«DAS PROBLEM SIND NICHT SIE, HERR SCHAFFNER»

Schweizer Familie

Susanne Leutenegger Oberholzer gehört zu den vielen Bürgerinnen und Bürgern, die fichiert wurden. Die umfassende Bespitzelung sei ein Skandal, findet die frühere Nationalrätin. Willy Schaffner pflichtet ihr bei, obwohl der ehemalige Polizeispitzel selber zu vielen Fichen beitrug.

— Interview Michael Solomicky und Thomas Widmer

Fotos Thomas Egli

Die Stimmung ist angespannt, als Susanne Leutenegger Oberholzer und Willy Schaffner im Berner Hotel National eintreffen. Die frühere Nationalrätin und Fichierte sitzt in der einen Ecke des reservierten Raums. Der einstige Polizeispitzel, dessen Informationen zu Ficheneinträgen führten, steht in der anderen. Beide sagen nichts, blättern stattdessen in Akten und alten Dokumenten – wie zwei Kontrahenten, die sich vor Gericht gegenüberstehen. Ob das gut kommt?

Frau Leutenegger, unlängst kam heraus, dass der Schweizer Geheimdienst nach wie vor Bürgerinnen und Bürger überwacht und dabei zu weit geht. Hat Sie das überrascht?

Susanne Leutenegger Oberholzer: Ich habe die Fichierung und Überwachung seit dem Fi-chenskandal von 1989 verfolgt. Dabei wurde klar, dass weiter fichiert wird – wegen der Digitalisierung noch viel raffinierter. Überrascht bin ich nicht, aber entsetzt, in welch grossem Ausmass der Geheimdienst heute tätig ist.

Willy Schaffner: Ich stelle frustriert fest, dass der Nachrichtendienst nichts gelernt hat. Dabei müsste die Fichenaffäre von 1989 ein einmaliges Vorkommnis sein. Leute, die in unserer Demokratie politische Rechte wahrnehmen, dürfen nicht fichiert werden.

Leutenegger: Der Nachrichtendienst NDB handelt teilweise gesetzeswidrig. Die Einsichtsfrist von 30 Tagen wird nicht eingehalten. Ich verlangte letztes Jahr im Oktober Einsicht in die über mich gesammelten Daten. Dann wurde ich auf Frühjahr 2020 vertröstet. Erst diesen Monat – also ein Jahr später – erhielt ich Einsicht in meine Daten. Wie viele Stunden hat wohl allein dieser Prozess die Steuerzahlenden gekostet?

Was steht in Ihrer neuen Fiche?

Der NDB verwahrt sich gegen den Begriff Fiche. Das macht die Sache aber nicht besser. Die politische Schlagseite bei kritischen Fragen und Personen ist für mich unverkennbar. Registriert sind unter anderem Fragen von mir aus vertraulichen Sitzungsprotokollen einer Nationalratskommission. Das geht staatspolitisch gar nicht. Die systematische Sammlung von Daten über die Ausübung politischer und verfassungsmässiger Rechte ist widerrechtlich. Das hat auch die Geschäftsprüfungskommission der beiden Räte massiv kritisiert. Was sagt die verantwortliche Bundesrätin Viola Amherd dazu?

Wir führen das Gespräch in Bern in der Nähe der Taubenstrasse 16, wo früher die Fichen lagerten. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit dieser Adresse?

Schaffner: Da gibt es die eine oder andere Erinnerung. Nach Auflösung des KK III, der Geheimdienstabteilung der Stadt Zürich, wurde der Staatsschutz nach klaren Vorgaben betrieben. Dadurch hatte ich Kontakt zu einzelnen Leuten in Bern, von wo aus die Zusammenarbeit mit den Kantonen koordiniert wurde.

Frau Leutenegger, Sie mussten 1989 an die Taubenstrasse, um Ihre Fiche einzusehen. Wie war das?

