chat keine Bedeutung bei, wie er heute sagt. Doch die Frau meinte es ernst. Denn nur 55 Sekunden nach dieser Nachricht erhält die US-amerikanische Bundespolizei FBI einen Hinweis auf das rechtsextreme Instagram-Profil.
Die Ermittler werden Miran S. später nicht glauben, dass er sich damals nur aufspielen wollte. Dafür hätten die harten Posts gereicht. Miran S. selbst verhält sich in dieser Zeit widersprüchlich. Zum Beispiel hat er ein Plastikteil gekauft, das eine Pistole vollautomatisch hätte machen können. So, dass sie in wenigen Sekunden das ganze Magazin hätte verschiessen können. Dieses Plastikteil schenkt er aber einige Tage nach dem Attentat von Christchurch einem waffenbegeisterten Bekannten von der Arbeit. Und kurz danach bietet er sein Uzi-Imitat in den Chatgruppen und einem Schweizer Kollegen zum Verkauf an. Es gibt damals keine Hinweise darauf, dass er eine Moschee auskundschaftete oder sich ernsthaft Munition beschaffen wollte.
In den Chats lügt er immer wieder, um entschlossener zu wirken. Als ihn jemand fragt, ob er eine Waffe hat, schreibt S. zurück: «Ein Jagdgewehr.» In Wahrheit hat er die Waffe fotografiert, als er im Haus des Besitzers Elektrikerarbeiten machte. Ein paar Monate zuvor hatte er sich mit einem Mitglied der Gruppe verabredet, nur um dann kurz davor wieder einen Rückzieher zu machen.
Seine Christchurch-Posts holen ihn jetzt trotzdem ein. Nach einem Monat, am Montag, 29. April 2019, übergibt die US-Botschaft in Bern einen Bericht über Miran S. an den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) und das Bundesamt für Polizei (Fedpol).
Aus den Dokumenten geht hervor: Die Schweizer Behörden haben keine Ahnung, wer dieser 17-Jährige aus der Ostschweiz ist. Dem Nachrichtendienst war Miran S. bisher nicht bekannt. Seine Aktivitäten, obwohl öffentlich, sind in der Schweiz niemandem aufgefallen.
Der Nachrichtendienst informiert die Bundesanwaltschaft. Ihre Staatsanwälte sind erfahrene Ermittler. Sie wüssten, was zu tun ist. Doch Miran S. ist minderjährig. Und damit ist die Jugendanwaltschaft seines Kantons zuständig.
Deshalb gibt das Fedpol die Meldung an die betreffende Kantonspolizei weiter. Es ist mittlerweile Freitag, fünf Tage nach der Warnung des FBI. Den Fall übernimmt ein Jugendanwalt. Er stellt am Montag einen Haftbefehl aus. Am nächsten Morgen, um 7.08 Uhr, verhaften Kantonspolizisten Miran S. auf seinem Arbeitsweg. Er kommt in Untersuchungshaft.
Sechs Polizisten durchsuchen die Wohnung der Familie. Sie finden sein Uzi-Imitat und Metallrohre mit Drehverschluss, die sich für den Bau von Rohrbomben eignen. Die Forensiker weisen Spuren von Sprengstoff nach. Auf seinem Handy und Laptop finden sie seine Chats, seine Videos, seine Internet-Suchanfragen aus den letzten Jahren. Einfach alles.
Nach einer Woche kommt Miran S. wieder frei. Das verdankt er massgeblich der positiven Einschätzung eines forensischen Psychiaters. Es sei bei S. zu einer «leicht- bis mittelgradigen Radikalisierung des Denkens gekommen, jedoch nicht zu einem verfestigten Extremismus, welcher bereits eine unkorrigierbare Handlungsbereitschaft zur Folge gehabt hätte». Die Gefahr einer Umsetzung der angedrohten Taten sei «eher gering».
Tödlicher Ernst oder Protest?
