Neue Zürcher Zeitung. Im Herbst erschütterten mehrere jihadistische Terroranschläge Europa. An ein Erstarken des IS glaubt der Terrorismusexperte Jean-Paul Rouiller nicht. Bedenklich sei vielmehr die Radikalisierung von rechtsextremen Gruppierungen.
NZZ: Herr Rouiller, in der Schweiz kam es in diesem Jahr zu zwei terroristischen Angriffen. Hat die Schweiz ein Terrorismusproblem?
Ja, auch die Schweiz hat ein Terrorismusproblem, und zwar nicht erst seit den Anschlägen von Morges und Lugano. Das Schweizer Terrorproblem mag zwar unspektakulär erscheinen, ist jedoch tiefgreifend und von Dauer.
Was heisst das konkret?
Wir müssen damit rechnen, dass es vermehrt zu Attacken von Einzeltätern kommt, die sich von der Ideologie des IS inspirieren lassen. Die Profile der Täter von Morges und Lugano sind sich sehr ähnlich. Beide Täter haben Kontakte zu Personen, Netzwerken und Gemeinschaften, die mit der Terrororganisation verbunden sind, und haben sich mit ausländischen IS-Kämpfern in Syrien ausgetauscht. Unseres Wissens wurden die Täter jedoch nicht vom IS beauftragt. Der Anschlag von Morges wurde auf keiner Propagandaplattform erwähnt. Bis heute ist nicht klar, ob es sich bei dem Messerangriff um den ersten islamistischen Terroranschlag in der Schweiz oder um die Tat eines Wahnsinnigen handelt. Auch der Anschlag von Lugano stiess auf wenig Resonanz. Aus diesem Desinteresse zu schliessen, dass die Schweiz für den IS oder die Kaida uninteressant sei, oder zu folgern, dass bei uns kein terroristisches Risiko bestehe, wäre jedoch falsch und gefährlich.
Sind Menschen anfälliger für extremistisches Gedankengut aufgrund der allgemeinen Verunsicherung in der Corona-Pandemie?
Da sich viele Leute während des Lockdowns sozial isolierten, wurden sie anfälliger für die Versprechungen der Terroristen. Denn Terroristen liefern einfache Antworten auf komplizierte Fragen, indem sie klare Schuldzuweisungen vornehmen. Tendenziell gibt es seit dem Ausbruch der Krise sicher mehr Leute, die alternative Antworten anzunehmen bereit sind. Die Leute, die heute anfällig für terroristische Propaganda sind, waren jedoch wahrscheinlich schon vorher unsicher und befanden sich am Rand der Gesellschaft. Gerade im Umfeld der verbreiteten Verschwörungsmythen zeigt sich oft eine bedenkliche Form der Radikalisierung bis hin zur Gewalt.
Laut einem Bericht der britischen Kommission zur Bekämpfung von Extremismus wollen extremistische Gruppen in den USA und Grossbritannien das Virus selbst zur Waffe machen. Wie wahrscheinlich ist es, dass Terroristen künftig vermehrt auf biologische Waffen zurückgreifen?
Es stimmt, dass rechtsextreme Gruppierungen ihre Mitglieder dazu ermutigen, sich selbst zur Waffe zu machen, sollten sie am Coronavirus erkranken. Die Idee ist, dass man Bevölkerungsgruppen wie Juden, Chinesen oder Muslime absichtlich ansteckt, etwa durch Anhusten oder Umarmen. Das mag im Einzelfall sogar funktionieren. Dass das Coronavirus als effektive biologische Waffe eingesetzt wird, halte ich aber für illusorisch, da das Know-how zur Herstellung einer solchen Waffe fehlt. Die meisten Bewegungen haben keinen Zugang zu Labors und den führenden Wissenschaftern auf diesem Gebiet. Soweit wir wissen, ist es bisher keiner Gruppierung gelungen, biologische Waffen zu entwickeln.
Gewisse Extremisten – vor allem Rechte – scheinen die Krise geschickt für ihre Zwecke zu nutzen.
