Nationalfeiertag Der Soziologe Kurt Imhof über die Rolle des Symbols Rütli in der schweizerischen Politik
Die Diskussion um das Rütli sei ein Kampf um ein Symbol, das die SVP gerne hätte, sagt der Soziologe Kurt Imhof. Und er ist der Meinung, dass am 1. August eine Feier auf dem Rütli stattfinden sollte.
Herr Imhof, wann waren Sie zuletzt auf dem Rütli?
Kurt Imhof: Letztes Jahr am 1. August. Mich interessierte, wie die Medien reagieren, ob sie aufs Rütli oder auf die Rechtsextremen orientiert sind. Es waren alle enttäuscht (lacht), dass nichts passierte und schliesslich waren alle froh, als sie erfuhren, dass Bundesrat Schmid auf der Lenzburg gestört wurde.
Die einen nennen das Rütli die Geburtsstätte der Schweiz, für andere ist sie «eine Wiese mit Kuhfladen». Wieso gehen die Wahrnehmungen derart auseinander?
Imhof: Die SVP hat das Problem, dass sie einerseits alle Elemente des Mythos Schweiz und des Sonderfalls Schweiz politisch besetzt. Das ist ein Vorteil für diese Partei, die anderen machen das nicht, und das ist ein Problem für SP, CVP und FDP. So wurde die SVP von der kleinsten zur grössten Partei. Ausgerechnet die zentrale Wiese, die am meis- ten mit dem Sonderfall Schweiz verbunden ist, gehört aber nicht ihr. Denn die Schweizerische gemeinnützige Gesellschaft (SGG) ist sehr CVP- und Mitte-orientiert. Das ist der Pfeil im Herz der SVP. Deshalb ist es nun eine Wiese mit Kuhfladen.
Nun will aber mit Bundesrätin Micheline Calmy-Rey eine Sozialdemokratin diese Wiese auch vereinnahmen. Ist das eine Trendwende?
Imhof: Die Trendwende ist schon länger im Gange. Man hat versucht, auf dem Rütli eher Mittepositionen zu Geltung kommen zu lassen, Positionen, die die Weltoffenheit der Schweiz betonen, und für eine offene und zukunftsgerichtete Schweiz Mut zu machen. Das ist der Pfeil im Herz der SVP, dass man den Mythos ausgerechnet auf dem Rütli eher mittegerichtet und liberal bedient hat. Frau Calmy-Rey mit ihrem politischen Instinkt ? und weil sie auch Zeitungen liest (lacht) und wahrnimmt, was in der Schweiz läuft ? versucht wie auch Frau Egerszegi, daran weiterzuarbeiten, dass das Rütli nicht SVP-konnotiert ist.
Bundesrat Christoph Blocher hat im Mai 2005 dort eine grosse Rede gehalten. So hat er doch versucht, das Rütli für seine politischen Ideen und die SVP zu instrumentalisieren.
Imhof: Das ist ihm nicht gelungen. Wegen der SGG. Die SGG steht der SVP vor der Tür, wenn es um den symbolpolitischen Gehalt der Rütliwiese geht.
Wieso kann ein solches Thema, das eigentlich etwas lächerlich ist, in einem Wahljahr eine so grosse Rolle spielen?
Imhof: Das hat damit zu tun, dass 50 Prozent der Politik Symbolpolitik ist. Es geht darum, wer mit welchen Mitteln das Label Schweiz auf die Politik anwenden kann. Dass die Politik vom Label Schweiz lebt ? von der Schweiz als Zukunftsprojekt oder der Schweiz als Reproduktion der geistigen Landesverteidigung ? dieser Kampf zeigt sich überall, auch auf dem Rütli und insbesondere im Wahljahr.
Wird durch diese Diskussion das Rütli entmythisiert?