S. findet innert kürzester Zeit und auf eigene Faust einen neuen Lehrbetrieb, obwohl er laut eigener Angabe offenlegt, warum er verhaftet wurde. Ein einmaliger Fehltritt, gute Prognose, neue Lehrstelle, mildes Jugendstrafrecht: Eigentlich sieht es gut aus für Miran S.
Er bricht den Kontakt zu den Chatpartnern ab. Doch S. – das sagt er selbst – entwickelt einen neuen Hass, diesmal auf die Jugendanwaltschaft und die Strafverfolgungsbehörden.
Er würde gerne im Heimatland seiner Eltern Ferien machen, bis er im August seine neue Lehrstelle antritt. Er habe im alten Lehrbetrieb extra Ferien dafür gespart. Doch die Jugendanwaltschaft habe entschieden, dass er eine Tagesstruktur brauche, und ihn zur Arbeit auf einen Recycling-Hof geschickt, wo er für 500 Franken pro Monat Abfall habe wiederverwerten müssen. «Ich fühlte mich da selbst wie Abfall», sagt er. «Ich hatte ein Problem damit, dass mir die Behörden plötzlich sagten, wo ich hinzugehen habe. Das war neu für mich.»
Rund einen Monat nach seiner Haftentlassung beginnt er, teure Gegenstände auf Rechnung im Namen von Nachbarn zu bestellen. Mehrere Uhren, eine Brille, eine Playstation, eine Drohne, einige Notebooks. Das ist Betrug, aber kein Gewaltverbrechen. Doch zeitgleich tut er etwas, was alle – die Polizei, den Jugendanwalt, den Direktor des NDB – höchst beunruhigt. «Unüberlegt und aus Wut über die Behörden», wie Miran S. sagt.
Miran S. gibt innert fünf Tagen sieben grosse Bestellungen von Chemikalien auf – ebenfalls auf die Namen von Nachbarn. Teils mehrmals hintereinander bei den gleichen Händlern. In einer Onlinedrogerie aus dem Kanton Aargau bestellt er aufs Mal kilogrammweise Wasserstoffperoxid, Aceton und Salzsäure. Exakt in den Mengen, die es braucht für die Herstellung des hochexplosiven Initialsprengstoffs TATP, der bei terroristischen Anschlägen häufig eingesetzt wird. Zeitgleich bestellt S. Feuerwerkskörper, Rauchbomben und einen Funkzünder auf seine eigene Adresse, aber auf den Namen des ehemaligen Vorgesetzten, mit dem er sich zerstritten hat.
«Ich wollte mit diesen Bestellungen zwei Dinge erreichen», sagt Miran S. «Ich wollte, dass bei der Polizei die Alarmglocken läuten, weil ich wütend war wegen der Vorschriften, die sie mir machten. Und ich wollte herausfinden, ob ich überwacht werde.»
Die Behörden scheinen ahnungslos zu sein. Eine Bestellung wird sogar ausgeliefert. Doch sie wird retourniert, bevor Miran S. sie sieht. Es ist der Chef der Aargauer Drogerie, der sich schliesslich an einem Samstagabend an das Bundesamt für Polizei wendet. Er weiss, zu was man die Stoffe mischen kann. Und er glaubt nicht, dass die Chemikalien für den von Miran S. angegebenen Verwendungszweck bestimmt sind. Die Polizisten des Fedpol recherchieren noch am selben Abend in ihren Datenbanken zu den Namen der Nachbarn. Dabei stossen sie auf Miran S., der im gleichen Mehrfamilienhaus wohnt. Die Kantonspolizei erhält sofort eine als «D R I N G E N D» gekennzeichnete Meldung.
Am Montag schaltet sich der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) ein. Dessen Direktor, Jean-Philippe Gaudin, unterschreibt einen Amtsbericht zuhanden des lokalen Jugendanwalts. Darin steht: «Es ist möglich, dass S. auch bei anderen Drogerien Bestellungen getätigt hat. Daher ist es nicht auszuschliessen, dass S. aktuell bereits im Besitz solcher Vorläuferstoffe ist. Der NDB hat bisher jedoch keine konkreten Informationen dazu.»
