Das Nazi-Nest auf dem Rosenberg

Ostschweiz am Sonntag: Als vor siebzig Jahren der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu Ende ging, endete auch ein dunkles Kapitel auf dem St. Galler Rosenberg. Hier befand sich seit 1938 das deutsche Konsulat, welches die Fäden von Überwachung und Bespitzelung fest in der Hand hielt.

Grosse Menschenströme zogen vor wenigen Wochen hinauf zum Kinderfestplatz, nicht wenige dürften dabei den Höhenweg und dort ein geschichtsträchtiges Gebäude gekreuzt haben. Praktisch vis-à-vis des Eingangs auf den Festplatz befindet sich die Villa Rosenhof, im Volksmund bekannt unter dem Namen «Villa Wahnsinn» (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Nachtclub). Wahnsinn war es in der Tat gewesen, was vor 70 Jahren auch in diesem Haus ein Ende fand. Am 8. Mai des Jahres 1945 wurde das deutsche Konsulat, das sich seit sieben Jahren dort befand, wie alle anderen diplomatischen deutschen Niederlassungen in Schweizer Städten geschlossen, der überdimensionale Reichsadler, welcher sich heute im Staatsarchiv befindet, von der Fassade des Gebäudes am Höhenweg entfernt. Es war der Tag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa; auch in jenen Tagen strömten Tausende von Menschen durch St. Gallens Strassen, auf dem Weg zu ihrem vorläufigen Asyl. Allerdings waren sie nicht in Festtagstracht, sondern zerlumpt, gedemütigt, ausgehungert, am Ende ihrer Kräfte.

Nazis wollten bleiben

Konsul Graf Joachim von Hohenthal – er hatte seine Stelle in St. Gallen, nach diplomatischen Aufenthalten in Helsinki, Rom und Berlin im Mai 1943 angetreten – und seine Entourage hatten andere Sorgen, als sich um die aus ihrer Heimat geflohenen Menschen zu kümmern. Dem Dritten Reich bis in die letzte Stunde treu geblieben, wollten sie nun vor allem ihre eigene Haut retten. Alle 14 Angestellten übergaben gleich am Tag der Schliessung ihre Gesuche um Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung der Fremdenpolizei – auch um in Deutschland einer strafrechtlichen Untersuchung zu entgehen. Unter den Gesuchstellern war der Konsul selber mitsamt seiner Frau und den drei Kindern. Konsulatssekretär Johannes M. erklärte, dass er «im Sinne von Ziffer 2» einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erbitte.

Die Ziffer 2 lautete dahingehend, «dem Chef und dem Personal, welche keine schriftliche Verpflichtung zur Ausreise aus der Schweiz eingehen, sämtliche Privilegien ihrer bisherigen Stellung fristlos zu entziehen und den Aufenthalt in der Schweiz mit den zuständigen fremdenpolizeilichen Stellen zu regeln». Der an der Zwinglistrasse wohnhaft gewesene Johannes M. war dem Spezialdienst des Polizeiinspektorats der Stadt St. Gallen schon länger bekannt gewesen. Am 11. Juni 1945 berichtete Fahnder-Wachtmeister Graf: «Bei der Durchsicht der beschlagnahmten Akten anlässlich von Hausdurchsuchungen bei deutschen Staatsangehörigen, hat die politische Polizei festgestellt, dass M. Johannes, Konsulatssekretär, Deutscher, Parteimitglied der NSDAP ist. M. gehört auch der Deutschen Kolonie an.»

Die politische Polizei war in der Schweiz bereits seit den 1930er-Jahren aktiv. Aufgrund der bedrohlich zunehmenden rechtsextremen Propagandatätigkeit wie etwa jener der «Nationalen Front», wollte man auffällige Personen registrieren und überwachen. Auch eine Ausländerregistratur wurde angelegt. Als Reaktion auf die zunehmende Agitation links- wie rechtsextremer Gruppen (Linksradikalismus, Rechtsradikalismus) beschloss der Bundesrat am 5.12.1938 «Massnahmen gegen staatsgefährl. Umtriebe und zum Schutze der Demokratie» zu ergreifen. Allein im Kanton St. Gallen waren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 12 000 Personen registriert.

Doch wie sich in den 1980er-Jahren herausstellen sollte, existierte schon seit etwa 1900 ein System der Überwachung von Einzelpersonen. Die im Zusammenhang mit der «Fichenaffäre» eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission förderte gar eine pervertierte, während des Kalten Krieges auf die Spitze getriebene Form der Aushorchung von Privatpersonen zutage. Nach dem Fichenskandal wurde die politische Polizei abgeschafft beziehungsweise durch andere Formen der Überwachung ersetzt.