Imhof: Nein, im Gegenteil, der Mythos wird verstärkt. Seit dem 19. Jahrhundert gab es mit Ausnahme von 1940 mit General Guisans Rütlirapport nie mehr eine so grosse Aufmerksamkeit für das Rütli. Seit 1999 oder sicher 2000 hat man jedes Jahr eine grosse Aufmerksamkeit auf das Rütli.
Weshalb ist das so?
Imhof: Weil das Rütli als symbolischer Platz eine grosse Bedeutung hat darin. Es geht darum, ob es die Mitte und die Linke schafft, die politischen «Gold Nuggets» des schweizerischen Mythos für sich zu beanspruchen und damit der SVP wegzunehmen. Wenn sie das erreicht, hätte sie die wichtigste Gabe im Säcklein der SVP weggenommen. Es geht zentral um das, was die SVP stark gemacht hat. Deshalb sind die Zentralschweizer Kantone, in denen die SVP stark ist, eher an einer destruktiven Politik interessiert in Bezug auf das Rütli.
Die Urschweizer Kantone haben also kein echtes Interesse an einer würdigen Feier auf dem Rütli?
Imhof: Eine würdige Feier wäre in ihrem Interesse, wenn sie nach ihrem Gusto wäre. Die Würde der Feier kommt vom Mythos, der an dieser Wiese klebt. Es ist ein Kampf um Symbolpolitik, und die SVP hat aufgrund der besonderen Besitzverhältnisse dieser Wiese keine Chance, diese zu besetzen. Die SGG hat diese Wiese 1860 gekauft, 1865 dem Bund übergeben und der Bund die Wiese wiederum der SGG zur Verwaltung gegeben. Gleichzeitig wurde die Rütlikommission eingerichtet, die aus den Anrainerkantonen besetzt wird. So wurde damals der politische Gegner des Sonderbundskrieges einbezogen.
Könnte man auch sagen: Die Schweiz ist ein glückliches Land, dass sie keine anderen Probleme hat?
Imhof: Die Identität knüpft sich an symbolische Orte. Denken Sie an das serbische Amselfeld, wegen dem es sogar Krieg gegeben hat. Man kann nicht sagen, dass die Konstruktion von geschichtlich aufgeladenen Orten einfach harmlos ist. Es ist für die Entwicklung der Schweiz nicht unbedeutend, auf welche Art der Rütlimythos neu belebt wird.
Fehlt der Schweiz der souveräne Umgang mit symbolträchtigen Stellen?
Imhof: Das ist eine gute Frage. Wenn man dem auf den Grund geht, sieht man: Viele symbolische Orte wurden im Jahr 1890 eliminiert, als man den 1. August und das Jahr 1291 erfand. Man erfand das, um die Katholisch-Konservativen, also die CVP, gegen die neue Kraft der Sozialdemokraten in den Bundesrat einzubeziehen. 1891 gab es den ersten katholisch-konservativen Bundesrat, und damit wurde 1848, der eigentliche Gründungspunkt der Schweiz, aus den Schweizerischen Geschichtsbüchern gelöscht.
Das Amselfeld führte zu einem Krieg ? führt das Rütli zu einem Riesenkrach im Bundesrat?
Imhof: Sicher. Im Bundesrat spitzt sich das zu. Deshalb verhindert die bürgerliche Mehrheit einer nationalen Feier jegliche Unterstützung. Wenn nicht eine linke Micheline Calmy-Rey oder eine liberale Christine Egerszegi dort auftreten wollten, hätte es diesen Bundesratsentscheid nicht gegeben. Deshalb gibt es gerade im Wahljahr diesen Kampf ums Rütli.
Soll am 1. August eine Feier auf dem Rütli durchgeführt werden?
Imhof: Auf jeden Fall. Alles andere würde zu einer ebenso grossen öffentlichen Kommunikation führen. Man müsste die Wiese absperren und sie polizeilich sichern, damit nichts darauf passiert ? man kommt gar nicht mehr darum herum, weil das Rütli als symbolischer Ort in der öffentlichen Kommunikation fest etabliert ist.
Und wer soll für die Sicherheit bezahlen?
