Tages-Anzeiger.
Die Antwort auf eine Leserfrage, ob der jüdische Ausdruck rassistisch sei.
Meinung. Peter Schneider.
Die Frage ist kurz, das Problem komplex – passt also gut für Sie. Sie hat im Zusammenhang mit dem Film «Wolkenbruch …» eine gewisse Aktualität. Also: Ist der Ausdruck Schickse rassistisch? Nebenfrage/Befürchtung: Bin ich ein potenzieller oder echter Rassist, dass ich mir diese Frage stelle? B.K.
Lieber Herr K.
So wie des Immobilienmaklers Mantra «Lage, Lage, Lage» lautet, so lautet meines «Kontext, Kontext, Kontext».
Ich halte den Rassismusbegriff für nicht sehr geeignet, was die Schmähung von Angehörigen anderer Religionen angeht. «Schickse» meint ja nicht irgendein weibliches Mitglied der christlichen Rasse, sondern ist eine ursprünglich abfällige Bezeichnung für eine potenzielle oder tatsächliche nicht jüdische Schwiegertochter. Es geht dabei um die Ablehnung nicht einer gemischtrassischen Ehe, sondern einer gemischtreligiösen Ehe.
Für einen nicht jüdischen Ehemann existiert zwar auch ein jiddisches Wort («Shegetz»), aber es dürfte kein Zufall sein, dass dieses Wort eher selten Verwendung findet und nicht in die Umgangssprache Eingang gefunden hat. Da das Judentum matrilinear weitergegeben wird, hat ein nicht jüdischer Ehemann nicht denselben Effekt für die jüdische Familienlinie wie eben eine «Schickse», mit der diese Linie abbricht.
Je nach Frömmigkeit oder Nichtfrömmigkeit, Traditionsverbundenheit oder Wurstigkeit gegenüber der eigenen Jiddischkeit der Familie ist eine «Schickse» eine Katastrophe oder eine neckisch-ironische Bezeichnung für das neue Familienmitglied, vielleicht auch dessen kokette Selbstbezeichnung.
Nun komme ich zu Ihrer Nebenfrage. Da lautet die Antwort zunächst einmal: Hmmmm. Und dann (Überraschung!): Kontext, Kontext, Kontext. Es kommt eben darauf an, wer in welchem Zusammenhang eine solche Frage stellt.
Wenn Sie sich etwa den Eintrag auf der rechtsextremen «Metapedia»-Online-Enzyklopädie zum Schlagwort «Schickse» anschauen, dann erkennen sie sofort (so hoffe ich doch) die üble Absicht, mit welcher das Wort hier ins Feld geführt wird. Nämlich um nachzuweisen, dass das Konzept der Rassenreinheit gar nicht von den Nazis, sondern von den Juden erfunden wurde: «Wenn Deutsche und andere Angehörige europäischer Volker zu Rassenreinheit aufrufen, dann sind es ‹Nazis›, die in der BRD mit Strafverfolgung rechnen müssen, wenn Juden dies tun, dann handelt es sich um den berechtigten ‹Schutz des Volkstums›.»
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Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet jeden Mittwoch Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tagesanzeiger.ch