In St. Gallen war die Arbeit der politischen Polizei während des Zweiten Weltkriegs von einer Spezialeinheit durchgeführt worden. In den nach dem Alphabet geordneten Registrierkarten finden sich unter anderem Einträge über eingereiste mutmassliche Gestapo-Agenten; aus russischer Gefangenschaft heimgekehrte Schweizer, die sich dem deutschen Heer angeschlossen hatten; von Schweizer Spionen, «fanatischen Nationalsozialisten» und von «Mädelschaftsführerinnen». Zahlreiche Registrierungen betreffen das deutsche Konsulat und dessen Mitarbeitende. Auch die deutsche Konsulatsangestellte Marie Theresia B., die nach dem 8. Mai 1945 ebenfalls Antrag um Verlängerung ihres Aufenthalts stellte, war längst im Visier der politischen Polizei.

Fahnder Graf berichtete, dass B., «bekannt ist als eine überzeugte Nationalsozialistin, sie war bis zuletzt, das heisst, bis zur Auflösung der deutschen Organisation, Standortführerin des BDM (Bund Deutscher Mädel, der weibliche Zweig der Hitlerjugend). Wir haben die B. der Bundesanwaltschaft aufgegeben als unerwünschte Ausländerin und erwarten auch, dass diese Propagandistin des Dritten Reiches unser Land verlassen muss.» Wie Johannes M. dürfte auch Marie Theresia B., im Mai 1945 gerade 27 Jahre alt geworden, der Deutschen Kolonie angehört haben, der Dachorganisation, welche mit ihren verschiedenen Zellen möglichst alle in der Schweiz lebenden Deutschen erfassen und kontrollieren wollte und viele auch für agitatorische Zwecke instrumentalisierte, was diese teilweise freiwillig, teilweise auch unter Druck taten.

Die Deutsche Kolonie umfasste während der Kriegsjahre im Kanton St. Gallen bis zu 4000 Personen.

Faschisten auch in St. Gallen

Bereits am 1. Mai 1945, also einen Tag nach Hitlers Selbstmord in seinem Bunker, war beim Regierungsrat des Kantons St. Gallen ein Schreiben des Eidgenössischen Politischen Departements eingegangen mit der Ankündigung, dass angesichts des Kriegsverlaufes damit zu rechnen sei, dass «in Kürze keine offizielle Reichsregierung» mehr bestehe. Gleichentags hatte der Bundesrat beschlossen, die Landesgruppe der NSDAP aufzulösen; der Parteileiter der Deutschen Kolonie in St. Gallen, Robert Pawlenka, auch er war ein Konsulatsangestellter, wurde bereits am 2. Mai des Landes verwiesen. Wie Silvio Bucher im «Rorschacher Neujahrsblatt» von 1982 schreibt, hatte der Landesleiter der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, 1933 persönlich in St. Gallen «den Grundstein für die späteren nationalsozialistischen Organisationen gelegt». Gustloff wurde 1936 in Davos ermordet. (Das nach ihm benannte Kreuzfahrtschiff der Naziorganisation «Kraft durch Freude» wurde 1945 von einem U-Boot der Sowjets versenkt, dabei starben vermutlich rund 9000 Menschen.)

Nicht wenige Sympathisanten dieser faschistischen und antisemitischen Gruppierung fanden sich unter anderem in den Reihen der rechtsextremen Schweizerischen Nationalen Front (seit Beginn der 1930er-Jahre aktiv) und in der 1940 gegründeten «Nationalen Bewegung der Schweiz», kurz NBS. Einer der St. Galler Ortsgruppenleiter letzterer Organisation – mit 180 aktiven Mitgliedern – arbeitete in der St. Galler Textilfirma von Arnold Mettler-Specker, selber ein erklärt nazifreundlicher Unternehmer und Mitglied der Ortsgruppe der Nationalen Bewegung der Schweiz, welche einen Anschluss an Nazideutschland klar befürwortete. Sein Sohn hatte sich der Waffen-SS angeschlossen und kam 1941 bei Kiew ums Leben.

Bis 1938 hatte sich das Deutsche Konsulat in St. Gallen an der Poststrasse befunden. Dann zügelte man in die Festung am Rosenberg, bis ins Jahr 1948 im Besitz eines Kaufmanns namens Breitenmoser, und richtete dort eine Funk- und Spionagezentrale für die Ostschweiz ein. Aus den Akten der Fremdenpolizei geht hervor, dass sich in der Auflistung des Inventars nach der Schliessung am 8. Mai auch Waffen, Munition und Abhörgeräte fanden. Brisant ist zudem, dass laut Historiker Walter Frei jener zum Tode verurteilte und hingerichtete vermeintliche «Landesverräter» Ernst Schrämli – die Geschichte wurde vom Historiker und Journalisten Niklaus Meienberg recherchiert, als Buch veröffentlicht und zusammen mit Richard Dindo als Dokumentarfilm aufgearbeitet – gestohlene Munition und unbrauchbare Bunkerpläne ins Konsulat am Höhenweg geliefert hatte. Dort liefen sämtliche Kontrollfäden zusammen. Hier wurde registriert und weitergeleitet, was auserwählte Spitzel des Deutschen Reiches über ihre Landsleute, die Mitglieder der verschiedenen deutschen Organisationen, aber auch über Schweizer Bürgerinnen und Bürger in Erfahrung bringen konnten. Sie wurden systematisch überwacht und bespitzelt.