Das ist so. Rechtsextremer Terrorismus ist auf dem Vormarsch in den USA und in Europa. Rechtsextreme Gruppierungen wie die Proud Boys aus den USA treten vermehrt öffentlich auf. Die britische Gruppierung Patriotic Alternative rekrutiert seit 2020 auf Youtube neue Anhänger. Geschickt nutzen rechtsextreme Gruppierungen Verschwörungstheorien und Falschinformationen, um Hass zu schüren und zur weiteren Polarisierung der Gesellschaft beizutragen. Das Virus befeuerte Hassreden gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Asiaten oder Juden, die schon zuvor als Feinde der vorwiegend weissen Rechtsextremen galten. Während auf den Kanälen von jihadistischen Gruppierungen wie dem IS etwa 200 Extremisten anzutreffen sind, erreichen rechtsextremistische Propagandaplattformen mehrere tausend Besucher. Wir beobachten Kanäle mit über 7000 Mitgliedern. Die Plattformen, die ihren Ursprung meist in den USA haben, haben in den letzten Monaten starken Zulauf erhalten; auch wegen der Corona-Krise und der von rechten Kreisen verbreiteten Verschwörungstheorien.
Wie gross ist die Gewaltbereitschaft dieser Gruppierungen?
Aufrufe zur Gewalt sind auf rechtsextremistischen Plattformen keine Seltenheit. Extremisten mit rassischer oder ethnischer Motivation, im Besonderen weisse Suprematisten, werden in westlichen Ländern mittlerweile als grössere Bedrohung angesehen als islamistische Terroristen. Dass es in Zukunft zu Anschlägen von Rechtsextremen kommen wird, halte ich für sehr wahrscheinlich. Wann genau, ist die Frage. In Deutschland beispielsweise sind derzeit 50 Rechtsextreme bekannt, denen die Sicherheitsbehörden schwere Straftaten oder gar einen Terroranschlag zutrauen. Die militärischen Kenntnisse innerhalb der rechtsextremen Gemeinschaft haben zugenommen. Gruppierungen wie die Atomwaffen-Division teilen Anleitungen zur Herstellung von Waffen mit dem 3-D-Printer. Wir müssen damit rechnen, dass Rechtsextreme vermehrt militant auftreten werden. Bürgermilizen verzeichnen in den USA enormen Zulauf. Wenn solche Gruppierungen sich dazu entscheiden, in den Kampf zu ziehen, könnte dies böse enden.
Bisher agierten Rechtsextreme vor allem als Einzeltäter. Eine zentrale Organisationsstruktur fehlte. Hat sich das geändert?
Die Tendenz geht ganz klar in Richtung mehr Gewalt und in Richtung einer stärkeren Organisation. Es gab schon immer gewisse Plattformen, wo sich Rechtsextreme austauschten. In den vergangenen Monaten haben sie sich jedoch stärker zu organisieren begonnen. In Deutschland konnte man bereits sehen, dass sich extremistische Zellen bildeten, die sich zu einer grösseren Bewegung zusammenschliessen könnten. Wir wissen, dass verschiedene Zellen sich in Chats sowie telefonisch austauschen, die mit Anschlägen gegen Politiker, Asylsuchende oder Muslime liebäugeln. Vermehrt treten Rechtsextreme in grossen Gruppen auf, hissen öffentlich die Nazi-Flagge. Rechtsextremistische Propaganda wurde in den vergangenen Monaten deutlich gezielter verbreitet. Sobald linke Kreise zu Protesten aufriefen, wie etwa nach dem Mord an George Floyd, standen die rechtsextremen Gruppen ihrerseits schon bereit für eine Gegendemonstration.
Jean-Paul Rouiller leitet die Terrorismus-Forschungsgruppe des Geneva Centre for Security Policy in Genf. Seine Forschung konzentriert sich auf das Verständnis der Strukturen, der Ideologien und der Funktionsweise extremistischer Gruppierungen in der ganzen Welt.