Leutenegger: Obschon ich wusste, dass rund 900 000 Fichen existierten, war der Moment, als ich durch die Schleuse eintrat und allein im Raum das Kästchen mit meinen Fichen vorgesetzt bekam, ein Schock.

Hat das Erlebnis Ihr Vertrauen in den Staat erschüttert?

Leutenegger: Ja. Ich hatte immer vermutet, dass die Linke überwacht wird, aber den flächendeckend agierenden Fichenstaat real vor sich zu haben, hat mich damals emotional durchgeschüttelt.

Was war damals im Kästchen?

Leutenegger: Karteikärtchen mit geschwärzten Stellen, also nicht die gesamten Datensammlungen.

Man hört immer wieder, das Monströse sei auch läppisch gewesen, die Ficheure hätten dilettiert. War das bei den Einträgen über Sie auch so?

Leutenegger: Absolut. Da stand zum Beispiel, dass ich für den Nationalrat kandidierte, dass ich an der 1.-Mai-Demo teilnahm und dergleichen. Ich verlangte in meinem Wohnkanton Basel-Landschaft vollständige Einsicht in die über mich gesammelten Staatsschutzakten. Der Kanton verweigerte dies. Vor dem kantonalen Verwaltungsgericht bekam ich dann recht. Darauf klagte der Bund gegen den Kanton mit dem Argument, die geheimen Datensammlungen seien Eigentum des Bundes. Der Bund gewann vor Bundesgericht. Die Einsicht blieb mir verwehrt.

Es blieb also bei den Karteikärtchen?

Leutenegger: Ja. Darauf folgte über den Fichendelegierten des Bundes die Einsicht in die Akten, die den Fichen zugrunde lagen. Doch auch da waren die Namen der Spitzel und Informanten geschwärzt.

Herr Schaffner, Sie waren damals als ein solcher Informant im Einsatz. Ab 1980 unterwanderten Sie bei den Zürcher Jugendunruhen die Szene und lieferten Informationen für die Fichen. Sie waren ein «Spitzel». Tut Ihnen das Wort weh?

Der Begriff Spitzel wird auch in Zukunft anstössig bleiben. Denunziantentum in allen Varianten ist und bleibt verwerflich. Weh tut mir das nach vierzig Jahren nicht mehr. Heute führe ich ein normales Leben.

Wie kamen Sie zu Ihrem Job?

Schaffner: Als Streifenpolizist bekam ich 1980 die Chance, intern dem KK III der Stadtpolizei beizutreten, dem zweitgrössten Geheimdienst im Land. Kurz darauf brachen die Jugendunruhen aus. Die Polizei hatte zu wenig Informationen, ich rutschte in die Insiderarbeit hinein, hielt mich als «Willi Schaller» fünf Jahre lang unter den Linken, Bewegten, Anarchisten auf.

Auf welcher rechtlichen Grundlage basierte Ihre Arbeit?

Schaffner: Meine Vorgesetzten stützten sich auf den Artikel im Polizeigesetz über Ruhe und Aufrechterhaltung von Ordnung – eine rechtliche Grauzone. Das KK III war diktatorisch geführt, Widerspruch wurde nicht geduldet. Hätte ich die Rechtsgrundlage angezweifelt – da wären schon zwei, drei andere für meinen Job bereitgestanden.

Leutenegger: Sie waren doch als Polizist gehalten, das Recht einzuhalten, Herr Schaffner. Sie verwendeten falsche Ausweise, mieteten eine Wohnung unter falschem Namen, fuhren Auto mit einem gefälschten Ausweis. Da mussten Sie sich doch fragen: Ist das rechtens?

Schaffner: Die Jugendunruhen wurden immer gewalttätiger, Woche für Woche gab es Sachbeschädigungen und Körperverletzungen. Politik und Polizei stiessen an ihre Grenzen. Allein mit den alten Turnschuhen, den verwaschenen Jeans, dem Dreitagebart wäre ich früher oder später aufgeflogen. Ich brauchte den falschen Ausweis.

Leutenegger: Wussten Sie überhaupt noch, wer Sie waren?