Dann folgen beunruhigende Sätze: «Der NDB schätzt das Risiko eines rechtsextrem motivierten Terroranschlages durch S. selber als hoch ein. Der NDB geht davon aus, dass S. trotz Aufenthalt in Untersuchungshaft weiterhin an seinem Vorhaben festhält, einen Anschlag gegen muslimische Interessen durchzuführen. Es muss davon ausgegangen werden, dass er direkt Menschenleben beeinträchtigen will. S. ist daher als gefährlich einzuschätzen.»
Ein Spediteur will Funkzünder liefern
Trotzdem taucht in diesen Tagen vor Miran S.’ Haus ein Spediteur auf. Er ruft den ehemaligen Vorgesetzten von S. an und fragt, wie und wo er denn das Feuerwerk übergeben könne. Inklusive Funkfernzünder.
Wenige Tage danach verhaften Kantonspolizisten Miran S. zum zweiten Mal. Diesmal an seiner Arbeitsstelle im Recycling-Hof.
S. schüttelt ungläubig den Kopf, wenn er über die Bestellungen spricht. Er war von der Verhaftung überrascht. Er wirkt gekränkt davon, dass ihm die Bestellung als Anschlagsplan ausgelegt wird: «Mit Rechtsextremismus hatte das nichts zu tun – ich wollte das schon nach der ersten Verhaftung alles hinter mir lassen. Wäre ich wirklich auf der Attentatsschiene gewesen, hätte ich doch nicht im Kilobereich alles zusammen in der gleichen Drogerie bestellt. Das geht intelligenter. Ich habe die Drogerie ja richtig zugemüllt mit Bestellungen, gleich hintereinander. Ich wollte auffallen. Ist das nicht offensichtlich?» Er wüsste, wie es anders ginge. Früher habe er zum Beispiel hochprozentiges Wasserstoffperoxid aus Kontaktlinsenflüssigkeit extrahiert.
Miran S. hat Erfahrung mit TATP. Er hat mehrmals Sprengkörper daraus hergestellt. Allerdings laut eigenem Beteuern immer nur im Grammbereich. Aus Sicherheitsgründen. «Scheisse, so einen Sprengstoff kannst du nicht kiloweise herstellen, ohne dabei selbst in die Luft zu gehen», sagt S. «Das ist so gefährlich, das geht gar nicht.» TATP ist in der Tat extrem schlag- und wärmeempfindlich. Bei den kleinsten Fehlern explodiert das Labor; und der Bombenbauer meistens gleich mit. Zahlreiche Möchtegern-Attentäter des Islamischen Staates sprengten sich so in den letzten Jahren selbst in die Luft.
Der Ostschweizer sagt, er sei nicht davon ausgegangen, dass die Stoffe wirklich ankämen. Falls doch, hätte er zwei Dinge damit gemacht: «Im Wald hätte ich ein paar kleine TATP-Ladungen explodieren lassen. Wie früher. Und ich hätte ein Foto von mir mit den Chemikalien gemacht und an den Jugendanwalt geschickt. Ich wollte ihm zeigen, dass, egal welche Massnahmen er mir auferlegt, sie eh nichts bringen. Und sagen: Schau, ich will keinen Anschlag begehen, sonst hätte ich dir nicht zuerst ein Foto geschickt.»
War es wirklich nur Trotz? Die Behörden jedenfalls glauben, dass Miran S. mit dem Sprengstoff genau einen solchen Anschlag plante. In seiner Umgebung gibt es zahlreiche Moscheen. Die Polizei konfrontiert ihn in der Haft mit Spuren von einem Computer der Familie. Rund eine Woche nachdem er das erste Mal aus dem Gefängnis kam, klickte er auf Google Maps eines dieser Gotteshäuser an.