Mitmachzwang

Es ging darum, ein möglichst engmaschiges Überwachungsnetz zu spannen, um, wie dies auch nazifreundlichen Ostschweizern vorschwebte, bei einer Machtübernahme Hitlers an allen wichtigen Stellen die richtigen Leute zu haben. Der Historiker Ernst Ziegler legt in seinem Buch, «Als der Krieg zu Ende war» ausführlich dar, wie sich die Mitglieder der Deutschen Kolonie zu verhalten hatten, was von ihnen erwartet und ihnen angedroht wurde, wenn sie nicht in einer der Organisationen und an deren geschlossenen Veranstaltungen – sie fanden hauptsächlich im «Schützengarten» statt – mitmachten. Niklaus Meienberg verweist in seinem Werk «Faschismus in St. Gallen» auf Walter Weyrauch, den Vorgänger von Graf Joachim von Hohenthal. Dieser habe nach Berlin gemeldet, die st. gallischen Behörden und andere Spitzen der Gesellschaft seien «enorm deutschfreundlich eingestellt, während das einfache Volk eine geradezu groteske Deutschfeindlichkeit an den Tag legt». Silvio Bucher wiederum zitiert einen jeweils an die Veranstaltungen beorderten Späher der politischen Polizei, der im August 1941 eine Rede des Konsuls Weyrauch im «Schützengarten» mitverfolgte, wo sich dieser über die nicht mehr bestehende Existenzberechtigung «der zwei in Europa noch existierenden Demokratien» ausliess. Eine davon sei Schweden, die andere müsse, weil sie ja allen Anwesenden bekannt sei, nicht extra erwähnt werden.

Durchtrainierte Hitlerjugend

Der Konsulatsangestellte Pawlenka amtete nicht nur als Leiter der Ortsgruppe der NSDAP, er stand zugleich sieben weiteren deutschen Organisationen vor, darunter der Reichsdeutschen Jugend, welche die Hitlerjugend und den Bund Deutscher Mädel umfasste. Zahlreiche deutsche Jugendliche sollen in den Kriegsjahren das Institut am Rosenberg besucht haben, welches sich nur wenige hundert Meter entfernt vom damaligen Deutschen Konsulat befindet. Das Institut galt als «Brutstätte» der – auch sportlich durchtrainierten – Hitlerjugend, was allerdings nur teilweise zutraf: Neben einer Mehrzahl von deutschen Schülerinnen und Schülern lebten dort in den Kriegsjahren auch 18 aus jüdischen Familien stammende Kinder.

Das entscheidende Telegramm war am 8. Mai bei der St. Galler Kantonsregierung eingegangen: «bundesrat hat in seiner sitzung vom 8. mai schliessung der deutschen vertretungen in der schweiz beschlossen stop wollet massnahmen gemaess unseren schreiben vom 1. mai und 7. mai 1945 betreffend schliessung der konsulate inventarisierung und uebernahme des deutschen staatsbesitzes und entzug der konsularischen vorrechte der beamten ergreifen.»

Am 1. Juni 1945 wurde an der Nussbaumstrasse St. Gallen neu eine deutsche Interessenvertretung eröffnet. Aus einer Aktennotiz des kantonalen Polizeidepartements geht hervor, dass geplant gewesen war, «für die provisorische Führung Deutsche, eventuell frühere Funktionäre der Konsulate» damit zu beauftragen. Dieses Vorgehen lasse sich jedoch, auch weil mit Widerstand aus der Bevölkerung zu rechnen sei, nicht durchführen. Die Geschäftsführung wurde in der Folge einem schweizerischen Beamten des politischen Departements übertragen.

«Villa Wahnsinn»

Jugendstilvilla von Julius Kunkler

Die «Villa Wahnsinn» wurde im Jahr 1904 von Julius Kunkler erbaut. Er war der Sohn des Architekten Johann Christoph Kunkler (u. a. Baumeister von Natur- und Kunstmuseum St. Gallen). Sein Sohn baute gemeinsam mit dem Ingenieur Robert Maillart die Tonhalle und die Kantonsbibliothek St. Gallen. Die Jugendstilvilla im Stil eines englischen Landsitzes baute Kunkler im Auftrag des Kaufmanns Walter Stauder Kunkler. Bis in die Gegenwart erlebte die denkmalgeschützte Villa sieben Handänderungen, wobei die letzte innerhalb einer Familie und zweier Generationen stattfand. Zurzeit befinden sich in dem Haus ein Architekturbüro und Wohnungen. (bsg.)