Schaffner: Ich wusste, wer ich war. Aber ich machte den Job viel zu lange – fünf Jahre. Meine Frau Margrith warnte mich immer: «Hör auf damit, du machst dich kaputt!»

Leutenegger: Ich habe das Buch gelesen, in dem Sie Ihre Geschichte erzählen. Mir scheint, Ihre Frau war die einzige vernünftige Person in Ihrem Umfeld.

Schaffner: Sie ist tatsächlich die Heldin des Buches.

Leutenegger: Sie hörten nicht auf sie. Handelten Sie aus egoistischen Motiven?

Schaffner: Nein. Ich wollte etwas tun für den Staat, das war meine Motivation. Die Bewegungszeit 1980 und 1981, das war sozusagen die Hochsaison. Danach flauten die Unruhen ab. Ich bekam ein Problem. Ich hatte immer weniger zu tun, hing rum, vermeldete bloss, dass nichts lief.

Leutenegger: Haben Sie in solchen Situationen auch Geschichten erfunden?

Schaffner: Ich nicht. Aber ich hatte ein Sinndefizit. 1983 schrieb ich ein Gesuch um Teilnahme an einer linken Arbeitsbrigade in Nicaragua. Ich dachte, die Revolution würde von Nicaragua in die Schweiz überschwappen. Auch ging ich an einen Anarchistenkongress in Venedig. Aber ich merkte, dass meine Arbeit nicht mehr sinnvoll war. 1985 stieg ich aus.

Zweifelten Sie nie grundsätzlich an Ihrem Tun?

Schaffner: Ich blieb vorerst ein Überzeugter. Auch während der Fichenaffäre ab 1989. Der parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) in Zürich verweigerte ich mich.

In der PUK sassen Leute, die Sie bespitzelt hatten. Wie war das?

Ich fragte mich: Wie kann es sein, dass linke Politiker Zugang zu den Fichen bekommen? Werden aus Wilderern Jagdaufseher? Ich fühlte mich verschaukelt, sagte daher nichts. Mein Verhalten damals war kein Ruhmesblatt. Die PUK hat gute Arbeit geleistet.

Leutenegger: Ihre Loyalität gegenüber Ihrem Arbeitgeber hat sich für Sie ausgezahlt. Sie behielten Ihren Job.

Schaffner: Man verpflanzte mich nicht in eine ordentliche Abteilung, Einbruch oder Fahrzeugfahndung. Sondern ich fand in der Nachfolgeorganisation des KK III eine Stelle.

Leutenegger: Wollten Sie das?

Schaffner: Ja. Aber dann begann ich umzudenken. In Zürich büssten die Bürgerlichen an Gewicht ein. Rot-Grün stieg auf. Die neuen Politiker wollten von der Polizei eine andere Philosophie und ein anderes Verhalten, sicher keine Beamten, die aus einem Fenster spähten. Bei mir setzte das einen Denkprozess in Gang. Ich merkte, dass die Brechstange nicht immer das richtige Werkzeug ist und nicht alle Demonstranten Chaoten sind. Ich setzte auf Prävention, auf ein gutes Einvernehmen mit den Gewerkschaften oder mit Gruppen wie den Kurden. Es dauerte zehn Jahre, bis ich auf der Strasse akzeptiert war. Dafür eckte ich umso mehr intern an.

Leutenegger: Das Problem sind nicht Sie, Herr Schaffner, sondern die strukturelle Gewalt der geheimen staatlichen Organisationen wie der Nachrichtendienste. Diese müssten transparent arbeiten und demokratisch kontrolliert werden. Das ist heute beim besten Willen nicht der Fall. Wir haben aus dem Fichenskandal zu wenig gelernt. 2016 hat das Volk das neue Nachrichtendienstgesetz angenommen. Es verleiht den Nachrichtendiensten weitreichende Kompetenzen. Insider wie Sie damals, Herr Schaffner, können legal mit Tarnidentitäten ausgestattet werden.