Warum? Miran S. sagt, er sei zufällig darauf gestossen, als er seinen neuen Lehrbetrieb auf der Karte suchte.
Tatsächlich liegen sein neuer Arbeitsort und die Moschee nur 150 Meter auseinander. An der gleichen Strasse, nur zwei Häuser weiter. Laut der Auswertung der Polizei sucht Miran S. um 12.36 Uhr mittags nach der Adresse seines Lehrbetriebs. 66 Sekunden später klickt er auf der Karte die Moschee an. Laut Polizei ruft er an dem Tag die Website der Moschee auf. Sie ist auf Google Maps verlinkt. Ein Klick reicht.
In seinem Antrag an den Haftrichter schreibt der Jugendanwalt, S. gehe «seit mehreren Monaten planmässig» vor. Die «verbrecherische Absicht» sei eindeutig erkennbar.
Diesmal bleibt Miran S. fast zwei Wochen in Haft. Die Einschätzung des Psychiaters ist optimistischer als die des Nachrichtendienstes. «Die Radikalisierung scheint nicht wesentlich stärker geworden zu sein», schreibt er. «Geltungsdrang und ein gewisses Trotzverhalten gegenüber den Autoritäten könnten einen Teil der Motivation geliefert haben, welche ihn bewog, trotz Strafverfahren weiterzumachen.» Das Risiko für Gewaltdelikte sei «nur tendenziell gesteigert».
Eigentlich hätten die Behörden Miran S. länger im Gefängnis behalten wollen. Doch der Jugendanwalt zieht seinen Haftantrag zurück, damit S. seine neue Lehrstelle antreten kann.
Ab jetzt hat Miran S. einen Schatten. Sein Telefon wird in Echtzeit abgehört, der Internetzugang der Familie ständig überwacht. Zusätzlich verfügt der Jugendanwalt den Einsatz eines selten verwendeten Werkzeugs: eines Staatstrojaners. Es handelt sich um ein Spionageprogramm, mit dem das Handy von Miran S. heimlich infiziert werden sollte. Es würde alles, was auf dem Telefon passiert, ob Whatsapp-Nachrichten, Internetsuchen oder E-Mails, direkt an die Behörden weiterleiten. In jenem Jahr wurden in der ganzen Schweiz gerade mal 11 solche Staatstrojaner eingesetzt – ein Hinweis darauf, wie nervös Miran S. die Sicherheitsbehörden macht.
Miran S. muss jetzt unter der Woche in ein Jugendheim. Die Behörden versprechen sich davon eine bessere Kontrolle. Aus der Sicht von S. ist es das Gegenteil: «Ich bin dort voll abgestürzt. Am ersten Abend habe ich erstmals Ecstasy genommen. Wir waren die ganze Zeit bekifft und besoffen. Ich bin dort zu hoch geflogen und sehr tief gefallen.»
«Gurke 17, 100 Pellets für 900 Kaugummis»
Schon einen Monat nach der Haftentlassung zeichnen die Überwacher ein verdächtiges Telefonat auf. Miran S. sagt darauf: «Ich han es richtig fetts Agebot gseh.» Sein Gegenüber: «Ah ja?» «Ja, wege Gurke.» «Ah?» «Gurke 17, 100 Pellets für 900 Kaugummis mit zwei Halter für Pellets. Checksch, wasi mein?»
Die Mithörer von der Polizei «checken» es sofort. Bei der «Gurke» handelt es sich um eine Glock 17, eine beliebte Pistole, bei den Pellets um Patronen, bei den Haltern um Magazine und bei den Kaugummis um Franken.