Imhof: Meiner Meinung ist das Fest auf dem Rütli ein Anlass, das man in der Konkordanz zwischen den Kantonen und Bund finanzieren muss.
Wenn es eine Feier geben würde, würden Sie wieder wie letztes Jahr hingehen?
Imhof: Leider bin ich dann in Deutschland (lacht). Aber sonst würde ich sicher hingehen, weil es für einen politischen Soziologen hochinteressant ist: Am Mythos Rütli und daran, wer ihn füllen kann, entscheidet sich die Zukunft der Schweiz. Deshalb wäre es soziologisch falsch, die Rütliwiese als Quantité négli- geable abzutun. Das Spannende an der Rütliwiese ist der Kampf um Symbolpolitik und wer diesen gewinnt ? das würde ich gerne sehen.
4 Fragen
Stauffacher, Fürst, von Melchtal & Guisan
Auf der Wiese am Ufer des Urnersees wurde schon Geschichte geschrieben, die Armeespitze eingeschworen und ein Verteidigungsminister niedergebrüllt. Das ändert aber nichts daran, dass die diesjährige Rütlifeier kurz vor dem Aus steht.
christoph brunner und corinna hauri
Wo genau befindet sich die Rütliwiese, wie gross ist sie, was befindet sich auf jenem Gelände und wie kommt man am einfachsten dorthin?
Die Rütliwiese liegt am nordwestlichen Ufer des Urnersees und misst etwa 50 000 Quadratmeter. Auf dem Gelände befindet sich eine historische Ausstellungs- stätte und ein Gasthaus. Am besten erreicht man das Rütli per Schiff von der Gemeinde Brunnen SZ aus.
Was hat es mit dem Rütlischwur auf sich, und was geschah anlässlich von General Henri Guisans Rütlirapport im Jahr 1940?
Werner Stauffacher aus Schwyz, Walter Fürst aus Uri und Arnold von Melchtal aus Unterwalden sollen 1291 auf der Rütliwiese geschworen haben, sich im Kampf gegen die Habsburger zu unterstützen. Historisch gesichert ist hingegen, dass General Henri Guisan am 25. Juni 1940 seine höheren Kader zu einem Rapport aufs Rütli befahl. Guisan machte damals klar, dass sich die Armee im Fall eines deutschen Angriffs in ein Réduit zurückziehen und das Land verteidigen würde.
Wer ist in den letzten Jahren am 1. August auf dem Rütli als Redner aufgetreten, und was ist bei diesen Gelegenheiten passiert?
Seit dem Jahr 2000 treten an der 1.-August-Feier auf dem Rütli Rechtsradikale auf. Damals störten rund 100 von ihnen die Rede des damaligen Bundesrates Kaspar Villiger. In den Folgejahren kamen jeweils 100 bis 450 Rechtsextreme aufs Rütli. Der Tiefpunkt war 2005 erreicht, als 700 Rechtsextreme die Rede von Bundesrat Samuel Schmid lautstark störten. Als Folge davon wurde vergangenes Jahr nur aufs Rütli gelassen, wer ein Ticket vorweisen konnte.
Warum macht die 1.-August-Feier auf dem Rütli auch dieses Jahr wieder Schlagzeilen, und zwar bereits im Vorfeld des Nationalfeiertages?
Weil Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi (FDP/AG) und Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey die Absicht äusserten, am Nationalfeiertag zusammen auf dem Rütli aufzutreten. Die Durchführung dieser Feier ist allerdings sehr unsicher: Weder der Bund noch die betroffenen Innerschweizer Kantone sind nämlich bereit, die anfallenden Sicherheitskosten ? die Rede ist von 200 000 Franken, obwohl vergangenes Jahr dafür rund eine Million Franken ausgegeben wurde ? zu tragen. Heute Donnerstag wollen Christine Egerszegi und Micheline Calmy-Rey zusammen mit der Rütlikommission und dem Frauenbund Alliance f das weitere Vorgehen besprechen.