Schaffner: Dem ist so. Was früher grenzwertig war, ist heute legal. Als letztes Mittel, um eine Straftat zu verhindern oder aufzuklären, finde ich eine verdeckte Ermittlung okay. Bei Waffen- und Drogenhandel, bei Rechtsextremismus. Aber ein Gericht muss sie absegnen, jemand muss die Verantwortung tragen, und nach der Operation muss Schluss sein mit Überwachen.

Leutenegger: Es ist ja nicht so, dass verdeckte Ermittlungen bisher viele rechtsextreme Aktivitäten aufgedeckt hätten. Die Ficheure sind auf dem rechten Auge blind.

Schaffner: Ich finde, es ist verwerflicher, wenn Private spitzeln. Wenn der Hauswart der Polizei Informationen liefert. Oder der Nachbar. Aus Vaterlandsliebe macht das keiner. Es geht um Geld. Oder um Vorteile, etwa eine erleichterte Einbürgerung. Ich meine jetzt nicht Polizisten und klassische Staatsschützer, sondern andere Spitzel.

Leutenegger: Wie funktioniert das Netzwerk von Privaten und Staat?

Schaffner: Solche sogenannten Vertrauenspersonen handeln womöglich aus einem Groll heraus. Und es kann zu Verstrickungen kommen. Nehmen wir an, ein Informant wird wegen häuslicher Gewalt verhaftet. Garantiert will er Hilfe vom Polizisten, der ihn führt.

Herr Schaffner, hat Sie der Staat missbraucht?

Schaffner: Ich habe mitgemacht. Es gehört zu meiner Biografie.

Wieso hörten Sie nicht auf Ihre Frau?

Schaffner: Ich war halt ein Sturer. Wenn ich Margrith nicht gehabt hätte, ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre. Sie war meine Stütze, sie hielt zu mir. Und sie litt.

Leutenegger: Sie hätte Sie auch in die Wüste schicken können.

Schaffner: Ja.

Wer ist schuld an der Fichiererei?

Schaffner: Der Zeitgeist.

Leutenegger: Das ist zu einfach, sonst wäre heute Schluss damit. Es gab und gibt politisch Verantwortliche. Wer heute im Departement für Verteidigung (VBS) als Vorsteherin nicht dafür sorgt, dass endlich aufgeräumt wird, der muss geradestehen – in diesem Fall Bundesrätin Viola Amherd.

Schaffner: Als ich zum KK III kam, gab es dort 35 000 Fichen. In der Registratur stand eine endlose Reihe von Kästen. Die Leute waren loyal. Gläubig. Linientreu. Die Fichenaffäre erschütterte sie. Der Registraturchef bekam gesundheitliche Probleme, erlitt eine Lohneinbusse, verstand die Welt nicht mehr. Er fand, er habe nur gemacht, was ihm von oben gesagt worden war.

Was für einen Schaden hat die Fichiererei angerichtet?

Leutenegger: Erstens erlitten viele Leute massive wirtschaftliche Einbussen. Sie bekamen keine Stellen. Die Leute, die spitzelten und fichierten, wurden seelisch beschädigt. Ein Polizist in Baselland hatte nach Aufdeckung des Fichenskandals eigenhändig Fichen verbrannt. Danach nahm er sich das Leben.

Frau Leutenegger, warum wollten Sie nach der Fichenaffäre, dass die Spitzelnamen auf den Fichen offengelegt würden?

Leutenegger: Ich wollte wissen, woher die Informationen über mich und alle anderen stammten. Ich wollte die Struktur der Bespitzelung sichtbar machen, die verdeckten Hierarchien. Den Überwachungsapparat.

Hatten Sie keine Angst, es könnte Übergriffe gegen Spitzel geben?

Leutenegger: Ich dachte eher an die Tausenden Menschen, deren Leben zerstört worden war.

Willy Schaffner hat erlebt, was es heisst, enttarnt zu werden. Der Journalist Jürg Frischknecht liess ihn 1986 in der Zeitung auffliegen. Wie war das, Herr Schaffner?