Miran S. sagt, in dem Heim sei die Rede auf Waffen gekommen, als er erzählt habe, warum er dort einquartiert sei. Jemand habe gesagt, er kenne einen, der Waffen aus Armeebeständen beschaffen könne. «Ich war und bin fasziniert von Waffen», sagt S. «Ich wusste, dass ich legal nie eine werde besitzen können. Also hat mich das gereizt.» Der Waffenverkäufer habe ihm dann auch Handgranaten angeboten. «Ich habe ihm zuerst nicht geglaubt. Dann sagte ich ihm, dass ich zwei will: eine zum Testen im Wald und eine als Erinnerungsstück.»
Am Telefon wird es plötzlich konkret. Am 8. Oktober ruft S. einen Kollegen an, um nach Geld zu fragen: «Morn chani d Glock 17, 2 Handgranate und 100 Schuss hole.» Es ist schon 18.30 Uhr abends, die Überwacher sind wohl schon im Feierabend. Denn das Gespräch wird erst am nächsten Morgen abgehört und danach sofort dem Jugendanwalt vorgelegt. Er erlässt umgehend einen Festnahmebefehl.
Noch am gleichen Tag verhaften Kantonspolizisten S. Doch er trägt keine Waffe und auch keine Handgranaten auf sich. Ob die Waffen wirklich existieren oder alles nur eine Abzocke war, bleibt unklar.
Die Behörden sehen den versuchten Waffenkauf erneut als Vorbereitung einer Gewalttat durch Miran S. Kurz vor der Verhaftung schrieb er in einem Gruppenchat mit Kollegen aus dem Heim darüber, wie man einen Türsteher krankenhausreif schlagen könnte. Er erwähnt «zwei Pistolen», zugleich bestellt er in Österreich aber auch zwei Schreckschusswaffen.
Im Gespräch sagt S. heute, er hätte den Türsteher vielleicht höchstens verprügelt, mit der Waffe nur auf Baumstämme schiessen wollen: «Wäre ich nicht in meiner eigenen Haut, hätte ich gesagt, gut so, habt ihr den dingfest gemacht. Nur: Ich weiss halt, dass ich mit der Pistole niemanden verletzt hätte. Aber diese Leute können mir nicht ins Gehirn schauen, das ist mir schon klar.»
Die Mittagspause nutzt er zur Flucht
Für Miran S. sind die Konsequenzen schwerwiegend. Er kann sich darauf einstellen, jahrelang nicht mehr in Freiheit zu kommen. Denn der Jugendanwalt verfügt jetzt eine geschlossene Schutzmassnahme. Behördliche Interventionen seien unumgänglich, «um den Beschuldigten von weiteren Straftaten abzuhalten und die Bevölkerung zu schützen». Miran S. wird ins Massnahmenzentrum Uitikon in der Nähe von Zürich gebracht.
Eine neue Gutachterin untersucht ihn. Sie kommt erstmals zum Schluss, ohne die letzte Inhaftierung sei die Umsetzungsgefahr «moderat bis deutlich» gewesen. Und inzwischen widerspricht ein anderer Psychiater dem ersten positiven Gutachten von Miran S.: Er attestiert ihm nun ein «fortgeschrittenes Stadium» bezüglich Tatausführung vor dem Einschreiten der Behörden.
Die Unterbringung kostet den Kanton 24’000 Franken im Monat. In Uitikon verbringt Miran S. etwas weniger als ein Jahr. Zuerst in der geschlossenen Abteilung, dann halboffen. Er darf eine Lehre auf dem Gelände beginnen. «Es gab ganz wenige schöne Momente. Aber ein Ort zum Bleiben … Nein, das war es nicht. Ich habe es gehasst in Uitikon.» Zudem spitzen sich Probleme mit anderen Insassen zu. Er habe sich gedacht: «Ich verbringe doch hier nicht meine besten Jahre.»
Also sagte er an einem Tag im Oktober 2020 den Betreuern, dass er seine Mittagspause auf einer Sitzbank am Rande des Areals verbringen werde. Er lacht, als er das erzählt. «Uuund schwupps», sagt er und macht ein Pfeifgeräusch.
