Zürichsee-Zeitung: Die legendäre Wiese auf dem Rütli ist in der Debatte über Mythos und Wahrheit der Schweizer Geschichte ein Streitobjekt, an dem sich die Geister scheiden. Historiker wie Bruno Meier zweifeln daran, dass der angebliche Schwur dort geleistet worden ist.
Es wäre nicht weiter erstaunlich, würde auch die Rütliwiese in diesem Jahr – so wie Morgarten oder Marignano – ins Kreuzfeuer konservativer Tellensöhne und liberaler Tellenkritiker geraten. Auch wenn das angebliche Rütlischwur-Jahr 1291 nicht die jubiläumsberechtigten Endziffern 15 trägt: Der legendäre Gründungsort würde gut in die Debatte um Mythen und Wahrheit der Schweizergeschichte passen, die im Jubiläumsjahr tobt.
«Ort des nationalen Kitts»
Lukas Niederberger hat aber bis jetzt nichts gehört von einer Rütli-Diskussion, erklärt der Geschäftsleiter der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG), die die Rütli-Wiese verwaltet und dort die Bundesfeier am 1. August ausrichtet. Ist es wirklich so still ums Rütli? Immerhin hat der Historiker Thomas Maissen in seinen «Schweizer Heldengeschichten» provokant und unmissverständlich geschrieben: «Der Bund von 1291 wurde nicht auf dem Rütli beschworen.» Es sei unwahrscheinlich, dass führende Männer «die mühsame Reise zur abgelegenen Wiese in Kauf genommen» hätten. Maissens Buch hat im März mit seiner Demontage von Schweizer Mythen die Geschichtsdebatte angeheizt und Christoph Blocher auf die Palme gebracht. Sein Rütli-Misstrauensvotum hat aber noch keinen Einspruch nationalkonservativer Geschichtsfreunde ausgelöst. Auch linke Geschichtsdeuter, bis jetzt allergisch gegen alteidgenössische Mythen, regen sich nicht auf über das Rütli. «Ein Mythos ist nicht einfach schlecht, weil er historisch nicht belegt ist», sagt Rütli-Verwalter Niederberger. Der Rütlischwur sei zwar umstritten, das Rütli habe sich aber seit dem 17. Jahrhundert dennoch als wichtiger Ort «für die Gemeinschaftsbildung und den nationalen Kitt» etabliert. Es sei ein «unaufgeregter, beschaulicher Gedenkort», der allen Schweizern und Schweizerinnen gehöre. Der Zustrom der Schulreisen habe zwar nachgelassen, seit jeher kämen aber hier Gruppen zusammen, gerade aus der Romandie. Die Rütliwiese stehe für Integration statt Polarisierung. Das zeige auch das Thema der diesjährigen Bundesfeier: Gastfreundschaft. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga werde in ihrer 1.-August-Rede auf dem Rütli darüber referieren.
Rütli entzündet Debatten
Niederberger räumt ein, dass die 1.-August-Stimmung nach 2000 auf dem Rütli nicht immer harmonisch war. Rechtsextreme störten die 1.-August-Reden der damaligen Bundesräte Samuel Schmid und Micheline Calmy-Rey. Während Calmy-Reys Rede detonierte 2007 gar ein kleiner Sprengsatz. Seither bewachen Urner und Schwyzer Kantonspolizisten den 1. August auf dem Rütli. Am besten lasse sich eine politische Instrumentalisierung der Rütli-Bundesfeier verhindern, indem man sie «nicht wie ein Vakuum leer lasse, sondern mit einem Thema fülle» wie dieses Jahr mit der Gastfreundschaft, sagt Niederberger.