Schaffner: Im Urnerland, wo ich herkomme, fragten mich mein Bruder und meine Mutter, was da los war. Sie konnten es nicht verstehen, waren sehr betroffen. Mein Vater war damals schon ver storben. Er war in der SP und hätte sich unglaublich über mich geärgert. Es war eine schlimme Zeit.

Leutenegger: In meinem Bekanntenkreis gab es viele Leute, die wegen der Fichiererei die Stelle verloren oder nicht bekamen. Viele Lehrer zum Beispiel. Meinem damaligen Partner wurde die Zusage für eine Stelle als Mediziner im Kanton zurückgezogen. Wegen seiner Fiche, wie sich nachträglich zeigte. Sie, Herr Schaffner, hatten, nachdem Sie aufgeflogen waren, immer noch einen Job.

Schaffner: Stimmt. Als ich dann enttarnt war, wurde ich abgezogen wie die anderen Insider der Stadtpolizei. Es hiess, wir sollten vorerst untertauchen, alles war bezahlt. Ich musste den Sohn aus dem Kindergarten nehmen, meine Frau musste ihren Job aufgeben, wir versteckten uns im Zürcher Oberland beim Onkel meiner Frau.

Würden Sie heute einem Polizisten davon abraten, Insider zu sein?

Schaffner: Bei Vorträgen sage ich immer: «Führt um Himmels willen kein Doppelleben! Eine Ausbildung für ein doppeltes Leben gibt es nicht. Es gibt in einem normalen Leben genug Probleme zu lösen.»

Leutenegger: Der Staat hätte so viele wichtigere Aufgaben. Unsere Gesellschaft ist am sichersten, wenn sie möglichst transparent funktioniert. Alles, was im Verdeckten unkontrolliert läuft, birgt die Gefahr von Missbräuchen.

Herr Schaffner, wenn Sie heute Leuten begegnen, die Sie damals bespitzelten, was erleben Sie?

Schaffner: Ich bin ab und zu in Zürich, sehe dann zum Beispiel den linken Anwalt Bernard Rambert, wir kaufen beim selben Metzger im Niederdorf ein. Wir geben uns die Hand, wechseln einige Worte, fertig. Mit anderen Leuten ginge das nicht, viele sind bis heute sauer. Sie haben alles Recht dazu.

Sind Sie sauer, Frau Leutenegger?

Leutenegger: Politisch ja. Wir sind ein freiheitlicher Staat. Er braucht das Vertrauen von uns allen. Das ist gerade dann wichtig, wenn der Staat wie jetzt wegen Corona zur Sicherung vor gesundheitlichen Risiken massiv in das Leben der Menschen interveniert.

Und auf Herrn Schaffner – sind Sie sauer auf ihn?

Leutenegger: Nein. Er hat offensichtlich gemerkt, dass sein Tun falsch war. Herr Schaffner, tun Sie mir einen Gefallen? Stellen Sie einen Antrag auf Einsicht in Ihre aktuellen Daten beim Nachrichtendienst des Bundes. Vielleicht interessiert es Sie, ob Sie fichiert sind.

Schaffner: Das habe ich gemacht. Die Antwort vom Bund ist zwar formell korrekt und voller standardisierter Floskeln. Aber konkrete Angaben über eine allfällige Fichierung fehlen gänzlich. Es ist somit unklar, ob ich irgendwo verzeichnet bin oder nicht. Das finde ich rechtsstaatlich bedenklich. Ich verstehe Ihren Unmut, Frau Leutenegger Oberholzer. Die aktuelle Situation ist total unbefriedigend.

Herr Schaffner, möchten Sie Frau Leutenegger Oberholzer noch etwas sagen?

Schaffner: Ich habe auf der Anreise im Zug aus dem Urnerland gegrübelt: Ich werde einer Frau mit einem riesigen Leistungsausweis gegenübersitzen, die fichiert wurde, die sich immer eingesetzt hat, einer politischen Kämpferin. Was kann ich ihr bloss bieten?