Miran S. ist verschwunden.
Und er bleibt es. Irgendwie kommt er auf den Balkan, in das Heimatland seiner Familie. Er ist Doppelbürger. Deshalb wird er nicht an die Schweiz ausgeliefert. Trotz internationaler Fahndung. Und er traut sich jetzt sogar, mit Journalisten zu sprechen.
An einem Samstag sieben Monate nach seiner Flucht erscheint das Gesicht von Miran S. auf dem Computerbildschirm zum Videointerview. Er macht einen zufriedenen Eindruck. Gerade gestern sei er an einer Party gewesen. Er habe hier die Autoprüfung und seine Lehre als Elektriker fertig gemacht. Jetzt arbeite er im Büro. Vielleicht habe er bald auch eine Freundin, sagt er und lacht. Es ist schwierig, den fröhlichen 19-Jährigen mit dem Menschen aus den Akten zusammenzubringen. Oder mit dem Extremisten, mit dem eine Bundesrätin das Anti-Terror-Gesetz anpreist.
34-mal haben Kantonspolizisten Miran S. einvernommen, 58 Delikte lasten sie ihm an. Der fallführende Polizist, der S. viele Stunden verhörte, beklagt im Schlussbericht: «Es schien grundlegend so, dass er die Tragweite seines Handelns nicht vollends verstanden hat.»
Aus Miran S.’ Stimme ist heute beides herauszuhören: ein bisschen Stolz darüber, wie wichtig er plötzlich geworden ist. Und sehr viel Bedauern darüber, dass er jetzt getrennt von seiner Familie lebt. Er sagt, er habe «viele, sehr viele Fehler» gemacht. Er schüttelt den Kopf: «Könnte ich in der Zeit zurückreisen, würde ich alles sofort anders machen, ohne nachzudenken. Ich bereue wirklich, verdammt fest.» Von Rechtsextremismus distanziert er sich. «Ich möchte das eigentlich am liebsten alles vergessen», sagt Miran S. «Ich sehe Muslime heute als Mitmenschen. Ich habe jetzt die Einstellung, dass es bei allen Gruppen gute und schlechte Menschen gibt: Christen, Amerikaner, Schweizer, Araber.»
Die Schweizer Behörden sind ihm weiterhin auf der Spur. Sie versuchen momentan, das Strafverfahren an das Land abzutreten, in dem sich Miran S. aufhält. Die Fallakten werden momentan übersetzt. Doch es ist offen, ob und für wie viel ihn die Gerichte seiner zweiten Heimat verurteilen würden.
Vor ein paar Wochen hat S. bei Behörden in der Ostschweiz angerufen. Er lotete aus, was bei einer Rückkehr in die Schweiz passieren würde. Die Antwort: Er käme sofort wieder nach Uitikon. Man sagte ihm, dass er verhaftet und ausgeliefert würde, sobald er in ein Nachbarland ausreise. Miran S. wird sich die Warnung wohl zu Herzen nehmen.
Kasten: Hausarrest für Minderjährige?
Schweizer Polizeikorps sollen Gefährdern mehr Auflagen machen dürfen. Das will der Bundesrat mit dem neuen Anti-Terror-Gesetz (PMT), über das am 13. Juni abgestimmt wird. So könnten gegenüber Personen, die die Behörden als potenzielle Terroristen sehen, Kontakt- oder Rayonverbote verfügt werden. Mit Genehmigung eines Richters ist Hausarrest möglich, auch für Minderjährige. Beim damals 17-jährigen Miran S. wären die Massnahmen wohl nutzlos gewesen. Er befindet sich bereits in einem Strafverfahren wegen «strafbarer Vorbereitungshandlungen». Und fast alle Straftaten beging er vom Handy aus. Radikalisiert hat er sich im Internet bei Chats mit internationalen Rechtsextremen. Chemikalien für Sprengstoff bestellte er per Laptop. (lei)