Auch wenn es nun ruhig ist um das Rütli: Die Debatte um Mythen und Wahrheiten der Schweizer Geschichte hat sich gerade an der Urner Wiese entzündet. Ein Auslöser war der Basler Historiker Georg Kreis. Und zwar mit seinem Buch «Mythos Rütli», das er 2004, mit viel Sinn für mythische Jubiläen, exakt 200 Jahre nach der Uraufführung von Friedrich Schillers «Wilhelm Tell» publizierte. Darin demontiert Kreis die Legende von der Bundesschwurstätte. Und kreiert einen neuen Mythos, vom Rütli als Bühne der wandelbaren nationalen Selbstfindung. Kreis unterscheidet «zwei Pole der symbolischen Rütli-Bewirtschaftung», einen starren konservativen und einen beweglichen progressiven. Vom Schwur der alten Eidgenossen gibt es aus Kreis’ Sicht einen direkten Verlauf bis zu einer «solidarischen Einheit», die auch Einwanderer mit einschliesst. Kein Wunder, ist Kreis ein Lieblingsfeind der SVP.
«Eine inszenierte Landschaft»
Wenn man Mythos und Wahrheit unterscheiden will, müsste man dann das Rütli vergessen? «Unterscheiden ja, vergessen nein», antwortet der Historiker Bruno Meier. Mythen hätten eine wichtige Bedeutung bei der Traditionsbildung, Man solle sie aber nicht mit Wissen vermischen. Meier hat in seinem neuen Buch «Von Morgarten bis Marignano» zusammengetragen, was man über die Entstehung der alten Eidgenossenschaft überhaupt weiss. Auch dieses Buch ist, wie Maissens «Heldengeschichten», im Hier+Jetzt-Verlag erschienen. Meier ist dessen Gründer und Verleger. «Historiker können den Mythengebrauch in Politik und Öffentlichkeit nicht steuern», sagt Meier über die Rolle seiner Berufszunft. Sie sollten aber auf Missbrauch hinweisen. «Etwa wenn Begriffe wie Freiheit oder Gleichheit undifferenziert auf das Mittelalter übertragen werden.» Die alte Schweiz sei keine Einheit von Gleichen gewesen, sondern habe Herren und Untertanen gekannt. Meiers Fazit zum Rütli: «Es ist erst im 19. Jahrhundert zu einem Kristallisationspunkt der Schweizer Geschichte geworden. Heute ist es ein Stück gebaute, inszenierte Landschaft wie die Hohle Gasse oder neu auch der Morgarten. Es ist also primär eine touristische Attraktion und kein historischer Ort.»
Rütli-Vorstoss der SVP
Das sieht Peter Keller – Nidwaldner SVP-Nationalrat, Historiker und «Weltwoche»-Autor – natürlich ganz anders: «Das Rütli ist für die SVP als Kraftort der schweizerischen Selbstbestimmung und des Widerstandsgeistes immer ein Thema.» Und es sei nicht bloss Anlass für einen «sozialpädagogischen Tagesausflug» von 1.-August-Rednerin Simonetta Sommaruga. Überhaupt widerspreche eine zentrale 1.-August-Rede dem Geist unseres Landes, passender seien «viele gleichrangige Feiern, an denen der 1.-August-Cervelat im eigenen Garten jeder Bundesratsrede ebenbürtig ist».
Keller sieht das Rütli bei der «linksfreisinnigen» Gemeinnützigen Gesellschaft SGG in falschen Händen – auch weil diese hinter der «dümmlichen Castingshow» für eine neue Nationalhymne stehe. Der SVP-Nationalrat kündigt einen Vorstoss seiner Partei an, «die SGG vom Rütli-Mandat zu entbinden».
Ob sich übrigens Simonetta Sommaruga auf dem Rütli in die Geschichtsdebatte einmischen wird, kann ihr Sprecher Philipp Schwander nicht sagen. Sie werde aber am 13. September an der offiziellen Marignano-Schlachtenfeier reden und sich dort sicher zur Schweizer Geschichte äussern. Mit SVP-Gegenwehr ist dann zu rechnen.
Buch: Bruno Meier: «Von Morgarten bis Marignano – Was wir über die Entstehung der Eidgenossenschaft wissen», Hier+Jetzt-Verlag Baden.