Leutenegger: Ganz einfach, Herr Schaffner. Setzen Sie sich mit mir dafür ein, dass die sinnlose Überwachung von Menschen aufhört.

Das Gespräch ist vorbei. Die Anspannung ist einer Erleichterung gewichen. Bei allen Differenzen in der Sache: Susanne Leutenegger Oberholzer und Willy Schaffner haben einander zugehört, Blickwinkel und Standpunkt des Gegenübers respektiert. Nun geht es zum Fototermin an der nahen Taubenstrasse, wo zu Zeiten des Fichenskandals die Bundesanwaltschaft in einem Bürogebäude untergebracht war. Auf dem Weg witzeln Susanne Leutenegger Oberholzer und Willy Schaffner und wirken vertraut – fast schon komplizenhaft. Das Ereignis von damals hat sie nicht nur entzweit, es verbindet sie auch. Sie lachen. Es ist gut, miteinander gesprochen zu haben.

FICHENZENTRALE Susanne Leutenegger Oberholzer und Willy Schaffner vor dem einstigen Sitz der Bundesanwaltschaft in Bern, wo früher die Fichen lagerten.

PROTEST Im Januar 1990 demonstrieren Leute aus der Anti-AKW-Bewegung vor der Bundesanwaltschaft an der Taubenstrasse in Bern gegen den Schnüffelstaat.

DOPPELLEBEN Willy Schaffner als Spitzel mit Bart und als Polizist.

UNDERCOVER Polizist Schaffner (unter dem Transparent mit Bart) Anfang 1980er-Jahre in Zürich an einer Demonstration.

DIALOG Susanne Leutenegger Oberholzer legt dar, warum das Fichieren unzulässig ist, Willy Schaffner zeigt Verständnis.

POLITISCHE ARBEIT Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer 1990 im Bundeshaus.

AKTENBERG Zum Gespräch hat Susanne Leutenegger Oberholzer ein stattliches Dossier mitgebracht.

DISKUSSION Der Zeitgeist habe zur Fichiererei geführt, sagt Willy Schaffner. Susanne Leutenegger Oberholzer findet das zu einfach.

TOTALE BESPITZELUNG Jürg Pulver, der Basler Fichen-Beauftragte, 1992 vor vollen Aktenschränken, die das Ausmass der Überwachung zeigen.

«Ich stelle frustriert fest. Der Nachrichtendienst hat nichts gelernt. Wer politische Rechte wahrnimmt, darf nicht fichiert werden.»

Willy Schaffner

«Der Moment, als ich allein im Raum das Kästchen mit den Fichen vorgesetzt bekam, war ein Schock.»

Susanne Leutenegger Oberholzer

«Ich machte den Job viel zu lange – fünf Jahre. Meine Frau Margrith warnte mich immer, ich würde mich kaputtmachen.»

Willy Schaffner

«Mir scheint, Ihre Frau war die einzige vernünftige Person in Ihrem Umfeld, nur hörten Sie nicht auf sie. Handelten Sie egoistisch?»

Susanne Leutenegger Oberholzer

«Der Staat hat mich nicht missbraucht. Ich habe mitgemacht. Es gehört zu meiner Biografie. Ich war halt ein Sturer.»

Willy Schaffner

«Mein damaliger Partner bekam eine Anstellung als Mediziner nicht. Wegen seiner Fiche, wie sich später zeigte.»

Susanne Leutenegger Oberholzer

«Herr Schaffner, setzen Sie sich mit mir dafür ein, dass die sinnlose Überwachung von Menschen aufhört.»

Susanne Leutenegger Oberholzer

SERIE

ALS DIE SCHWEIZ DEN ATEM ANHIELT

In der Zeitgeschichte gibt es Momente, die bleiben unvergessen. Die «Schweizer Familie» bringt zu sechs grossen Ereignissen jeweils zwei Beteiligte zusammen. Sie erzählen aus ihrer Sicht, wie es damals war und wie das Erlebte sie prägte.

–1– Das Swissair-Grounding Mit Vreni Spoerry und Eliane Schnyder SF Nr. 33 / 13. 8. 2020

–2– Der Rücktritt der Bundesrätin Mit Elisabeth Kopp und Judith Stamm SF Nr. 35 / 27. 8. 2020

–3– Der Widerstand gegen das AKW Kaiseraugst Mit Ulrich Fischer und Filippo Leutenegger SF Nr. 37 / 10. 9. 2020

–4– Die Schweiz im Weltall Mit Claude Nicollier und Adolf Ogi SF Nr. 40 / 1. 10. 2020

–5– Die Fichenaffäre Mit Susanne Leutenegger Oberholzer und Willy Schaffner

–6– Die Corona-Krise Mit Alain Berset und Linda Nartey

DER MOMENT

24. November –1989–

DER SCHNÜFFELSTAAT FLIEGT AUF

SP-Nationalrat Moritz Leuenberger präsentiert im Berner Bundeshaus den Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK). Diese sollte die Vorgänge untersuchen, die zu Anfang des Jahres zum Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp nach einem umstrittenen Telefonanruf an ihren Mann führten. Am Rand ihrer Ermittlung ist die PUK auf Unerwartetes gestossen: auf 900 000 Fichen, die bienenfleissige Beamte angelegt hatten. In den geheimen Karteien der Bundespolizei sind 150 000 Schweizer Bürgerinnen und Bürger sowie 600 000 Ausländerinnen und Ausländer erfasst. Jahrzehntelang sind Menschen bespitzelt und ihre Rechte verletzt worden, die Staatsschützer sahen sich als Kämpfer gegen die kommunistische Unterwanderung. In der Folge tauchen weitere geheime Karteien auf, die «Fichenaffäre» erschüttert das Land. Ist die Sache heute erledigt? Mitnichten. Im Jahr 2019 hat sich herausgestellt, dass der Nachrichtendienst des Bundes nach wie vor spitzelt gegen Leute, die ihre demokratischen Rechte ausüben. Die Bernerin Margret Kiener Nellen etwa, bis Ende 2019 SP-Nationalrätin, taucht in diesen neueren Datenbanken rund 70-mal auf.

BERICHT Nationalrat Moritz Leuenberger (2. v. l.) stellt die Erkenntnisse der parlamentarischen Untersuchungskommission zur Fichenaffäre vor.

DOKUMENT 2005 stellt das Bundesarchiv an der Berner Museumsnacht eine alte Fiche aus – was früher geheim war, wird somit öffentlich.

ZEITZEUGEN

SUSANNE LEUTENEGGER OBERHOLZER, 72 2018 tritt Susanne Leutenegger Oberholzer, eine profilierte Linke, aus dem Nationalrat zurück. 1948 in Chur geboren, studiert sie Volkswirtschaft und später Rechtswissenschaften. 1987–1991 sitzt sie für die Poch (Progressive Organisationen der Schweiz) im Nationalrat. Nach deren Auflösung wechselt sie zur SP und gehört ab 1999 wieder dem Nationalrat an. Susanne Leutenegger Oberholzer ist geschieden und lebt in Augst BL. Sie studiert in Zürich derzeit «Applied History».

WILLY SCHAFFNER, 70 In Zürichs Jugendbewegung nennt er sich «Willi Schaller». In Wahrheit heisst er Willy Schaffner und ist Zürcher Stadtpolizist. 1986 wird er enttarnt. Ein paar Jahre später beginnt die zweite Karriere des Willy Schaffner als liberaler Polizist, der in Konflikten zwischen Demonstranten und Polizei vermittelt. Über ihn gibt es das Buch «Das Doppelleben des Polizisten Willy S.» (Tanja Polli, Verlag Wörterseh). Willy Schaffner, 70, ist pensioniert und lebt mit seiner Frau Margrith in Gurtnellen UR.